Immer weiter wird die Produktion als Folge der digitalen Innovationen automatisiert. Führt dies dazu, dass die Arbeiterklasse, und damit der Klassengegensatz, verschwindet? Oder ist das Ergebnis nur eine neue Landschaft für alte Widersprüche? Ausgehend von einer Sammlung von Beiträgen radikaler Wissenschaftler zu diesem Thema kommt Lars Henriksson zu einer überraschenden These: Der Kapitalismus selbst gerät in Widerspruch zu seinen Grundprinzipien.
Lars Henriksson
In den dreißiger Jahren, lange vor Erfindung der Mikrochips, bewies der englische Mathematiker Turing mit seiner Gedankenkonstruktion, der Turing-Maschine, dass eine Maschine jede beliebige Aufgabe erfüllen kann, wenn es darum geht, Informationen aufzunehmen und zu bearbeiten und eine Antwort in Form einer Handlung zu geben.
Seit ein paar Jahrzehnten rollt nun die digitale Revolution und sie hat die Gesellschaft umgeschmiedet. Ein häufiger Standpunkt ist, dass die Arbeiterklasse -- und mit ihr die Klassengegensätze -- dabei seien zu verschwinden, als Folge davon, dass scheinbar alle Arbeit jetzt automatisiert werden könne. Die schöne neue Informationsgesellschaft werde nun ein für alle Mal überholte Gegensätze und Konflikte ausradieren.
In der 1997 erschienenen Anthologie Cutting Edge -- Technology, Information, Capitalism and Social Revolution dreht man die Perspektive um und stellt die Frage, ob der Kapitalismus die digitale Revolution überleben könne. Ausgangspunkt des Buches ist, dass die Welt, die wir mit wachsender Kluft zwischen Arm und Reich -- sowohl zwischen den Ländern als auch in ihrem Inneren -- weder die "beste aller Welten" noch unmöglich zu analysieren ist, sondern vielmehr eine neue Landschaft für alte Gegensätze ist.
Die klassische ökonomische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft ging, mit dem Ursprung bei Adam Smith, davon aus, das der Tauschwert von Waren letzen Endes durch die Menge menschlicher Arbeitskraft bestimmt ist, die zu ihrer Produktion erforderlich war. Marx fügte hinzu, dass der Gewinn des Kapitalisten aus dem Mehrwert stammt, den er aus dem Kauf der speziellen Ware Arbeitskraft bezieht. Denn diese Ware hat die ganz besondere Eigenschaft, dass ihr Gebrauchswert, die Arbeit, Tauschwert schafft. Arbeitskraft kann für einen niedrigeren Preis gekauft werden als der Wert, den sie den Produkten hinzufügt. Dieser kleine Zaubertrick schafft den Mehrwert, der das kapitalistische System in Bewegung setzt.
Nachdem Technik allgemein zugänglich geworden ist, wird Wissen -- Programme -- allein der Bereich, wo es Konkurrenzvorteile geben kann. Und in der Programmierung, der Herstellung von Information, sieht Morris-Suzuki die neue Arbeiterklasse heranwachsen. Weit entfernt von den gelehrten Experten in weißen Kitteln der Vergangenheit entwickelt Programmierung sich zu einer Lohnarbeit mit Entfremdung, Profit und Ausbeutung -- ganz nach Marx' Beschreibung.
Der Unterschied ist, dass das neue Informationsproletariat keine Verbrauchsgüter oder Maschinen herstellt, sondern Information, d.h. Steueranweisungen für Maschinen. Das Problem mit digitaler Information aus kapitalistischem Blickwinkel ist, dass sie niemals verschleißt. Morris-Suzukis Informationskapitalismus muss deshalb darauf bauen, ständig neue Information, neue Programme zu schaffen, die die alten unmodern machen. Wir können das heute schon sehen. Diese Zeilen sind beispielsweise mit einem Textverarbeitungssystem geschrieben, das ein fünf Jahre alter Computer kaum noch bewältigen könnte. (Ohne dass der Text deshalb besser würde, als wenn er auf dem alten Rechner geschrieben worden wäre )
In einem abschließenden Kapitel fasst Nelson Peery die bereits sichtbaren Konsequenzen der digitalen Revolution kurz zusammen. Jeder technische Durchbruch hat es ermöglicht, in kürzerer Zeit mehr zu produzieren, indem lebendige Arbeit durch tote ersetzt wurde. Aber im Unterschied beispielsweise zur fordistischen Revolution -- die innerhalb weniger Monate die Herstellungszeit eines Autos um fast 90 Prozent verkürzte und damit die gesamte Automobilindustrie von einer Luxusindustrie zum Sinnbild der Massenkonsumtionsindustrie mit vielfältigen "dynamischen Effekten" als Ergebnis -- werden keine neuen Arbeitsplätze als Folge der Rationalisierungen der digitalen Revolution geschaffen. Im Gegenteil, gerade durch ihre universelle Anwendbarkeit führt sie dazu, dass Arbeit in allen Zweigen der Wirtschaft durch Maschinen ersetzt wird. Nicht zuletzt in der Datenindustrie selbst!
