Die Krise des Kapitalismus. Eine Momentaufnahme der Weltlage

„Eine langanhaltende und allgemeine Krise führt oft zu einer Klärung auf der Weltkarte.“ (Fernand Braudel)

François Sabado

  1. Die Krise dauert bereits über vier Jahre und ist noch nicht zu Ende. Sie hat die ganze Welt erfasst. Sie ist wirtschaftlich, finanziell, sozial, ökologisch. Ihre Besonderheit liegt aber darin, dass die Welt gleichzeitig am Kippen ist.

  2. Zuerst muss dieses Kippen eingeschätzt werden. Es geht dabei nicht um eine vorübergehende Veränderung oder Verlagerung, nach der man nach der Krise wieder zur Normalität zurückkehrt … Um das Ausmaß der Veränderung zu erkennen, kann man sie mit der Zeit zwischen 1760 und 1780 vergleichen, als sich das Gravitationszentrum der Weltwirtschaft von den Niederlanden nach England verlagerte oder mit der Zwischenkriegszeit, als es sich von England in die USA verlagerte. Doch geht es heute nicht mehr bloß um eine kontinentale Veränderung , sondern in wirtschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Hinsicht um eine weltumspannende Veränderung, in der der Westen – Europa und die USA –, der die Welt seit der Entdeckung Amerikas beherrscht hat, seine Hegemonie an neu aufstrebende Mächte oder alte Mächte verliert, die nach vier oder fünf Jahrhunderten zu alter Macht zurückfinden.

  3. In diesen neuen weltweiten Beziehungen befindet sich Europa im Niedergang und die USA verlieren zwar ihre wirtschaftliche, aber noch nicht ihre politisch-militärische Vormachtstellung. Viel hängt davon ab, wie sich die Krise in den USA entwickelt. Doch der Anteil der G7-Länder am weltweiten Bruttoinlandprodukt (BIP), der zu Beginn der 1980er Jahre noch bei 56 % lag, lag 2010 nur noch bei ca. 40 %. Laut Wirtschaftsprognosen werden sich die Kurven der ehemaligen G7-Länder und der BRICS-Länder [1] zwischen 2030 und 2040 kreuzen, selbst was das Durchschnittseinkommen pro EinwohnerIn betrifft. Das Wirtschaftswachstum der letzten zehn bis fünfzehn Jahre – 8 bis 12 % in China und Indien, doch bloß 1–2 % in Europa oder 2–3 % in den USA – oder die weltweiten Reserven kündigen ebenfalls tiefgreifende Veränderungen an.

  4. Diese Entwicklung scheint sich mit der zunehmenden Krise in den USA und Europa noch zu bestätigen. In den USA kann die weitere Verschuldung das Sinken der Löhne nicht mehr wettmachen. Abnahme des Konsums und Überproduktion verstärken sich gegenseitig. Die Tendenz zur Überproduktion in einer Reihe von Sektoren zeichnet sich immer deutlicher ab und dies nicht nur bei den Immobilien, sondern auch im gesamten Industriesektor. Die Arbeitslosigkeit unterliegt nicht mehr nur konjunkturellen Schwankungen, sondern bleibt stabil. Barack Obamas Investitionspläne vermochten die Maschine nicht in Gang zu setzen. Trotz entsprechender Verlautbarungen kam es zu keiner keynesianischen Wende, weil es keine genügend starke Arbeiterbewegung gibt, die den Kapitalisten soziale Kompromisse hätte abringen können. Und vor allem darf nicht vergessen werden, dass es der Zweite Weltkrieg war, der den USA und Europa nach der Krise von 1929–1935 den Wiederaufschwung brachte und nicht die keynesianischen Rezepte. Trotz aller Reden über die moralische Verantwortung des Kapitalismus ist die Finanzwirtschaft weiterhin die kapitalistische Antwort auf den Fall der Profitrate in der Industrie. Als Folge davon geht die Entwicklung weg von der Industrie weiter. Die US-Wirtschaft hält heute durch dank der Stärke des Dollars, dank des Umstands, dass die Bundesbank immer noch flüssige Mittel zur Verfügung stellt und weil die amerikanische Währung beim Kauf von Staatsanleihen und Obligationen durch chinesische, japanische und Golfstaaten-Fonds weiterhin die Referenzwährung darstellt. Die USA verfügen immer noch über die politisch-militärische Vorherrschaft, die aber im Vergleich zu den ersten Jahren dieses Jahrhunderts an Kraft verloren hat: Niederlagen im Irak und in Afghanistan, geringere Interventionskraft in den arabischen Revolutionen. Ihr Ziel ist es nun, sich auf eine verstärkte Präsenz als Friedensmacht vorzubereiten!

