Balkan

Die neuen Balkanstaaten: Die undurchsichtige Neudefinition der Eigentums- und der nationalen Rechte

Die Krise Jugoslawiens führte zu einer Desintegration des gesellschaftlichen Eigentums und zu einer Transformation des Inhalts des Begriffs „Nation“ zugunsten von neuen Staaten: Diese haben sich das allgemeine Recht angeeignet, in den Gebieten, in denen sie die Nation neu definiert haben, die Reichtümer zu privatisieren. Die Änderung der Eigentumsverhältnisse und die Transformation der nationalen Rechte sowie der Verlust gesellschaftlichen Zusammenhalts, den sie mit sich brachten, stehen im Mittelpunkt des endlosen Auseinanderbrechens der früheren jugoslawischen Föderation und der instabilen Beziehungen zwischen den neuen Balkanstaaten. Doch diese Fragen betreffen auch den Aufbau Europas insgesamt.

Catherine Samary

Seit dem Ende des NATO-Krieges (März-Juni 1999), der zur Errichtung des UNO-Protektorates im Kosovo [albanisch: in Kosova] führte, versucht die Europäische Union (EU) im „westlichen Balkan“ eine regionale Vorgehensweise mit einer Einzelfallbehandlung der aus dem Auseinanderbrechen der früheren jugoslawischen Föderation entstandenen Staaten zu verbinden. Darin zeigt sich die Angst vor dem Dominoeffekt der jeweiligen Einzelentscheidungen – z. B. die Auswirkung einer möglichen Unabhängigkeit des Kosovo auf die FYROM [1] (Mazedonien) oder auf Bosnien-Herzegowina (BiH), sowie der Wille, diesen Risiken durch die euroatlantische Integration zu begegnen. Diese Integration könnte jedoch rein militärisch bleiben.

Der Aufbau einer „Marktwirtschaft“ wurde als Ziel des „Übergangs“ hingestellt. Hinter dieser unbestimmten Formulierung verbarg sich in Wirklichkeit die Restauration des Kapitalismus durch die Verallgemeinerung der Waren- und somit Geldbeziehungen mit der Errichtung und Entwicklung von Kapital-, Arbeits- und Dienstleistungsmärkten. Die Privatisierungen sind in den Augen der Washingtoner Experten, die an der Spitze der Institutionen der Globalisierung stehen, und der Europäischen Union das „Kennzeichen“ des Bruchs mit den früheren Systemen, die sich auf den Sozialismus beriefen, geworden. Auf dieser Grundlage wird beurteilt, in wieweit die angestrebten Ziele erreicht worden sind. Der normative und systematische Aspekt dieses Kriteriums zeigt sich auch in den Protektoraten, die in BiH und dem Kosovo eingerichtet worden sind, sodann in den Zielen des Stabilitätspaktes für Südosteuropa [2] und in den „Kopenhagener Kriterien“ von 1993, die die Bedingungen eines Beitritts zur EU zusammenfassen.

Doch diese Orientierung bringt einerseits die sozialen Schutzmaßnahmen in Gefahr, weil sie mit dem Selbstverwaltungsstatut der vormaligen Formen des gesellschaftlichen Eigentums verbunden waren, und führt außerdem zu einer endlosen Desintegration der früheren Föderation. Der wirkungslose Charakter der Rezepte – sofern man als einfaches Kriterium ihrer Wirksamkeit die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen und den Zusammenhalt der Gesellschaft hernimmt – hat sich auf dramatische Weise gezeigt: Für die „Übergangsgesellschaften“, in denen es keinen Krieg gab (von den andern erst gar nicht zu reden) hat die Weltbank die Bilanz der ersten zehn Jahre des Übergangs als einen wahren und geschichtlich einmaligen Sturzflug beim Anstieg von Armut und Ungleichheit beschrieben. Aber die Legitimität dieses Prozesses wird selten in Frage gestellt.

Wer hatte im früheren Jugoslawien das Recht, Privatisierungen durchzuführen?


