Palästina

Über den Charakter des Zionismus und der palästinensischen Befreiungsbewegung

Jakob Taut

Verständlicherweise befassen sich die revolutionären Kräfte seit dem Sechs-Tage-Krieg [1973] weltweit und intensiv mit der Lage im Nahen Osten. Zuweilen jedoch tauchen historische „Feststellungen“ und „Analysen“ auf, die ein falsches Licht auf die tatsächliche Situation werfen und nicht die objektiven Bedingungen widerspiegeln.

In der Aprilausgabe 1969 von Young Socialist, dem Organ der Young Socialist Alliance [Jugendorganisation der damaligen US-Sektion SWP] wurden unter der Überschrift: „Young Socialist Notes“ Auszüge erstens aus Free Palestine, einer von in England lebenden Palästinensern, die der Fatah nahestehen, herausgegebenen Zeitschrift – sowie zweitens aus einer Erklärung der I.S.O. [Israeli Socialist Organization, meist benannt nach ihrer Zeitung Matzpen – Anm. d. Red.] vom Juni 1967 zum Sechs-Tage-Krieg veröffentlicht.

Anhand dieser beiden und anderer Texte will ich versuchen, einige Kontroversen zu verdeutlichen und Schlussfolgerungen daraus abzuleiten.


Die Entstehung des Zionismus und des Staates Israel


In der Quatrième Internationale vom November 1968 habe ich einen Nachruf auf Hersch Mendel (Mendel Stockfisch) verfasst. [1] Der am 22. Juli 1968 Verstorbene nannte sich selbst in seinen Memoiren einen jüdischen Revolutionär. Tatsächlich war er einer der letzten Überlebenden aus jener glorreichen Epoche der Russischen Revolution und der zwanziger Jahre.

Isaac Deutscher, der ihn seit ihrer gemeinsamen Arbeit in der polnischen KP und anschließend in der trotzkistischen Opposition gut kannte, charakterisierte ihn so: „Hersch Mendel verkörpert den Typus des wahren Helden -so wie ihn seine alten Freunde gekannt haben – eine Figur wie aus einer Fabel oder einer Legende und dennoch sehr wirklich, das Musterbild eines jüdischen Arbeiters aus dem Warschau der Vorkriegszeit.“ (aus dem Vorwort I. Deutschers zu dem Buch von H. M., das ich aus dem Jiddischen übersetzt habe)

In dem Nachruf, den ich ihm gewidmet habe – während der letzten 10 Jahre seines Lebens habe ich ihn gut kennengelernt – schrieb ich: „Hersch Mendel ist in einem jüdischen Milieu groß geworden, das vom Zarismus und später von der polnischen Reaktion unterdrückt wurde. Diese Umstände machten aus ihm einen Revolutionär im Kampf gegen die Barbarei und zu einem internationalistischen Kommunisten, dessen Horizont weit über die beschränkte Sichtweise der gepeinigten Juden in Osteuropa hinausging. Er lernte zu verstehen, dass nur ein weltweit durchgesetzter Sozialismus zur Lösung der jüdischen Frage in der Lage ist. Geprägt wurde Hersch Mendel durch die jüdische Arbeiterklasse in Warschau und Lodz und die Masse der kleinen jüdischen Handwerker in den Kleinstädten Polens, Weißrusslands und der Ukraine. Dieser Hintergrund, dieses Milieu, ist durch die Nazi-Barbarei physisch komplett ausgerottet worden und mit ihm die Familie und die Freunde Hersch Mendels.“

Das Schicksal dieses außergewöhnlichen Menschen lehrt uns nicht nur zu verstehen, wie ein Volk zerstört wurde und wie diese Zerstörung dem Zionismus den Aufbau eines anachronistischen Staates ermöglichte. Es macht auf exemplarische Weise deutlich, wie objektive Umstände dem Zionismus die subjektiven Voraussetzungen lieferten, nach dem Zweiten Weltkrieg einen Staat zu errichten.

Den obigen Satz habe ich deswegen hervorgehoben, weil er nicht nur eine persönliche Tragödie benennt, sondern die einer ganzen Generation der europäischen Juden. Diese Tragödie, in der sechs Millionen Juden ausgelöscht wurden, einfach weil sie Juden waren, macht verständlich, wie dieser unglückliche „jüdische Staat“ entstehen konnte und auch heute noch Einfluss ausüben kann.

Unter diesem Aspekt ist das in Young Socialist erschienene Zitat aus Free Palestine absurd: „… das nationale Territorium (wurde) von Kräften erobert und besiedelt, die ihre Wurzeln im religiösen Sektierertum und Rassenhass haben und gegenüber Christen und arabischen Moslems in Palästina eine Politik der Diskriminierung und Verfolgung praktizieren.“

Hier zeigt sich ein völliges Unverständnis der realen Situation. Weder der Zionismus noch der Staat Israel beruhen auf „religiösem Sektierertum“. Der zweite Teil des Satzes („gegenüber arabischen Christen und Moslems“) setzt noch eins drauf, indem er sich auf primitive religiöse Gefühle stützt. Solche Methoden können nur die arabische Reaktion begünstigen und dafür sorgen. dass sich die jüdische Bevölkerung in Israel um den finstersten zionistischen Chauvinismus schart.

Die Entstehungsbedingungen des Zionismus und des Staates Israel haben mit religiösem Fanatismus nichts zu tun. Klar gibt es das auch in Israel in bestimmten Bevölkerungsschichten genau wie in den arabischen Staaten und in vielen anderen Teilen der Welt. Prägend ist dies nur für eine Minderheit unter den Juden Israels. Daher kann es nicht um einen Kampf gegen den religiösen Fanatismus gehen.