  5. In Europa hingegen kann die Krise Formen des Zerfalls annehmen. Der Grund dafür ist die schwache Stellung in der weltweiten Konkurrenz. Deutschland bleibt eines der wichtigsten Exportländer – 2010: 47 %, Japan 15 %, China 30 % des BIP [2] – aber auch dieses Land ist vom Rückgang des Weltmarkts betroffen. Auch um ihre Stellung gegenüber der weltweiten Konkurrenz zu stärken, wollen die herrschenden Klassen Europas alles liquidieren, was vom „europäischen Sozialmodell“ noch übrigbleibt. Es gibt noch zu viel Soziales, es muss ausgemerzt werden. Dies ist der Grund für die Offensive der Spekulation auf den Märkten Europas. Die „Märkte“ – dabei geht es um materielle Realitäten wie die der Banker, der Vorstände von Pensionskassen, der Direktionen internationaler Konzerne – fordern mit Lohnsenkungen, mit der Liquidation der Sozialversicherungen und mit längeren Arbeitszeiten eine Erhöhung der Mehrwertrate. Deshalb die brutalen Sparpolitiken – es wird die Anpassung der Arbeitskraft an den Weltmarkt angestrebt, der sich aus den sozialen Beziehungen in den aufstrebenden Wirtschaftsmächten ergeben hat. Dafür muss in den kommenden Jahren die Kaufkraft um 10 bis 15 Punkte sinken.
    Hinzu kommt die Art des politischen Konstrukts Europa, das der Krise ihren explosiven Charakter verleiht, der zum Zerfall führen kann. Ein Konstrukt mit unterschiedlichen Volkswirtschaften oder unterschiedlichen Werdegängen, was zu unterschiedlichen Gruppierungen in der EU geführt hat: 1. Deutschland, die Niederlande, Österreich, Nordeuropa, 2. die Peripherie in Südeuropa – mit Irland die PIGS – und 3. Frankreich in der Mitte. Die französisch-deutschen Beziehungen sind der Ausdruck der wirtschaftlichen, politischen und institutionellen Lage in Europa. Doch dieses Europa ist ohne Staat, ohne Führung, ohne Entwicklungsplan und ohne Plan, wie die Krise überwunden werden kann. Die heutige Lage zeigt einmal mehr, dass die europäischen Bourgeoisien historisch nicht in der Lage sind, Europa zu vereinen. Ein Auseinanderbrechen der EU ist möglich und schon denkt man an die alte Idee Balladurs, an ein Europa aus konzentrischen Kreisen: Deutschland und die reichsten Länder einerseits und der Süden und einige Länder Osteuropas oder Südosteuropas anderseits. Frankreich und Italien sind das Problem, denn wenn Italien absackt, sackt ganz Europa ab. Sie wollen diese Länder an Deutschland anbinden, aber das setzt extrem brutale Sparpläne voraus … Dies wird die Krise weiter verstärken und das Wachstum auf ein Prozent begrenzen. Diese Situation wird eine Zeitlang andauern, doch mit der ständigen Gefahr sozialer Explosionen und vorrevolutionärer Situationen wie in Griechenland. Dies umso mehr, als der undemokratische Charakter der EU auf politischer Ebene von der Entstehung autoritärer Tendenzen begleitet wird, die mit den Interventionen der Finanzmärkte organisch verbunden sind. Die Italien und Griechenland von der EU aufgezwungenen Regierungschefs legen davon Zeugnis ab. Das Erstarken der Rechten und der extremen Rechten zeigt, dass die Entwicklung Richtung autoritäre Lösungen geht. Bündnisse der Parteien der parlamentarischen Rechten oder von Teilen davon mit der extremen Rechten können nicht mehr ausgeschlossen werden. Mehr denn je ist Markt nicht gleich Demokratie, ganz im Gegenteil.