Das Erbe Titos: die Eigentums- und nationalen Rechte als Faktoren der Annäherung und der Stabilisierung


In der letzten jugoslawischen Verfassung von 1974 hatten die Eigentumsrechte einen „gesellschaftlichen“ [„sociétal“] Inhalt bekommen; dies war eine Reaktion auf zuvor aufgetauchte Tendenzen. Man wollte explizit jede Aneignung von Rechten der Leitung und der Veräußerung (Verkauf, Übertragung) dieses kollektiven Eigentums durch den Staat sowohl auf der Ebene Jugoslawiens wie auch der Teilrepubliken untersagen. Die Verfassung verbot auch jede Form von Gruppeneigentum, die die Leitung und das Recht auf Verkauf von gesellschaftlichen Errungenschaften, die nur den Unternehmenskollektiven zustanden, ermöglicht hätte.

Doch die Bürokratisierung des Systems der Einheitspartei hatte die Tendenz, die Funktionsprivilegien mehr und mehr mit der Zunahme der Macht der Republiken und Provinzen zu verbinden. Daraus ergab sich eine wachsende Transformation der Republiken und Provinzen zu Basiseinheiten des Systems – in Wirklichkeit rivalisierten sie mit den anderen von der Verfassung anerkannten Subjekten, den ArbeiterInnen der Selbstverwaltung und den „Völkern“.

Parallel zur Infragestellung der Selbstverwaltungsrechte wurde auch der Sinn oder die Tragweite der Begriffe „Nation“ oder „Volk“, wie sie unter Tito verstanden wurden, in der Krise verändert. Die Transformation des Staates auf „völkischer“ Grundlage stand im Mittelpunkt des doppelten Prozesses, der die Eigentums- und die Rechte der „Völker“ beschnitt.

In der jugoslawischen Verfassung wurde die Staatsbürgerschaft (die zivilen Rechte und Pflichten, die sich auf das ganze Territorium bezogen, das vom gemeinsamen Staat verwaltet wurde) vom Begriff der subjektiven und historischen „Völker“ oder der „Nation“ („narod“ im ethnisch-nationalen Sinn der „Volksgruppe“) unterschieden. Man war BürgerIn Jugoslawiens (und der Republiken als Staaten) und gehörte außerdem zu einem der sechs konstituierenden slawischen Völker (Serben, Kroaten, Slowenen, Mazedonier, Montenegriner – und seit den sechziger Jahren bosnische Muslime) oder zu einer minoritären nationalen Gemeinschaft.

Für die kommunistischen Führungen, die dieses System theoretisiert hatten, sollten diese beiden Ansätze (Bürgerrecht/Volk) und die gemeinsame Verwaltung des Erbes als gesellschaftliches Eigentum sowohl die Anerkennung der Verschiedenheit als auch die Einheitlichkeit der individuellen und gesellschaftlichen Bürgerrechte, die unabhängig von der Volkszugehörigkeit die gemeinsame Anbindung an den jugoslawischen Bundesstaat begründeten, ermöglichen. Die gesellschaftliche (Klassen-)Realität und die allgemeine Verbesserung des Lebensstandards reduzierten die Unterschiede in der Entwicklung und sollten eine Überwindung der Nationalismen als Ideologien der Spaltung ermöglichen.

Gleichzeitig sollte die Anerkennung der Nationen (oder Völker) auf historischen und subjektiven Grundlagen die in den Kämpfen der Vergangenheit und im Widerstand gegen den Druck der Assimilierung und des Unitarismus des ersten Jugoslawien oder in den Bruderkriegen im Zweiten Weltkrieg ausgedrückten Erwartungen befriedigen. Die anerkannten Nationen besaßen unabhängig von ihrer zahlenmäßigen Bedeutung bestimmte Rechte: Dies führte in der Föderationskammer zu einem Funktionieren im Konsensprinzip oder zu einer kollegialen Präsidentschaft, in der jede Republik oder Provinz in gleicher Weise repräsentiert war und es eine jährliche Rotation der Präsidentschaft gab. Es gab auch kein mit den Völkern verbundenes Territorialprinzip: Die Geschichte der Kriege und der Grenzziehungen, die Geschichte der wechselnden Staaten und Kräfteverhältnisse hatte zu Vermischungen und Bevölkerungsverschiebungen geführt, deren Ergebnis in einer Verteilung von Völkern auf verschiedene Republiken bestand. Die Völker (Nationen) Jugoslawiens wurden als solche anerkannt – auch wenn sie in einer Republik eine Minderheit waren – und dies unabhängig vom jeweiligen Prozentsatz. So waren die Serben in Kroatien (damals etwa 20% der Bevölkerung) ein die Republik konstituierendes „Volk“. Genauso war Bosnien-Herzegowina ein Staat seiner drei Völker – des serbischen (etwa 33% der bosnischen Bevölkerung), des kroatischen (ungefähr 18%) Volkes und der bosnischen Muslime (etwas über 40%) – ohne dass auf ihre Größe oder ihre Verteilung auf die Republik geachtet wurde.