Der Widerspruch liegt zwischen dem Zionismus, der sich zur Erreichung seines utopischen Ziels, die Judenfrage in Israel zu lösen, mit ausländischen Kräften verbündet, auf der einen Seite und den arabischen Massen, die Opfer dieser Allianz sind, auf der anderen.

 

Vertreibung der arabischen Bevölkerung

Tantura, 1948 (Foto: Benno Rothenberg /Meitar Collection / National Library of Israel / The Pritzker Family National Photography Collection)

Ich habe Hersch Mendel zitiert, um die Ursachen für die Entstehung eines zionistischen Israel begreiflich zu machen. Seinen Schlussfolgerungen hingegen stehe ich absolut diametral gegenüber, was ich ihm auch jahrelang auseinandergesetzt habe. Will man aber die Juden Israels verstehen und den Zionismus analysieren, um ihn zu bekämpfen (Juden und Araber gemeinsam), liefert die verkehrte Definition von Hersch Mendel uns revolutionären Sozialisten einen wichtigen Anknüpfungspunkt.

Dieser Mann, der die besten Jahre seines Lebens dem unerbittlichen Kampf gegen den Kapitalismus und für die Umsetzung der sozialistischen Ziele gewidmet hat und der dafür mehr als die Hälfte seines Lebens im Gefängnis oder in der Emigration zugebracht hat, kommt im Nachwort zu seinen Memoiren, nachdem eine ganze Generation von Juden ausgelöscht worden ist, zu folgendem Schluss: „Nach langem inneren Kampf und ausgiebiger Überlegungen ist mir klar geworden. dass die jüdischen Arbeiter nur mehr in Israel für den Sozialismus kämpfen und ihre Hegemonie in der Gesellschaft durchsetzen können, da das jüdische Volk sich nur in Israel wieder sammeln und ein neues freies Leben beginnen kann“ (von mir aus dem Jiddischen übersetzt).

Seine Schlussfolgerungen sind verkehrt sowohl hinsichtlich einer Lösung der jüdischen Frage als auch vom sozialistischen Standpunkt aus. Der Zionismus mit seinem Ziel, die Juden der ganzen Welt in Israel zu sammeln und dort das ökonomische und soziale Heil zu erlangen, kann das jüdische Problem, die sogenannte „Judenfrage“ nicht lösen. Ganz im Gegenteil: indem er Israel in der gesamten Region isoliert, reproduziert er das Problem auf einer viel größeren Ebene. Man kann nicht von einer ökonomischen und politischen Souveränität sprechen, sondern bloß von ökonomischer, politischer und militärischer Abhängigkeit von den Weltmächten.

Das weltweite Problem der Juden liegt in ihrer mangelnden gesellschaftlichen Integration vor Ort, d. h. in dem jeweiligen Land, in dem sie leben. Hier im Nahen Osten sind sie nicht mehr als bloße Individuen, sondern als ganzer Staat Außenseiter. Israel liegt zwar auf der Landkarte in dieser Region. ist aber wirtschaftlich und politisch gesehen Ausland, ein Wurmfortsatz der USA. Hersch Mendels glühende Idee von einer Hegemonie der Arbeiter und vom Sozialismus bleiben ein Phantasiegebilde.

Wenn man den wirklichen Sachverhalt verstehen und die praktischen Schlussfolgerungen daraus ableiten will, sollte man auch wissen. dass der weitaus größte Teil der heute in Israel lebenden Juden vor der „Katastrophe“ in Europa keine Zionisten waren und keineswegs daran dachten, nach Palästina zu emigrieren. Für sie war weder die Auswanderung nach Palästina noch die Errichtung eines jüdischen Staates eine reale Perspektive.

Die hunderttausenden Überlebenden des jüdischen Volkes in Europa sind nach dem Krieg nach Israel gegangen, weil sie in ihrer Heimat nicht mehr leben konnten und dort entwurzelt waren, weil sie weder Familie noch Freunde noch ein Zuhause mehr hatten. Sie sind nach Palästina gegangen, weil sie dort unten mit ihren Leidensgenossen ein neues Leben beginnen wollten. Sie gingen nicht als Kolonialisten, um die Araber zu bekämpfen und dem Imperialismus zu dienen. Viel mehr haben es die tragischen Umstände dem Zionismus leicht gemacht, aus diesen niedergeschlagenen und gequälten Menschen zionistische Nationalisten zu machen.

Früher und auch heute noch hatten diese Menschen nur ein Ziel: die Sicherung ihrer physischen Existenz nach jahrzehntelanger brutaler Verfolgung. Mit solchen Phrasen wie „religiöser Fanatismus“ erreicht man nichts anderes, als den zionistischen Nationalismus zu stärken.

Mit den Worten von Hersch Mendel: „Wer etwas ähnliches wie das Massaker an den Juden in Europa erlebt hat, wird niemals vergessen können und nicht ruhen, bis die Voraussetzungen geschaffen sind, die eine Wiederholung dieser Tragödie unmöglich machen. Sie werden stets zu jedem Opfer bereit sein, um die jüdische Existenz in einem jüdischen Land zu gewährleisten.“ (aus den Memoiren)

In den dreißiger und vierziger Jahren argumentierte bereits unsere kleine trotzkistische Gruppe in Palästina, die Kol-Hamaamad („Die Stimme der Klasse“) herausgab, dass der Gedanke, das jüdische Problem in Palästina lösen zu können, nicht nur wirklichkeitsfremd wäre, sondern dass eine solche Ideologie und die daraus abgeleitete Praxis der Reaktion und dem Imperialismus dienten.

1947/48 stellten wir uns gegen die Teilung des Landes und gegen die Errichtung des Staates Israel mit US-amerikanischer und sowjetischer Hilfe.