    Hier komme ich nun bereits zur Frage, welche Politik gegenüber der EU einzuschlagen ist.

    Gegenüber der EU muss eine Politik des Bruchs, der Gehorsamsverweigerung gegenüber den Verträgen verfolgt werden statt einer Politik, die eine Reformierung der EU anstrebt. Wir müssen die Frage beantworten, was dieser Europa-Krise entgegengesetzt werden soll: die Abkehr von der Globalisierung, nationaler oder europäischer Protektionismus, der Austritt aus dem Euro oder der Bruch oder eine neue internationalistische, soziale und demokratische Politik im Dienst der Lohnabhängigen. Das würde bedeuten, erneut die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa als Ziel zu formulieren.

    Damit wäre das Problem aber noch nicht gelöst. Zum Beispiel Griechenland: Die Explosion Griechenlands und die brutalen Angriffe der EU führen dazu, dass dieses periphere Land wie eine neue Kolonie behandelt wird. Die fehlende europäische Solidarität mit den Griechinnen und Griechen sowie die historisch nationalistischen Traditionen der griechischen Linken haben zur Folge, dass die griechische Linke – Syrisa und Antarsya– als Teil eines antikapitalistischen Programms den Austritt aus der Euro-Zone fordert.

  6. Kann China in dieser eng verflochtenen Weltwirtschaft diese retten? Kann China sich losgelöst von der Weltwirtschaft entwickeln? Laut Prognosen erreicht das Bruttoinlandprodukt zwischen 2020 und 2030 jenes der USA. Das ist beträchtlich. Als zweitstärkste Wirtschaft der Welt vor Japan ist sie 2010 zur ersten Industriemacht der Welt vor den USA aufgestiegen (China: 19,8 % der Industrieproduktion weltweit; USA: 19,4 %). [3]

    Beim Bruttoinlandprodukt pro EinwohnerIn muss in China zwischen einzelnen Zonen unterschieden werden.

    I. Die Küstenregionen: BIP: 5000 – 10 000 $ pro EinwohnerIn (Zum Vergleich: in Brasilien liegt das BIP bei 10 000 $ pro Einw.)

    II. Peking und Schanghai: 10 000 $

    III. Das Zentrum: unter 5000 $

    Das gesamte BIP Chinas beläuft sich auf 6000 Mrd. Dollar. China ist militärisch, beim Kapitalexport, beim ungleichen Tausch mit den Ländern Afrikas und Lateinamerikas und insbesondere beim Erwerb von einigen Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbaren Landes dabei, eine imperialistische Macht zu werden. Doch ist sie zu schwach, um mit einer Massenproduktion und einem Massenkonsum in einem bestimmten Industriebereich die amerikanische oder die Weltwirtschaft anzukurbeln. In der chinesischen Wirtschaft besteht ein Ungleichgewicht zwischen einer sehr niedrigen Konsumrate (35 % des BIP), während diese in den USA bei 70 %, in Indien bei 60 % und der weltweite Durchschnitt bei 60 % liegt, und einer Investitionsrate von 45 %, während diese in den USA lediglich 15 % und der weltweite Durchschnitt 22 % beträgt.

    De facto ist China weiterhin stark vom Weltmarkt und vom Export abhängig. Das Land legt die Priorität auf den Aufbau seines Binnenmarktes, wozu Lohnerhöhungen nötig sind, sowie auf minimale soziale Sicherheit. Deshalb kommt es vermehrt zu Kämpfen für Lohnerhöhungen und für besseres Wohnen.