Der jugoslawische Rahmen ohne Binnengrenzen und die nicht territorialisierten gesellschaftlichen Rechte auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums erleichterten die Binnenmigration und die Möglichkeiten zur Vermischung.

Bei den neuen, in der Zeit Titos anerkannten Nationen – die Mazedonier und die bosnischen Muslime [3] – zeigten sich sicherlich auch spezifische Ziele des Regimes (insbesondere die Festigung der Grenzziehung gegenüber Bulgarien oder der Ausgleich zwischen dem serbischen und dem kroatischen Nationalismus), aber es achtete auch auf die wirklich ausgedrückten Erwartungen und Frustrationen, die auf das erste Jugoslawien nach dem Ersten Weltkrieg zurückgingen. In jedem Fall gehörten sie nunmehr zum historischen und subjektiven Erbe.

Für die Fragen der Identität bestanden somit keine fingierten normativen Grundlagen: die Erklärung der Zugehörigkeit zu einem Volk ergab sich in den Volkszählungen aus einer individuellen und subjektiven Entscheidung – man musste weder eine nationale Zugehörigkeit abstreiten noch sie „beweisen“ und man konnte sich auch „nicht entscheiden”; es gab in den letzten Volkszählungen sogar einige Hunderttausend Bürger und Bürgerinnen, die als Volkszugehörigkeit „jugoslawisch“ angaben, während früher die jugoslawische Zwangsjacke abgelehnt wurde. Der jugoslawische Rechtsrahmen und die fehlenden Grenzen machten die Frage des Territoriums zu einer nachrangigen Frage. Doch die Anerkennung der Diversität bedeutete auch die Anerkennung der unterschiedlichen Geschichte und Kulturen (in einem breiten Sinn, wobei auch die Rolle der Religionen im früheren osmanischen Reich Eingang fand).

In diesem Sinn hatten die verschiedenen Verfassungen des Jugoslawien unter Tito die Völker als Basiseinheiten anerkannt, die über das Recht auf Selbstbestimmung verfügten – jede Veränderung von Grenzen musste im Konsens herbeigeführt werden. Aber die Form der Entscheidungsfindung war nicht genau festgelegt worden. Das Auseinanderbrechen der Föderation sollte genau diese bedeutsame Frage aufwerfen.


Die Faktoren der Instabilität des Systems


Diese Verschiedenheit war ein attraktiver Reichtum – sofern sie nicht von der Logik der Einheitspartei, den mit Funktionen verbundenen Privilegien und der Macht der Bürokratie erstickt wurde. Und solange sie nicht von einer separatistischen nationalistischen Logik bedroht wurde. Außerdem drückten sich darin die Frustrationen derjenigen aus, die sich durch die Nichtanerkennung als „Volk“ diskriminiert fühlten – was zum Auftauchen der albanischen Frage führte.

Auf folgenden Ebenen blieb das System zerbrechlich:


Die Ähnlichkeit im Verhalten der serbischen und albanischen Minderheiten gegen über den neuen Verfasungen und der Volksabstimmung über die Selbstbestimmung


Demoratische Prozeduren können als solche nur anerkannt werden, wenn sie auf einem bestimmten Gebiet auch von der Mehrheit akzeptiert werden. Insofern die nationalen Fragen ein sensibles und umstrittenes Feld sind, konnten die Abstimmungen nur Indikatoren sein, aber die Boykottaufrufe, die massiv befolgt wurden, waren hinsichtlich eines entscheidenden Problems genauso bedeutsam. Die vom früheren französischen Justizminister Badinter geleitete Juristenkommission, die von der EU eingesetzt wurde, hatte zur Lage in Kroatien und Bosnien-Herzegowina zur Vorsicht mahnende Ansichten geäußert. Doch sie wurde überhört.