Aber zwischenzeitlich zeigten sich die Folgen der mörderischen Politik Hitlers und Stalins. Hunderttausende entwurzelte und verzweifelte Menschen wie Hersch Mendel sahen nur noch einen Ausweg. Sie bildeten die Basis, auf der der Zionismus, der auch die Unterstützung des amerikanischen Imperialismus und der Kremlbürokratie genoss, den jüdischen Staat ausrufen und verteidigen konnte.

Nach der Staatsgründung 1948 trugen auch die arabischen Staaten selbst mit ihrer bornierten antijüdischen und proimperialistischen Politik dazu bei, erneut hunderttausende Juden der zionistischen Festung zuzuführen. Obendrein kamen noch massenhaft Leute aus dem Kreml-beherrschten Osteuropa, v. a. aus Rumänien, wo Stalin und seine Nachfolger unfähig und nicht willens waren, das Problem der nationalen Minderheiten in einem internationalistischen Sinn zu lösen.

Dieser Staat, dessen Errichtung wir kritisieren und den wir noch heute als Büttel des Imperialismus begreifen, ist heute nach zwanzigjähriger Existenz ein Faktum, dessen Auslöschung durch welche arabischen Kräfte auch immer nur neues Unglück und Mord und Totschlag erzeugen würde.


Die arabische Revolution und der Staat Israel


Immer noch aktuell

In Fortsetzung unsrer Reihe mit Texten zur Frage des Selbst­bestim­mungs­rechts unterdrückter Nationen bringen wir in dieser Nummer der internationalen zwei Beiträge aus Israel-Palästina. Der Beitrag von Jakob Taut wurde zwar schon 1969 geschrieben und 1970 im internationalen Diskussionsbulletin der Vierten Internationale veröffentlicht. Aber nichts davon ist wirklich überholt. außer der Tatsache, dass es damals die Fatah (die größte Organisation in der PLO) war, die mit Bombenanschlägen versuchte, ihre Ziele durchzusetzen.

Konnte man ihre damalige Aktionsform eventuell noch als kleinbürgerlich radikal bezeichnen, so ist die "Aktions"-form der heutigen PLO-Führung (immer noch unter Arafat) eher als typisch bürgerlicher Ausverkauf palästinensischer Interessen zu werten. Einziges Ziel der PLO-Führung ist es, endlich zu einer anerkannten Staatsführung aufzusteigen und international aufgewertet zu werden. Dies kann und soll die gewaltigen Privilegien des eigentlichen Arafat-Clans sowie der gesamten Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) absichern.

Die Sackgasse, in die die PLO-Führung den Kampf der Palästinenserinnen vor allem mit den Osloer Abkommen geführt hat, hat die Ohnmacht vieler Menschen nicht geringer werden lassen. Gerade die Schwäche der revolutionär sozialistischen Bewegung in Israel-Palästina lässt verzweifelte Menschen zu hoffnungslosen menschlich wie politisch verheerenden Aktionen des individuellen Terrors greifen. Heute sind dies hauptsächlich Kräfte. die von der Hamas oder Al Dschihad beeinflusst werden. Ersetzt man also in dem Beitrag von J. Taut an den gegebenen Stellen Fatah durch diese Gruppen. so hat der Beitrag auch unter diesem Aspekt - leider - nichts an Aktualität verloren.

Der Genosse Jakob Taut, revo­lutio­närer Sozialist und Kommunist seit Ende der 1920er Jahre und Mitglied der trotzkistischen Bewegung seit Mitte der 1930er, lebt seit 1934 in Palästina/Israel. Er floh zusammen mit seiner Frau Miriam (als Juden und Kommunisten waren sie beide besonders gefährdet) 1933 aus dem faschistischen Deutschland über Dänemark nach Palästina.

D. Berger (2000)

 

In dem eingangs zitierten Artikel: „Das Ziel der Fatah: ein demokratisches Palästina“ findet sich die folgende programmatische Aussage: „… der revolutionäre Kampf hat die beispielhaften nationalen Befreiungskämpfe gegen Kolonialismus und Imperialismus zum Vorbild. Die palästinensische Befreiungsbewegung Fatah erklärt feierlich, dass das Endziel dieses Kampfes in der Wiedererrichtung des demokratischen und unabhängigen Staates Palästina liegt, in dem alle Bürger ungeachtet ihrer Rasse und Religion gleiche Rechte genießen werden.“

Zunächst eine Richtigstellung: Es gab nie einen „demokratischen und unabhängigen palästinensischen Staat“. Daher kann man auch nicht von einer Wiedererrichtung sprechen, sondern höchstens von der Gründung eines demokratischen und unabhängigen palästinensischen Staates. Es ginge also hier um etwas Neues, noch nie Dagewesenes. Es geht hier nicht um Wortklaubereien, aber das sog. Palästinensertum wird hier von den Verfechtern einer solchen Staatsgründung zum Mythos erhoben. Bis zum britischen Mandat war Palästina gar keine unabhängige staatliche Einheit, sondern Teil eines viel größeren Gesamtarabiens unter türkischer Herrschaft. Und als es dann zum Territorium unter britischem Mandat wurde, war es weder „demokratisch“ noch „unabhängig“. – Ich werde darauf noch zurückkommen.

In den Young Socialist Notes, aus denen dies Zitat stammt, folgt anschließend eine nach dem Sechs-Tage-Krieg verfasste Erklärung der I.S.O.: „Der Staat Israel muss einem tiefgehenden revolutionären Wandel unterworfen werden, der aus dem zionistischen einen sozialistischen Staat macht, der die Interessen der dort lebenden Massen vertritt … Wir schlagen daher folgende Losung vor: Für die Entzionisierung Israels und seine Integration in eine Sozialistische Union des Nahen Ostens.“ [2] Direkt im Anschluss heißt es dann von Seiten der Redaktion von Young Socialist: „Der revolutionäre Kampf der Palästinensischen Befreiungsbewegung ist ein Schritt in diese Richtung.“ (Hervorhebungen durch J. T.)