    Was die Abkoppelung betrifft, gilt es auch hier, vorsichtig zu sein wegen der gegenseitigen Abhängigkeit der einzelnen Volkswirtschaften im Rahmen der Globalisierung. Aber auch hier kann die Krise im Westen dazu führen, dass sich die Wachstumsrate um 1–3 % verlangsamt oder sinkt, was jedoch die Hauptrichtung der Entwicklung nicht in Frage stellt.

    Zwei Schlussfolgerungen:

  7. In dieser Krise wird die Weltkarte neu gezeichnet, die Konkurrenz tobt weiter. Die Krise in Europa lässt sich ohne dieses Kippen der Welt nicht erklären. Sie wollen den europäischen Arbeitsmarkt dem Weltmarkt anpassen. Weltweit entstehen neue Beziehungen. Von den Beziehungen zwischen China und den USA haben wir bereits gesprochen. Lateinamerika ist heute geprägt von der Macht Brasiliens und an zweiter Stelle von derjenigen Argentiniens. In der Wiederverwendung des Begriffs Unterimperialismus kommt dieser rapide Aufstieg Brasiliens zum Ausdruck. Dieses Land ist heute mit seinen großen internationalen Konzernen wie Petrobras und Gerdau, mit seinen riesigen Wasserwerken und seiner Finanzmacht die Hauptstütze der lateinamerikanischen Wirtschaft. In den engen aber konfliktreichen Beziehungen zu den USA konnte Brasilien einige Male punkten. Von den drei Arten von Regimen – die reaktionäre Rechte mit Kolumbien und Mexiko, der antiimperialistische nationalistische Weg mit Venezuela, Ecuador und Bolivien und das andere Amerika von Lula (heute Dilma Rousseff) und Kirchner – dominiert letzteres haushoch. Vor sieben, acht Jahren war das nicht vorauszusehen.

  8. Wie steht es in dieser Situation mit der Arbeiterbewegung, der Linken? Bis heute und in über vier Krisenjahren gab es keine Antworten, die den kapitalistischen Angriffen ebenbürtig gewesen wären.

    Doch die Krise provoziert. Es kam zu Reaktionen, Widerstandsaktionen, Kämpfen, Streiks, selbst zu vorrevolutionären Situationen wie in Griechenland. Neue Bewegungen sind entstanden wie „die Empörten“, doch zwischen der explosiven Lage und der politischen und organischen Aktion dieser Bewegungen klafft eine große Lücke: Gewerkschaften, reformistische Parteien, radikale Linke, revolutionäre Linke oder Linksströmungen in bestehenden Organisationen sind nicht gewachsen oder stärker geworden, es sind auch keine neuen Organisationen entstanden. Es gibt neue Organisationsformen, aber sie sind noch zu unstabil. Seit es kapitalistische Krisen gibt, hat es noch nie eine so tiefe Krise des kapitalistischen Systems gegeben und gleichzeitig eine ArbeiterInnenbewegung, die gegenüber dieser Krise so schwach war, mit Ausnahme jener Jahre, als die ArbeiterInnenbewegung entweder durch den Faschismus oder Militärdiktaturen physisch liquidiert wurde.

    Mehrere Faktoren erschweren die Lage der ArbeiterInnenbewegung:

  9. Hier möchte ich auf die revolutionären Prozesse in der arabischen Welt zurückkommen. Zuerst einmal handelt es sich um Revolutionen in dem Sinn, dass „die Massen auf die soziale und politische Bühne treten“, es handelt sich um demokratische und soziale Revolutionen. Der Prozess ist von dem Moment an zu einer Grundwelle geworden, als die Bewegungen erste Siege erringen konnten, die noch wenige Wochen vorher für völlig unmöglich gehalten worden wären: in unserem Fall der Sturz von Ben Ali und Mubarak. Der Druck der Massen ist da und wird anhalten. Es gab Fortschritte und Rückschritte, doch in der ganzen Region gibt es eine Wechselwirkung. Eine solche Dynamik von „Kettenreaktionen“ vermag teilweise die Schwächen in den einzelnen Ländern wettzumachen. Doch auch hier stimmen revolutionärer Prozess und seine politische „demokratische und soziale“ Umsetzung nicht überein. Die Schwächen der fortschrittlichen Kräfte und erst recht der klassenkämpferischen Strömungen sind die Folge von Jahrzehnten der Diktatur, der Niederlagen des arabischen Nationalismus und der nationalistischen oder sozialisierenden Linken, der neoliberalen Reformen, der Erstarkung der islamistischen Bewegungen. Letztere treten als Opposition zu den gestürzten Regime auf. All dies führt momentan zu Wahlsiegen der Islamisten, was die imperialistischen Länder mit Wohlwollen betrachten oder unterstützen und bei denen die Golfstaaten wie Katar aktiv eingreifen. In den islamistischen Bewegungen gibt es ebenfalls Differenzierungsprozesse. Einige haben die türkische AKP zum Vorbild. Zwischen diesen bis zu den Salafisten besteht eine ganze Palette reaktionärer Strömungen. Doch der demokratische und soziale Druck besteht zweifellos. Er wird in der arabischen Welt weiter wirken. In Ägypten stimuliert er die Entwicklung von Arbeitskämpfen, die Entstehung neuer unabhängiger Gewerkschaften oder ein Erstarken der Linken. Dank dieses Drucks können mit dem reaktionären Charakter der religiösen Parteien konkrete Erfahrungen gemacht werden. Doch all dies bringt zum heutigen Zeitpunkt viel weniger auf die Waage des Kräfteverhältnisses als die islamistischen Bewegungen.

  10.       
    Weitere Artikel zum Thema
    Eric Toussaint: Griechenland muss mit der Troika brechen und die Schuldenzahlungen einstellen, Inprekorr Nr. 3/2012 (Mai/Juni 2012) (nur online)
    Claudio Katz: Ein weltweites Schachspiel, Inprekorr Nr. 2/2012 (März/April 2012)
    Eric Toussaint und Damien Millet: Unser AAA: Audit, Aktion, Andere Politik, Inprekorr Nr. 2/2012 (März/April 2012)
    Isaac Johsua: Krise: Die Stunde der Wahrheit, Inprekorr Nr. 6/2011 (November/Dezember 2011)
    Charles-André Udry: Occupy Wallstreet – Entsteht ein „neuer sozialer Block“?, Inprekorr Nr. 6/2011 (November/Dezember 2011)
    ANTARSYA: Die Gipfelbeschlüsse bringen neue Memoranden und neue mittelfristige Programme, Inprekorr Nr. 5/2011 (September/Oktober 2011)
    Eric Toussaint: Die Schulden in den wichtigsten Industrieländern und Ansätze für Alternativen, Inprekorr Nr. 3/2011 (Mai/Juni 2011)
     
  11. Doch sind diese „fehlenden Übereinstimmungen“ oder „zeitlichen Verschiebungen“ zwischen dem sozialen Widerstand und den schwachen Kräften der radikalen Linken nicht ein Kennzeichen der neuen Periode, die wir erleben? Müssen wir die Probleme als ein Kippen der Welt in eine neue historische Phase verstehen nach mehreren Jahrhunderten der Herrschaft durch Europa und die USA? Wenn es strukturelle Veränderungen des Kapitals auf Weltebene gibt, einen neuen Platz für die Nationalstaaten in der Globalisierung, eine strukturelle Krise der parlamentarischen Demokratie, eine Tendenz zur Integration der Gewerkschaften (Trotzki sprach bereits 1940 von dieser Tendenz), eine Entwicklung hin zu autoritären Regimen? Kann all dies ohne Folgen für die Realität der ArbeiterInnenbewegung, für den Platz der Parteien bleiben? Geht für die europäische ArbeiterInnenbewegung, wie sie am Ende des 19. Jh. entstanden ist und während des ganzen 20. Jh. bestanden hat, nicht ein historischer Zyklus zu Ende? Zerstören die Globalisierung und die Krise des Nationalstaates nicht das Fundament der Parteien und Gewerkschaften, wie sie sich in diesen zwei Jahrhunderten herausgebildet haben?