Nationale Rechte und Privatisierungen: das Kosovo-Syndrom


Der Kosovo stellt ein extremes, doch bezeichnendes Symbol dar. Im Allgemeinen haben die Privatisierungen das territorialisiert, was gemeinsamer Besitz der jugoslawischen Völker war, wobei die gesellschaftlichen Rechte des früheren Eigentums abgeschafft wurden. Die Führer Serbiens suchten ihr Recht auf Aneignung des Kosovo auf der Grundlage nationaler Herrschaft als Mehrheit auf der Ebene der Republik durchzusetzen – und dies auf dem Rücken der AlbanerInnen, aber auch, indem sie die Rechte der jeweiligen Bevölkerungen aller betroffenen Nationalitäten mit Füßen traten. Möchten die Führer der Kosovo-AlbanerInnen ihrerseits den Kosovo auf ähnlicher Grundlage in ihre Gewalt bringen, indem sie das Ausmaß der Territorialisierung ändern? Und können sie dies tun, indem sie sich auf die euroatlantischen Institutionen stützen, die das internationale „Recht des Stärkeren“ propagieren, also die Willkür?

Die von uns aufgeworfene Frage – wer hat das Recht, in den früheren Republiken und Provinzen des titoistischen Jugoslawiens Privatisierungen durchzuführen – nimmt hier einen Inhalt in drei wahrnehmbaren Dimensionen an: Die Rivalität zwischen Belgrad (serbische Mehrheit), Prischtina (albanische Mehrheit) und den äußeren Mächten, die das Protektorat leiten (Herrschaftsbeziehung und mögliche Rivalitäten). Die Konflikte mit Belgrad über die Eigentumsfragen standen in der Tat im Zentrum der Verhandlungen vom 23./24. März 2006, die von Stephan Lehne, einem Gesandten der EU, über den endgültigen Status geführt wurden: „Serbien fordert einen Stopp der Privatisierungen im Kosovo” [7] war ein Artikel aus Prischtina vom 30. März betitelt. Laut Verfassung von Serbien-Montenegro – aber auch für das nun getrennte Serbien – stellt der Kosovo nach wie vor eine serbische Provinz dar.

Doch das Protektorat macht die Angelegenheit nur noch deutlicher, aber auch den Zwangscharakter der Privatisierungen als Kriterium eines „gelungenen“ Transformationsprozesses der Gesellschaften.

Was jedoch die „ethnisierten“ Formulierungen im Kosovo wie im übrigen Ex-Jugoslawien verschweigen, ist die Existenz einer vierten Dimension, die unsichtbar bleibt, weil sie von den bestehenden Kräfteverhältnissen ausgelöscht wird: das legale Eigentum im früheren, titoistischen Jugoslawien. Es handelt sich dabei um die Selbstverwaltung der Arbeitenden, Menschen aller Nationalitäten, denen überall ihre Rechte von oben und auf undurchsichtige Weise genommen worden sind – man streute ihnen Sand in die Augen, als man ihnen sagte, sie könnten die Arbeit und einen Status als AktionärInnen, aber ohne reale Entscheidungsbefugnis, behalten.

Dieses Element der Selbstverwaltung im jugoslawischen Recht ist in den Reden der Gegner von Milošević wieder aufgetaucht, als dieser noch an der Macht war, um seinen Sturz zu beschleunigen. Als es darum ging, den Nepotismus der „sozialistischen“ Direktoren anzuprangern und sie von ihren Posten zu entfernen, war es den Gegnern von Milošević von Nutzen, die Rechte und den Elan der Arbeiterselbstverwaltung zu unterstützen. Doch dieser Ansatz wurde nach der „Pseudo-Revolution“ vom Oktober 2000 in Serbien schnell erstickt und liquidiert. Auch im Kosovo konnte man Spuren der früheren Eigentumsrechte bei den Angriffen gegen die von Belgrad auf undurchsichtige Weise in den neunziger Jahren vorgenommenen Privatisierungen auftauchen sehen. Dies trifft z. B., wenn auch auf doppeldeutige Weise, auf ein Interview mit Bahri Shabini, dem Vorsitzenden der Union der unabhängigen Gewerkschaften des Kosovo (BSKP) [8] zu. Dort sagte er mit Blick auf die Entwicklung der Industrie im Kosovo, dass „der größte Beitrag von den Arbeitern des Kosovo geleistet worden ist, gleich ob sie Albaner oder Serben waren. Die in der Zeit von Milošević vorgenommenen Transformationen des Eigentums sind sowohl für die Kosovaren wie für die internationale Gemeinschaft inakzeptabel“. Für die internationale Gemeinschaft? In Wirklichkeit gleichen diese Veränderungen der Eigentumsstrukturen, auch in ihrer etatistischen und klientelistischen Form den in den meisten „Übergangs”-Ländern, die nun Kandidaten für die EU sind, vorgenommenen Übertragungen. Und was die liberalen Führer überall beunruhigen könnte, sind die Angriffe auf die Legitimität der Privatisierungen, die sich angesichts von Schmiergeldern, Korruption, der offensichtlichen Gesetzlosigkeit und Unwirksamkeit dieser Vergeudung des Jahrhunderts überall drohend erheben.