Diese beiden Erklärungen unterscheiden sich grundlegend voneinander. Erstere – die der Fatah – erwähnt als Ziel lediglich ein „demokratisches und unabhängiges Palästina“, d. h. Israel existiert einfach nicht mehr – ist verschwunden.

In einem nachfolgenden Interview auf Seite 3 derselben Ausgabe von Young Socialist wird der Vorsitzende des Arabischen Studentenclubs an der Columbia University, Amr Armanazi noch eindeutiger: „Langfristig hoffen die Kommandos, die, Struktur des zionistischen Staates ökonomisch und militärisch zerbrechen zu können und in Palästina einen demokratischen laizistischen Staat zu errichten, der allen unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung offensteht.“ (Hervorhebung durch J. T.)

In dem Kapitel über die Entstehung des Zionismus und des israelischen Staates habe ich versucht, zu zeigen, dass es sowohl unter humanitären Gesichtspunkten als auch vom Standpunkt eines sozialistischen Internationalismus unmöglich ist, die Liquidierung des israelischen Staates durch die palästinensische Befreiungsbewegung als revolutionär zu begreifen. „Freiheit“ von oben zu verfügen, führt weder zu „Demokratie“ noch zu „gleichen Rechten“. Am Ende stehen nur nationalistischer Hass oder eine neue Unterdrückung.

Die Erklärung der I.S.O., wonach „der Staat Israel einen tiefgreifenden revolutionären Wandel erfahren“ müsse, heißt zunächst einmal nicht, dass er verschwinden müsse. Israel müsse vielmehr entzionisiert werden. Anschließend und nur unter diesen Umständen könne man von einer „Integration in eine Sozialistische Union des Nahen Ostens“ sprechen.

Man kann die Gegensätzlichkeit dieser beiden Positionen nicht herunterspielen. Zur Erinnerung: El Fatah will das Problem der Flüchtlinge und Geflohenen lösen, indem sie ein jüdisch-arabisches Palästina mit Hilfe militärischer Aktionen unabhängig vom Willen der jüdischen Bevölkerung Israels schafft.

Für die I.S.O. ist die Entzionisierung Israels die Voraussetzung seiner „Integration in die Sozialistische Union des Nahen Ostens“. Entzionisierung bedeutet: ein Staat der Bevölkerung Israels und nicht der internationalen jüdischen Gemeinde, ein Staat, der in jederlei Beziehung im Rahmen und in Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten existiert und nicht als Erfüllungsgehilfe der Großmächte gegen diese Nachbarstaaten. Mit anderen Worten: die Voraussetzungen für die Integration und den tatsächlichen Übergang müssen geschaffen werden.

Die. I.S.O. stellt sich auf den Standpunkt Lenins: „Die Freiheit, sich zusammenzuschließen, setzt das Recht auf Lostrennung voraus“ (Rede vom 12. Mai 1917). Diese Position Lenins, die die I S.O. aufgegriffen hat, ist keine Phrase. sondern eine ganz konkrete Notwendigkeit, sowohl hinsichtlich der nationalen Frage als auch der objektiven Voraussetzungen für die Errichtung des Sozialismus.


Palästina, Israel und die Union des arabischen Ostens


Amr Arenanazi, den wir oben zitiert haben („… hoffen die Kommandos, die Struktur des zionistischen Staates zerbrechen zu können …“) entwickelte in seinem Interview eine Theorie, die anscheinend der des Fatah-Führers entspricht: „… die arabischen Revolutionäre mussten einsehen, dass eine vollständige Einigkeit unter den Arabern keineswegs unerlässlich ist, um wirksame Aktionen gegen den Zionismus durchzuführen. Tatsächlich ist Israel erfolgreich seiner Funktion als Bremsklotz sämtlicher nennenswerter Einigungsbestrebungen nachgekommen … Die inneren Konflikte und Widersprüche der arabischen Welt können nur gelöst werden, wenn dieses Wirrwarr beseitigt wird und alle Energien auf die Wurzel dieser Konflikte und Widersprüche gerichtet werden, d. h. gegen den israelischen Staat als Brückenkopf des Zionismus und Imperialismus im Nahen Osten.“

Mit solchen Verrenkungen soll bloß das Scheitern der arabischen Einigung verkleistert werden. Die Zionisten machen keinen Hehl daraus, dass die Verhinderung der arabischen Einheit seitens der zionistischen Führung Israels als vital für ihre Politik angesehen wird. Aber zu behaupten, dass Israel der Grund für die Uneinigkeit des Nahen Ostens ist, beruht nicht auf einer objektiven Betrachtung. Oder ist die syrisch-ägyptische Einheit wegen Israel gescheitert? Oder kann man Israel für die Erklärungen der verschiedenen Regimes und Parteien des Nahen Ostens verantwortlich machen, wonach es keine Einheit geben kann, solange es keine Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten gibt? Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Es sind Partikularinteressen und der Egoismus der verschiedenen arabischen Parteien, darunter auch der Kommunistischen Parteien, die bis heute mit allen Mittel eine Einheit verhindern und sabotieren. Damit erweisen sie dem Zionismus einen großen Gefallen, nicht minder auch den Großmächten, die infolge der Zwistigkeiten sehr viel leichter die arabische Nation jedes Stück für sich unter ihre Kuratel bekommen. Die reaktionären Kräfte bekämpfen natürlich auch jedweden fortschrittlichen Ansatz. Für sie ist die Aufhebung der vom Imperialismus künstlich gezogenen Grenzen im Nahen Osten gefährlich. Für eine revolutionäre Erhebung indes ist die nationale Vereinigung der notwendige erste Schritt. Die herausragendste Tat der chinesischen Revolution von 1949/50 war denn auch die Vereinigung des Landes.