    Wir leben immer noch und mehr denn je in einer Zeit des Kapitals, das den Kampf der Klassen, deren Widerstand, deren Organisationen am Leben erhält. Am wahrscheinlichsten ist es jedoch, dass neue Organisationen entstehen werden, die selbstverständlich Verbindungen zur Vergangenheit haben, doch grundsätzlich neu sind und vor allem aus neuen Generationen bestehen werden.

    Die Revolutionäre und insbesondere die TrotzkistInnen haben aber auch eine historische Verantwortung. Wir haben eine Linie des Widerstandes, der Einheitsfront gegen die Krise oder die Sparpolitik und Bezüge zum revolutionären Programm bewahrt. Aber wir sind hin und her gerissen zwischen einer Rückkehr zur klassischen revolutionären Linken – zur radikalen Linken der 1960er Jahre oder zur Beibehaltung von Bewegungen, die in den 1930er Jahren entstanden sind – und dem Druck linksreformistischer Organisationen oder Strömungen. Wir haben bereits diskutiert, ob wir nicht aus historischen Gründen aufhören sollten, uns als „Linksopposition zum Stalinismus“ zu sehen. Der Stalinismus ist zusammengebrochen, aber Achtung, es gibt noch nachstalinistische Parteien, auch wenn sie stark geschwächt sind. Doch es gelingt uns nicht, Ideen hinter uns zu lassen, die von der Situation der Linksopposition geprägt sind. Es fällt uns schwer, das ganze Ausmaß einer umfassenden Neuorganisierung der ArbeiterInnen- und sozialen Bewegung zu erfassen. Es fällt uns schwer, ein neues und unabhängiges Projekt zu definieren, mit dem wir gleichzeitig auch Politik machen könnten. Es fällt uns schwer, ein langfristiges unabhängiges Projekt zu formulieren. Das würde auch bedeuten, dass wir ein Programm für das 21. Jh. schreiben müssten. Die IV. Internationale hat ein neues ökosozialistisches Programm zu diskutieren begonnen. Wir stehen noch am Anfang. Eine solche Diskussion müsste zum Beispiel zur Forderung nach dem Ausstieg aus der Atomtechnologie führen. Was bedeutet dies für die Neuformulierung eines Übergangsprogramms? Müssen wir erneut die Frage der Demokratie diskutieren, die Beziehungen zwischen direkter und repräsentativer Demokratie, zwischen der Demokratie in den Fabriken und der Demokratie in den Gemeinden und über die strategischen Achsen einer Machteroberung durch die ArbeiterInnen? Kurz, die groben Züge eines Befreiungsprojekts, in dessen Zentrum die Selbstaktivität der ArbeiterInnen steht? Der programmatische Zusammenhalt, den wir im letzten Jahrhundert besaßen oder von dem wir glaubten, ihn zu besitzen, und der die Stärke der Trotzkisten war, jede Strömung auf ihre Art, wird den Herausforderungen des 21. Jh. nicht gerecht. Wir haben programmatisch, politisch und strategisch an Substanz verloren. Alles Elemente, die für den Aufbau einer politischen Formation fundamental sind, die heute den RevolutionärInnen wegen der Beschleunigung der Geschichte Mühe bereiten.

    Mehr Fragen als Antworten.

François Sabado ist Mitglied des Exekutivbüros der 4. Internationale und Mitglied der NPA (Nouveau parti anticapitaliste) in Frankreich.

Übersetzung: Ursi Urech



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 2/2012 (März/April 2012).


[1] Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika

[2] http://data.worldbank.org/indicator/NE.EXP.GNFS.ZS

[3] http://lexpansion.lexpress.fr/economie/la-chine-devient-la-premiere-puissance-manufacturiere-du-monde_250549.html

[4] Im Sinne von neoliberal gewordenen sozialdemokratischen Parteien – d. Red.