Ändert die Durchsetzung eines Protektorats die EIGENTUMSRECHTE?


Die Streitereien betreffen die Frage der Schulden, die diese Unternehmen bei internationalen Gläubigern kreditiert hatten, als sie noch „gesellschaftliches Eigentum“ waren. Nun werden sie Serbien zugeschustert, weil es die Rechtsnachfolgerin von Jugoslawien sein soll (es soll sich um 1,5 Mrd. Dollar drehen). Wenn aber die EU und die UNO meinen, dass Belgrad über keine Eigentumsrechte an den fraglichen Unternehmen mehr verfügt, dann müssten sie nach aller Logik, bevor sie zum Verkauf schreiten können, sich selbst um die geforderte Schuldenrückzahlung kümmern. Und natürlich fordert Belgrad kohärentes Verhalten ein: Muss es die Schulden übernehmen, weil es rechtmäßiger Eigentümer ist, oder nicht?

Im Jahr 2002 hat die MINUK (die Kosovo-Verwaltung der UNO) die Kosovo Trust Agency (KTA) ermächtigt, unter Kontrolle der EU Privatisierungen vorzunehmen (die als Vermietung von öffentlichen Aktiva auf 99 Jahre versteckt wurden). Im Mai 2003 haben die Verkäufe begonnen und es wurden (bis zum 1. März 2006) Verträge unterzeichnet, die 102 Unternehmen betreffen. Die KTA hat auf der Basis der Aktiva der öffentlichen Unternehmen 240 neue Operationen gestartet und möchte 90% der öffentlichen Gesellschaften des Kosovo privatisieren. Belgrad steht also direkt mit der KTA (und damit der UNO und der EU) in Konflikt.

Mehrere Millionen Euro aus den „Vermietungen“ der KTA sind im Augenblick blockiert, bis ein Urteil des Obersten Gerichtshofes gesprochen ist. Man kann sich jedoch fragen, wer hier Richter und wer Partei ist. Denn es ist von der MINUK ein Sondertribunal beim Obersten Gerichtshof eingerichtet worden, um die gegen die Agentur [9] eingehenden Klagen zu behandeln. Und im Juni 2003 hat die MINUK zur Reduzierung der Risiken entschieden, dass die KTA im Protektorat über die völlige Immunität verfüge. Sie hat sogar von den Vereinten Nationen verlangt, den Mitgliedern der KTA eine Immunität zu verleihen, die in der ganzen Welt für alle Handlungen im Rahmen ihrer Arbeit im Kosovo gelten sollte – was ihr aber am 9. Oktober 2003 verweigert wurde. Die internationalen Repräsentanten der KTA fürchteten, außerhalb des Kosovo vor Gericht gezerrt zu werden, und haben sich geweigert, die Privatisierungsverträge zu unterzeichnen. Und der Direktor der KTA, Jürgen Mendriki, hat – aus „persönlichen Gründen“ – seinen Rücktritt eingereicht.

Die fehlenden Garantien haben viele potentielle Investoren abgeschreckt, obgleich die Bodenschätze des Kosovo bedeutsam sind – die Ressourcen bei den Rohstoffen werden auf 13,5 Mrd. Euro geschätzt. [10] Der Direktor der unabhängigen Kommission für Minen und Mineralien (ICCM), Rainer Hengstmann, schätzt, dass die Braunkohlevorkommen des Kosovo zu den größten Reserven in ganz Europa zählen. In den Minen- und Energiesektor soll bereits fast eine Milliarde Euro geflossen sein; sie kamen von der Weltbank und der Europäischen Agentur für Wiederaufbau (EAW). Aber die EinwohnerInnen und die Fabriken können nicht mit einer regelmäßigen Versorgung mit Energie rechnen (Stromabschaltungen kommen häufig vor).