 

UN-Teilungsplan 1947

Grafik: Liam Getreu

Amr Armanazi macht es sich mit seiner Sichtweise zu einfach: Für ihn ist Israel die Quelle der innerarabischen, Konflikte; daher müsse man gegen Israel marschieren, um einen weiteren kleinen arabischen Staat – Palästina – zu schaffen und Israel dort unterzupflügen.

Der Name Palästina stammt von den Philistern ab, die in der Antike dort gelebt haben. Die Bezeichnung erstreckte sich nicht einmal auf das gesamte Territorium, das dann später von den Briten so genannt wurde. Die Araber Palästinas sind historisch und als Nation integraler Bestandteil der Gesamtheit der Araber des Nahen Ostens. Der Staat Palästina ist realiter lediglich das Produkt der Aufteilung von Einflusssphären zwischen England und Frankreich während des Zerfalls des osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg.

Armanazi (und mit ihm die Führer der Fatah) denken: „… die arabische Einheit ist keine unabdingbare Voraussetzung, um gegen den Zionismus erfolgreich agieren zu können.“ Deswegen machen die palästinensischen Revolutionäre ihren eigenen Laden auf: den palästinensischen Staat. Dass so „erfolgreich gegen den Zionismus agiert“ werden kann, möchte ich – ohne darauf jetzt näher einzugehen – bezweifeln.

Von Interesse für uns sind in diesem Zusammenhang zwei entscheidende Probleme:

  1. die Gefahr, dass hier ein weiterer, nämlich der palästinensische Partikularismus zum Mythos erhoben wird – und

  2. dass das „Palästinensertum“ die Lösung des israelisch-arabischen Problems in einem revolutionär-internationalistischen Sinne desavouiert.

Grundsätzlich hat niemand das Recht, einem anderen vorzuschreiben, was er als seine Nationalität anzusehen hat. Man könnte daher einwenden, dass es deren eigene Angelegenheit ist, wenn sich die Palästinenser als eigene Nation konstituieren wollen und sei es nur für einen umrissenen Zeitraum. Konkret ist es jedoch so, dass Palästina ein arabisches Problem im Ganzen ist, was hier nicht noch einmal dargelegt werden muss, und dass andererseits das israelisch-arabische Problem nur im Rahmen des gesamten Nahen Ostens gelöst werden kann.

Ich unterstreiche nochmals das oben gesagte: Ein binationaler palästinensischer Staat ist unfähig, auch mit noch so gutem Willen seine nationalen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Widersprüche zu überwinden. Ein solcher Staat kann diese Widersprüche nur auf anderer Ebene auflodern lassen und der Reaktion vor Ort und dem Imperialismus in die Arme arbeiten.

Die Neigung der Fatah zum Partikularismus ist die logische Konsequenz aus dem Unvermögen der herrschenden Regime im Nahen Osten. Diese Regime können ihre politischen und sozialen Probleme nicht lösen und zu keiner Einigung der Länder des Nahen Ostens gelangen. Ebenso können sie nur in negativer Weise zur Lösung des israelisch-arabischen Problems und der unseligen Lage der palästinensischen Flüchtlinge beitragen, und zwar so lange, wie sie ihre Anstrengungen nicht auf die Vereinigung dieser Länder richten. Daher rühren auch die eigenständigen Aktivitäten der Palästinenser. Diese Isolierung der Kämpfer vor den Staatsapparaten und den konventionellen Armeen birgt ein gewaltiges revolutionär-sozialistisches Potential. Aber gleichzeitig beinhaltet der Partikularismus potenziell reaktionäre Tendenzen bis hin zur Kapitulation vor den Staatsapparaten, den internationalen Wirtschaftsmonopolen (auf dem Erdölsektor) und den Großmächten.

Fortschritt und Sozialismus erfordern Offenheit für alle Fragestellungen und eine weitsichtige Perspektive. Zu diesem Zweck muss ein Übergangsprogramm entwickelt werden, das diesen Interessen dient. Der bornierte Partikularismus konterkariert das revolutionäre Potential der palästinensischen Kämpfer.


Israel und die Juden in der Welt


Die zionistische Bewegung versteht sich als nationale Befreiungsbewegung der Juden auf der ganzen Welt. Ich habe eingangs versucht, den Ursprung des Zionismus wie auch sein Unvermögen, die internationale jüdische Frage zu lösen, sowie die Umstände, die zur Gründung des Staates führten, aufzuzeigen.

Da in der Frage der Beziehungen zwischen den in der ganzen Welt lebenden Juden und Israel eine große Verwirrung herrscht, soll hier noch etwas zu diesem Punkt gesagt angemerkt werden. Die israelische KP (Rakach) hat auf ihrem 16. Kongress im Juni dieses Jahres zum Thema „Die jüdische Frage und der heutige Zionismus“ folgende Resolution verabschiedet: „Der gegenwärtige Zionismus ist eine reaktionäre Ideologie und eine Politik der proimperialistischen jüdischen Bourgeoisie. Deren Zentrum liegt in Israel und in den USA.“

Die Vertreter der Kreml-Strategie halten es für einen enormen theoretischen Beitrag, wenn sie die Zionisten als Bourgeois mit Zentrum in den USA charakterisieren. Hingegen war der Zionismus weder in der Vergangenheit noch ist er gegenwärtig eine „Ideologie“ und eine „Politik“ der internationalen jüdischen Bourgeoisie.

Die jüdischen Kapitalisten in der ganzen Welt sind Bestandteil der bürgerlichen Klasse in den jeweiligen Ländern, in denen sie leben. Ihre Existenz als Klasse hängt ab vom amerikanischen, englischen, französischen, südafrikanischen etc. Kapitalismus. Dort haben sie jeweils ihr Kapital investiert. Der Kapitalist jüdischer Herkunft, der in den USA oder in Frankreich lebt, ist kein jüdischer Kapitalist, sondern ein amerikanischer oder französischer.