Und hier, mitten in der "postindustriellen" Informationsgesellschaft taucht der alte, dem Kapitalismus innewohnende Widerspruch wieder auf; Wert kann nur durch Arbeit geschaffen werden, Mehrwert und Gewinn nur durch Mehrarbeit. Jeder Kapitalist will seine Waren mit sowenig Arbeit wie möglich herstellen, aber gleichzeitig hofft er, um seine Produkte absetzen zu können, dass so viel wie möglich eine Arbeit haben und Geld verdienen und eine kaufkräftige Nachfrage für seine Waren bilden. Im selben Ausmaß, in dem die Arbeiterklasse von der Roboterisierung bedroht ist -- im selben Ausmaß ist das kapitalistische System bedroht: Roboter kaufen keine Kühlschränke!
Doch diese neue Unterklasse ist nicht nur ein tragisches Restprodukt der kapitalistischen Informationsgesellschaft; die Existenz einer immer größeren Bevölkerungsschicht, die ihren Lebensunterhalt ohne Arbeit bestreitet, weist zumindest zur Hälfte in eine Richtung jenseits der Geldökonomie, jenseits des Kapitalismus, in Richtung auf eine Gesellschaft, die einen solchen Überfluss produziert, dass es keinen Markt mehr benötigt um sie zu verteilen. Das heißt in Richtung auf den Sozialismus.
"Information wants to be free" [Informationen wollen frei sein] lautet beispielsweise die Parole anarchistisch beeinflusster Hacker. Das Spezielle mit der Information, besonders in digitaler Form, ist, dass man sie beliebig oft benutzen kann, ohne dass sie sich verbraucht. Und dies unabhängig davon, wieviel Arbeit in ihr steckt. Freier Informationsfluss wird also zu einer tödliche Bedrohung für Unternehmen, die große Ressourcen in die Entwicklung von Computerprogrammen investieren. Der enorme Vorsprung, den Unternehmen mit ihren großen Maßstäben haben, wenn es um Investitionen in Stahlwerke und Autofabriken geht -- und der schon vor langem Adam Smiths Idylle der freien Konkurrenz abgeschafft hat -- verschwindet augenblicklich, wenn das Produkt digitale Information ist.
Die Lösung heißt Patent. Deshalb das immer größere Gewicht, das auf Fragen des "intellektuellen Eigentums" in internationalen Handelsverträgen gelegt wird. es sind also nicht länger die innewohnenden ökonomischen Mechanismen -- die so bejubelten "Marktkräfte" -, die Macht und Monopolstellung der Großunternehmen garantieren. Statt dessen wird dies durch außerökonomische Mittel erreicht: durch internationale Abkommen, Gesetze, Patente und in letzter Instanz durch Polizei und Gerichte. Entwicklung und Verbreitung neuer Ideen und Lösungen soll also durch Gesetze und andere politische Schranken begrenzt und überwacht werden.
Die Monopolisierung macht einen Sprung vorwärts und das Kapital selbst kann nicht mehr länger mit dem freien Austausch von waren und Dienstleistungen leben, den man so eifrig in der Theorie propagiert. Und vor allem: Die Entwicklung von Technik und Wissenschaft wird mit immer künstlicheren Mitteln gehemmt, um das private Eigentum aufrechtzuerhalten. Die Produktionsverhältnisse kommen, wie Marx es ausgedrückt hätte, immer mehr in Widerspruch zur Entwicklung der Produktivkräfte.
Aus: Röda Rummet 3/1998
Übers.: Björn Mertens
Der Autor ist seit vielen Jahren Metallarbeiter bei Volvo in Göteborg, wo er sich als Vertrauensleutesprecher und innerhalb der oppositionellen Gewerkschaftsströmung "Facklig Opposition" engagiert.
Cutting Edge. Technology, Information, Capitalism, and Social Revolution. Red.: J. Davis, T. Hirschl, M. Stack; Verso, London/New York 1997, 304 Seiten. Auszüge im Internet unter http://www.mcs.com/~jdav/ce/cuttingedge.html.
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 339/340