Das völlige Fehlen von Plänen für das Protektorat auf sozioökonomischer Ebene ist offensichtlich; es gibt eine Arbeitslosenrate von über 50 Prozent. Im Frühjahr 2006 brach ein Skandal bei den französischen Streitkräften der Nordbrigade der KFOR aus, die seit sechs Jahren die Kranken- und die Rentenversicherungen ihrer serbischen und albanischen Zivilangestellten nicht bezahlt hatten [11] – und dies unter dem Vorwand, der Status der Provinz sei ungeklärt.

Nichts konnte bislang die Verhandlungen über den Status der Provinz aus der Sackgasse herausführen. Zu viele Fragen der Region hängen damit zusammen.


Über den Kosovo hinaus: Welche europäischen und universellen Rechte?


Auf direkte Art und Weise in den (Quasi-) Protektoraten (durch Abfassung der Verfassungen oder von Texten, die sie grundlegend verändern) oder indirekte Weise durch die Verhandlungen über eine Aufnahme in die EU „setzen“ die europäischen Institutionen Recht – mit welcher Kohärenz?

Wird das Kosovo-Statut den Vereinbarungen von Ohrid (in Mazedonien) von 2001 gleichen oder der Verfassung von Bosnien-Herzegowina, die aus den Vereinbarungen von Dayton (1995) hervorgegangen ist – die selbst eine Neuauflage von anderen Verhandlungen waren? Oder etwa der Verfassung von Kroatien, deren Sinn durch die massive „ethnische Säuberung“ auf Kosten der SerbInnen aus Kroatien im Verlauf des Sommers jenes Jahres „verdeutlicht“ wurde?

In allen diesen Pseudoreglements gibt es keine Kohärenz und keine egalitären oder solidarischen gesellschaftlichen Gewinne, und somit auch keine mögliche Stabilisierung der neuen Staaten.

Die Verallgemeinerung der Protektorate auf dem Balkan verschafft den euroatlantischen Institutionen eine von außen kommende Rolle – die sichtbarer ist als andernorts–, über die Orientierungen, ja sogar über die anzunehmenden Verfassungen zu bestimmen. Es besteht das Risiko, dass sich jene Abhängigkeit, die mit der Zeit von einigen auch positiv gesehen werden könnte, weil sie heftige Spannungen im Innern im Zaum hält oder Hilfe herbeischafft, sich in ein „Abhängigkeitssyndrom” [12] verwandelt. Dadurch könnte sie zu einer zusätzlichen Quelle von Spannungen und Ablehnungen führen, weil sie als neokolonial angesehen wird oder auch als Ursache der Probleme und nicht als Mittel zu ihrer Lösung. Aber gibt es Instabilität nur auf dem Balkan?

Die Diplomatie der USA hat ab 1995 mit Bosnien-Herzegowina (Abkommen von Dayton und Paris) und in den Verhandlungen von Rambouillet über den Kosovo die jugoslawische Krise genutzt, um die NATO zu erhalten, ihr neue Ziele zu geben und sie einzusetzen, sowie den Aufbau der EU in diesen atlantischen Rahmen einzubeziehen. Das Ziel besteht in der parallelen und koordinierten Integration aller Länder des westlichen Balkans in die NATO und die EU. [13] Darüber hinaus geht es bei diesen Entscheidungen um den Aufbau Europas und die Ausweitung der NATO nach Osteuropa insgesamt.

Wenn alle neuen Mitglieder der EU und die Staaten des westlichen Balkans nun in verschiedenen Formen in die euroatlantischen Beziehungen und militärische Kontrolle einbezogen sind, wird die Integration in die EU, so wie sie ist, noch schwieriger. Die militärische Präsenz ist keine Garantie für eine wirkliche friedliche Annäherung auf der Ebene des Kontinents. Und noch viel weniger für die Fähigkeit, ein europäisches stabilisierendes „Sozialmodell“ aufzubauen. Viele kürzlich erschienene Artikel stellen die Fähigkeit der EU in Zweifel, ihre Versprechungen gegenüber dem „westlichen Balkan“ einzuhalten.