Sicherlich ist ein Teil der jüdischen Bourgeoisie Israel innerlich sehr stark verbunden, was übrigens für viele andere gesellschaftliche Schichten ebenfalls zutrifft. Aber das jüdische Großkapital investiert nicht seine Reichtümer in Israel. Die Rothschild-Dynastie aus Paris hat vor ein paar Jahren im Rahmen französischer (Wirtschafts)interessen einige Investitionen in Israel vorgenommen. Aber als diese Interessen nicht mehr gegeben waren und die französische Regierung sogenannte Sanktionen verhängte, investierten die Rothschilds auch nicht mehr in die Pipeline, die Eilat mit dem Mittelmeer verbinden sollte. Und die Rothschilds sind notabene nicht zu den französischen Kleinbürgern zu zählen, die gehorchen, wenn die Oberen befehlen, sondern gehören selbst zu den Oberen und zählen zu den bedeutendsten französischen Profitgeiern.

„Lösung der Judenfrage“

Theodor Herzl, 1896

 

Eine Analyse der Investitionen in Israel würde zeigen, dass die israelische Wirtschaft nicht auf dem Kapital gründet, das die jüdischen Kapitalisten in der Welt dort investieren. Diese sind – jedoch nicht alle – bereit, mehr oder minder Geld zu spenden, vor allem, wenn sie dies von der Steuer absetzen können. Aber tatsächliches Kapital investieren sie nur in geringem Umfang, weil ihnen die Unsicherheit zu groß und die Profite recht vage sind. Manche haben investiert, weil die israelische Regierung den Gewinntransfer und regelmäßige Dividenden garantierte, auch wenn das Unternehmen keinen Profit abwarf.

Israel ist seiner Wirtschaftsstruktur und seinem Klassencharakter nach ein bürgerlicher Staat. Die israelische Bourgeoisie herrscht dort wie jede andere Bourgeoisie der Welt auch. Aber weder seinem Ursprung nach noch hinsichtlich der aktuellen Konstellation Israels ist der Zionismus Ideologie und Praxis des weltweiten jüdischen Kapitals. Es ist vielmehr so, dass die zionistische Ideologie und die reale Lage Israels als isolierter Fremdkörper in der Region das Land zwangsläufig in eine ökonomische und politische Abhängigkeit vom Imperialismus geführt haben. Die Väter des politischen Zionismus wussten dies und handelten entsprechend.

Insofern spricht die I.S.O. von Entzionisierung, was wir weiter oben erläutert haben. Die Entzionisierung ist jedoch nur möglich, wenn die jüdischen Massen in Israel nicht nur hinsichtlich ihrer physischen Existenz sicher sein können, wie Fatah versichert, sondern auch in ihrer politischen und nationalen Existenz. Die Bevölkerung Israels ist keine homogene soziale Masse; es sind keine Kolonialisten im klassischen Sinn, da die meisten von ihnen zu den ausgebeuteten Klassen gehören. Aber nach den jahrhundertelangen Erfahrungen steht die Frage der Sicherheit für alle an erster Stelle.


Die palästinensische Widerstandsbewegung und Israel


Jassir Arafat, der Fatah-Führer äußerte sich in der Tricontinentale vom Januar 1969 folgendermaßen: „Wir führen diesen Krieg, um aus unserem Land die militärischen Besatzungskräfte zu vertreiben, die der internationale Imperialismus aufgestellt hat und die von den USA, dem britischen Imperialismus und dem internationalen Zionismus dirigiert werden …“

Die konterrevolutionären Kräfte im Nahen Osten, in Israel und in den arabischen Staaten, werden vom US-Imperialismus bezahlt und geleitet. Der Staat Israel fungiert für den Imperialismus als Polizist gegen die revolutionäre arabische Bewegung. Diese Fakten muss man im Auge haben, wenn man eine Strategie der arabischen und der deutlich geringeren israelischen Kräfte entwickeln will.

Dennoch müssen wir die klare Frage stellen: was bedeutet es „… die militärischen Besatzungskräfte aus unserem Land zu vertreiben …“ und die Antwort muss ebenso klar ausfallen.

Arafat vergleicht seine Bewegung mit der Befreiungsfront Vietnams. Die „militärische Besatzungsmacht“ dort ist die US-Armee, die in das Land einmarschiert ist und hinausgejagt werden muss. Die „Befreiungsfront“ muss gegen die Truppen des General Ky, der sein Volk verraten hat, kämpfen, um das Land auch von den Feinden vor Ort zu befreien. Aber die Truppen Kys und Thieus sind keine „Besatzungsmächte“, denn es sind Vietnamesen, die für die „Befreiungsfront“ gewonnen werden müssen.

Wenn Arafat unter „Besatzungsmächte“ in Palästina die israelischen Streitkräfte versteht, die das Westjordanland, den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel und die Golanhöhen besetzt halten, dann sind wir einverstanden; die Rückgabe der besetzten Gebiete ist eine grundlegende Forderung, auch wenn mit ihrer Durchsetzung nicht die bestehenden Probleme gelöst werden.

Aber Fatah redet in ihren diversen Erklärungen davon, „die Strukturen des zionistischen Staates zu zerschlagen“. In allen Varianten zu diesem Thema liegt der Schwerpunkt stets darin, die Rechte der Juden zu übergehen.

Wenn die Palästinensische Befreiungsbewegung den Zionismus als Besatzungstruppe und Agent des Imperialismus bekämpft, gleichzeitig aber die Juden Israels nicht als Juden angreifen will, weil sie ihrer Meinung nach und den offiziellen Erklärungen zufolge für einen gemeinsamen Kampf gewonnen werden sollen, dann muss man auch entsprechend handeln.

Die Explosion einer Autobombe inmitten friedlicher Händler auf dem Gemüsemarkt in Jerusalem, die Explosion einer Zeitbombe in der Mensa der Universität von Jerusalem, die Explosion auf dem Busbahnhof von Tel-Aviv, wo massenhaft Arbeiter und kleine Handwerker sich auf dem Weg zur Arbeit befinden, die Platzierung einer Bombe am Eingang einer Zirkusvorstellung und dutzende solcher Aktionen können die Massen bloß abstoßen und enger an den Zionismus binden statt sie zu gewinnen.

Hier ein anderes Beispiel für die Unfähigkeit der Führungsorgane, von einem internationalistischen Standpunkt aus zu denken und zu handeln: In der Plattform der Volksfront für die Befreiung Palästinas ist sehr oft vom Klassenkampf die Rede, ohne dass je erklärt wird, was darunter verstanden wird: „Denn der nationale Kampf ist ein Kampf um das Land und die, die dafür kämpfen, sind die Bauern, die von ihrem Land vertrieben worden sind …“ (aus Was Tun v. 28.10.1968)

Dies bedeutet, dass die PFLP die jüdischen Bauern in Israel einfach mit den Kolonialisten und den Kolonialländern gleichsetzt. Diese jüdischen Bauern sollen also aufs Neue vertrieben und ihre Länder von den Arabern in Besitz genommen werden. Das nennt ihr also „Klassenkampf“ und so soll das Problem auf „demokratische Weise“ gelöst werden und die israelische Bevölkerung für den gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus gewonnen werden?

 

Literatur

Jakob Taut: Judenfrage und Zionismus, Frankfurt/M. 1986 (Neuer ISP Verlag), ISBN 3-88332-097-8 (vergriffen).

Abraham Léon: Die jüdische Frage. Eine marxistische Darstellung, Essen. 1995 (Arbeiter­presse-Verlag), ISBN 3-88634-064-3. Geschrieben wurde das Buch 1942. Die Erstausgabe erschien (im französischen Original) 1946. Digitalisat

Mendel, Hersch [i. e. Sztokfisz, Herschel Mendel]: Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs, [2. dt. Ausg.], aus dem Jiddischen übersetzt von Nele Löw-Beer u. Jakob Moneta, mit einer Einleitung von Isaac Deutscher u. einem Nachwort von Jakob Moneta, Köln: Neuer ISP Verlag, 2004, ISBN 3-89900-112-5 (vergriffen).

Sophia Deeg / Hermann Dierkes: Bedingungslos für Israel?Positionen und Aktionen jenseits deutscher Befindlichkeiten, 2010 (Neuer ISP Verlag), ISBN 978-3-89900-134-1. Digitalisat

Das u.a. von ehemaligen Matzpen-Mitgliedern gegründete Alternative Information Center berichtet seit den 1980er Jahren regelmäßig über den israelisch-palästinensischen Konflikt.

Im Internet gibt es ein Archiv der Matzpen. Ihr Manifest von 1967 wurde auch ins Deutsche übersetzt.

Redaktion inprekorr.de (2023)

Die „demokratische“ Lösung der Bodenfrage besteht für die Sozialisten in der Agrarrevolution. Ich will hier nicht festlegen, ob und wie die Ländereien verteilt oder kollektiv bearbeitet werden sollen.

Wenn es für die. Lösung des Agrarproblems erforderlich sein wird, werden die Ländereien zurückgegeben. Aber auf alle Fälle ist die Forderung nach einem Eigentumsübertrag von einem Kleinbauern auf den anderen anhand ihrer nationalen Zugehörigkeit kein „Klassenkampf“ sondern brutales nationalistisches Vorgehen. Die jüdischen Siedler sind jahrzehntelang mit der gleichen Brutalität gegen die arabischen Fellachen vorgegangen.

Trotzdem ist die Umkehrung dieser Situation keine Lösung, sondern wird die blutigsten und reaktionärsten Instinkte wecken. Der „Klassenkampf“ in der Landwirtschaft besteht in der Agrarrevolution, die beiden Völkern in solidarischer Weise gerecht wird und die Gewinnung der jüdischen Bauern für die gemeinsame Sache ermöglicht.

Es gibt bestimmte zionistische Tendenzen (Uri Averni, vereinzelte Mitglieder der Mapam u. a.), die sich für das Recht der Araber auf Selbstbestimmung aussprechen, aber nur wenn sie sich als Föderation mit Israel vereinigen. So eine Haltung ist natürlich indiskutabel. Wenn man gezwungen wird, eine Föderation einzugehen, statt dies aus freien Stücken zu tun, kann man nicht von Selbstbestimmung sprechen.

Aber genauso verhält es sich in der Realität mit der Haltung der Fatah Israel gegenüber. Es hört sich großartig an, wenn sie erklären: „Wir haben nicht zu den Waffen gegriffen, um zwei Millionen Juden ins Meer zu treiben oder um einen Religions- oder Rassenkrieg anzuzetteln.“

Ich zweifle nicht an der Aufrichtigkeit dieser Erklärung. Aber ich bezweifle aufs Entschiedenste, dass man von „Demokratie“ in einem von den arabischen Streitkräften eroberten Palästina sprechen kann, wo Israel gegen den Willen der dort lebenden Juden aufgelöst wird, um ein binationales Palästina zu werden.

Jede erzwungene „Integration“ eines Volkes ist eine Unterwerfung. Eine Integration kann nur von den Juden selbst ausgehen; und dafür müssen sie von den palästinensischen Befreiungskämpfern das Selbst­bestimmungs­recht erhalten. Die revolutionären Sozialisten haben kein Interesse an der Errichtung einer anachronistischen Staatsformation, die darüber hinaus noch nicht einmal über die wirtschaftliche und politische Basis für eine unabhängige Existenz verfügt.