Wie bei allen neuen und alten Mitgliedern der EU drängen sich die sozioökonomischen Fragen in den Vordergrund und wiegen schwer in der allgemeinen Krise der repräsentativen Demokratie. Arbeitslosigkeit und Armut lassen die Menschen sich von einer aktiven Teilnahme am politischen Leben abwenden; sie können sich auf der Suche nach Sündenböcken aber leicht auch für eine fremdenfeindliche Stimmabgabe entscheiden. Das Anwachsen rechtsextremer Parteien bei Wahlen und des Euroskeptizismus in Polen hat einige Gemeinsamkeiten mit den Wahlergebnissen in Serbien – aber auch mit dem Aufstieg der Ideologien von Le Pen in Frankreich. Eine Mehrheit der WählerInnen in Europa geht jedoch nicht zur Urne.

Die Frage der Demokratie, der „souveränen“ Entscheidung steht zugleich im Zentrum der sozialen Fragen (hier und weltweit: Wer entscheidet über die wesentlichen Geschicke der Gesellschaft?) wie auch der „nationalen“ Fragen (Welche Verschiedenheit ist schützenswert?). Der Begriff des „Gemeinwohls“ und des „Erbes der Menschheit“, zusammen mit den kollektiven Rechten des Zugangs zu diesen Gütern machen es erforderlich, dass man auf der jeweils wirksamen Ebene eine gemeinsame Verwaltung erfindet. Das Recht auf Handel und die Privatisierungen sind zu „Zielen“ geworden, statt Mittel zu sein, die frei ausgehandelten Zwecken untergeordnet werden.

Die Gründe für die Schwäche und das Auseinanderbrechen des titoistischen Jugoslawien lagen nicht im Hass zwischen den verschiedenen Ethnien. Sie waren sozioökonomisch und politisch – die nationalen Fragen waren selbst Teil dieser Gemengelagen. Daher kann man im Übrigen hoffen, dass der europäische Rahmen es allen betroffenen Völkern ermöglichen könnte, ihren Platz zu finden, ungeachtet der dunklen Seiten und der Kriege der Vergangenheit. Aber ist die Instabilität der neuen Staaten, die aus der Krise Jugoslawiens entstanden sind, typisch „für den Balkan“ und somit eine Besonderheit – oder symptomatisch für den Aufbau Europas insgesamt, für seine eigene Zerbrechlichkeit?

Das Recht auf Selbstbestimmung muss seinen Sinn (Entwicklung, Ziele, Bedingungen einer „gerechten“ Anwendung) finden: Es ist die Anerkennung der Demokratie, was bedeutet, dass die betroffenen Bevölkerungen die beste Art und Weise bestimmen können müssen, ihre Würde und ihre Rechte zu verteidigen – und eben nicht die Schiedsrichter der Großmächte. Und dieses Recht nimmt immer mehr einen Inhalt an, in dem sich nationale, soziale, kulturelle und politische Rechte gegenseitig bedingen und bereichern. Wer aber sind die „Völker”? Wie kann man die aus den verschiedenen Phasen der Geschichte ererbten Konflikte auf ein und demselben Territorium lösen? Und welches ist die beste Art und Weise, eine Kultur, seine Rechte, seine Würde zu verteidigen?

Für alle diese Fragen gibt es nicht einfach eine juristische Antwort und noch weniger eine universelle. Die Rechtsgleichheit ist das grundlegende Prinzip. Dessen Anerkennung verbietet eine Form von „Selbstbestimmung“ eines gegebenen Volkes, das seine Entscheidung auf dem Rücken einer Minderheit oder mittels Verleumdung anderer Bevölkerungsgruppen durchdrückt. Die historisch geteilten Territorien – was für fast alle Teile des Balkans zutrifft – sind ein gemeinsames Gut und Erbe der Balkanvölker mit all ihren Menschen. Aber wie bei Europa oder dem Planeten gilt auch für den Balkan, dass die Elemente dieses Erbes gemeinsam verwaltet werden müssen, ohne dass man sie in eine Zwangsjacke steckt, die die Diversität der verschiedenen Gemeinschaften mit ihren Facetten, zu denen die Menschen gehören, zum Verschwinden brächte. Die Demokratie, die fähig ist, diese Diversität und diesen Reichtum aufzunehmen, muss erfunden werden und alle Bereiche des täglichen Lebens durchdringen, wo die Bedingungen für eine wirkliche Gleichheit beheimatet sind.

Übersetzung: Paul B. Kleiser



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 424/425 (März/April 2007).


[1] Die frühere jugoslawische Republik Mazedonien (FYROM); Benennung der UNO, weil Griechenland gegen den Namen Mazedonien Einspruch erhob.

[2] Man lese Sami Makki, „Prévention des conflicts et ,paix libérale´ : sécurité et dynamiques d’intégrations transatlantiques en Europe du Sud-Est“, Le débat stratégique euro-américain 2000-2001, in : Cahier d’Etudes Stratégiques 32, Groupe de Sociologie de la Défense de l’EHESS.

[3] In den ersten Volkszählungen der Nachkriegszeit konnten sich die Muslime als Serben, Kroaten oder „nicht zugehörig“ erklären und die Mehrheit kreuzte letzteres an; als in den 1960er Jahren die Möglichkeit geschaffen wurde, Muslim anzukreuzen (in einem säkularisierten, ethnisch-nationalen Sinn), taten sie dies massiv. Die Religion war ein Teil ihrer Geschichte gewesen – wie die Orthodoxie für die Serben und der Katholizismus für die Kroaten. Dies bedeutete jedoch nicht, dass es eine „Verpflichtung zu einer fingierten Identität“ gegeben hätte.

[4] Vgl. Milovan Djilas, Conversations avec Staline (Gespräche mit Stalin), Paris 1962. Zu den Konflikten mit Albanien vgl. Jean-Arnault Dérens, Balkans: la crise, Paris 2000; über die wiederkehrenden Debatten der Linken auf dem Balkan zur Balkan-Konföderation lese man „The Balkan socialist tradition“, in Revolutionary History, Bd. 8, Nr. 3, Porcupine Press, Socialist Platform Ldt., London.

[5] Ich habe die Etappen der Privatisierungen in Jugoslawien in meinem Aufsatz „Réinsérer la Serbie dans l’analyse de la transition“, in: Revue d’études comparatives Est/Ouest, vol. 35. März-Juni 2004, Nr. 1-2, CNRS, S. 116-156 im Einzelnen dargestellt.

[6] Das Haager Tribunal klagte die bosno-serbischen Führer wegen des Massakers von Srebrenica an – was es Slobodan Milošević ermöglichte, an ihrer Stelle in Dayton zu sprechen. Der Kroate Franjo Tudjman starb 2000, ohne angeklagt worden zu sein.

[7] Titel eines Artikels von Arbana Xharra in Prischtina, erschienen am 30. März in der Wirtschaftsbeilage der Tageszeitung Koha Ditore; vgl. Balkan insight, laut Courrier des Balkans vom 5. April 2006.

[8] Vgl. „Transition économique au Kosovo: un processus bloqué“, in: Courrier des Balkans, 23. Mai 2004.

[9] Vgl. „Privatisations au Kosovo: mais à qui appartienent les entreprises?“, IWPR, Courrier des Balkans vom 27. Oktober 2003.

[10] Laut einer Studie der Leitung der Minen und Mineralien des Kosovo und der Weltbank. Vgl. „Richesses minières: le patrimoine inexploité du Kosovo“, IWPR, in: Courrier des Balkans vom 20. Mai 2005.

[11] Vgl. Courrier des Balkans, 13. April 2006.

[12] Vgl. Christophe Solioz und Svebor Dizdarevic (Hrsg.), Ownership process in Bosnia and Herzegovina, Sarajevo 2001; sowie Christophe Solioz, L’après-guerre dans les Balkans – l’appropriation des processus de transition et de democratisation pour enjeu, Ed. Karthala, Paris 2003.

[13] Vgl. Ghoerghe Ciascai, „Quelle approche pour l’OTAN dans les Balkans à la lumière des évolutions de la sécurité dans la région?“ NATO Defense College, Monograph series Nr. 23, hrsg. von Jean Dufourq und Cees Coops, Paris 2005. Siehe auch Fußnote 2.