Wie bereits ausgeführt kann die Integration einer Nation in eine größere Formation, d. h. in einen Vereinigten Nahen Osten jedoch nur aus den zu integrierenden Nationen selbst heraus kommen, in diesem Fall also von Israel aus.

Damit soll nicht das Recht der Araber beschränkt werden, ihren Befreiungskampf gegen die Besetzung der Gebiete und die Unterwerfung fortzusetzen. Es ist im Gegenteil sogar ihre elementare Pflicht. Aber wenn Arafat davon spricht, „eine militärische Besatzungsmacht aus unseren Gebieten zu vertreiben …“ und an eine Auflösung des israelischen Staates in einem jüdisch-arabischen Palästina denkt, dann ist dies gelinde gesagt suspekt. Dies ist nicht mit Vietnam zu vergleichen. Es handelt sich hierbei nicht um eine amerikanische oder sonst wie imperialistische „Besatzungsmacht“. Es handelt sich um Israel, das zwar momentan sicherlich im Sinne der Weltmächte agiert, das aber eines Tages. wenn diese ihre Schuld beglichen zu haben glauben, von ihren jetzigen Herren schnöde fallen gelassen wird. Diese „militärische Besatzungsmacht“ gilt es nicht aus Israel zu vertreiben, sondern man muss sie geduldig für die gemeinsame jüdisch-arabische Sache gewinnen, indem man anschauliche Überzeugungsarbeit leistet und v. a. die nationale Unabhängigkeit zusichert. An dieser Stelle können auch die israelischen revolutionären Sozialisten aktiv ansetzen.

Ich habe oben -absichtlich die Position der KP (Rakach) zitiert. Wenn nämlich der Zionismus die Sache der internationalen jüdischen Bourgeoisie ist, gilt dies auch für Israel. Für uns ist diese Position irrig. Israel ist ein Staat, dessen Wirtschaftssystem von den kapitalistischen Konkurrenz- und Marktgesetzen bestimmt wird und der im Wesentlichen der Dienste wegen existiert, die er dem mächtigen Kapital der weltweiten Monopole (und nicht dem jüdischen) leistet.

      
Mehr dazu
Pierre Frank: Hersch Mendel, Inprekorr Nr. 400/401 (März/April 2005)
Micha [Jakob Taut]: Zum Gedenken an Hersch Mendel, Inprekorr Nr. 400/401 (März/April 2005)
Jakob Moneta: Jakob Taut (1913-2001), Inprekorr Nr. 362/363 (Dezember 2001)
Interview mit Rudi Segall: Palästina als Zufluchtsort für jüdische Flüchtlinge, Inprekorr Nr. 347 (September 2000)
Ingrid Garadat Gassner: Das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, Inprekorr Nr. 342 (April 2000)
Jakob Taut: Das Ziel muss ein geeinigter Staat sein, Inprekorr Nr. 267 (Januar 1994)
Position der IV. Inter­nationale zur Palästina-Frage, Inprekorr Nr. 29 (1. März 1974)
Nathan Weinstock: 25 Jahre zionistischer Staat, Inprekorr Nr. 27 (1. Juli 1973)
Interview mit Arie Bober: Der Kampf von „Matzpen“ in Israel, Inprekorr Nr. 4 (15. Juni 1971)
 

Die Nachrichtensendungen der Fatah im Radio in hebräischer Sprache richten sich nicht nur an die Israelis, sondern zugleich an die Juden in der ganzen Welt. Dies ist völlig fehl am Platz und schafft Argwohn. Dies sind zwei verschiedene Welten. Die Juden in der übrigen Welt mit Israel in eins zu setzen, genau das macht nämlich der Zionismus.

Man muss auch aufhören, immer vom internationalen Judentum und dem internationalen Zionismus zu reden, was sehr häufig passiert. Der Begriff des „internationalen Judentums“ hat einen bitteren Nachgeschmack. Es erinnert an das abscheuliche Machwerk der zaristischen Antisemiten, Die Weisen von Zion, das unglücklicherweise auch ein paar Mal in arabischer Sprache aufgelegt worden ist. Es erinnert an die widerliche Propaganda der Nazis gegen das „Weltjudentum“, das angeblich den Planeten beherrschen wollte. Es erinnert ebenso an so viele Bürokraten in den sogenannten „sozialistischen“ Ländern.

Nochmal: Israel ist ein Land, dessen Bevölkerung wie in allen kapitalistischen Ländern der Welt in Klassen geteilt ist. Der Zionismus spielt eine reaktionäre Rolle. Aber die jüdische Bevölkerung Israels kann nur für den antiimperialistischen und sozialistischen Kampf gewonnen werden. wenn ihre physische und nationale Existenz gewährleistet wird.

Man muss ihr mit Geduld klarmachen, dass es nicht um einen neuen Partikularismus geht, der nur den Großmächten und der Reaktion dient, sondern dass es um eine revolutionäre Bewegung geht, die eine ganze Region umfasst und die gleichermaßen gegen die arabische Reaktion wie gegen die zionistische Reaktion kämpft.

Einzig ein Vereinigter Sozialistischer Naher Osten wird imstande sein, die tragische palästinensische Frage und das Flüchtlingsproblem zu lösen und ebenso die Eingliederung der jüdischen Bevölkerung Israels, die in einer befreiten Region ihren Platz findet.

Übersetzung aus dem Französischen: Mi. We.
Geschrieben im Juni 1969, erschienen im Internationalen Diskussionsbulletin der Vierten Internationale, Juli 1970



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 342 (April 2000). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Auf Deutsch: Zum Gedenken an Hersch Mendel, Inprekorr Nr. 400/401 (März/April 2005)

[2] Vermutlich bezieht er sich auf diesen Text: General Declaration by the ISO, 22 March 1968 – Anm. d. Red.