Feminismus

Bolschewiki und Feminismus: Eine turbulente Beziehung

Im Februar 1917 hat eine Frauendemonstration die Lunte an das Pulverfass der russischen Revolution gelegt. Feministische Forderungen waren für die revolutionären Führungen damals keineswegs ein wichtiges Thema.

Marijke Colle

Am 13. März 1881 gelang nach zehn gescheiterten Attentatsversuchen die Ermordung von Zar Alexander II. Sofja Lwowna Perowskaja hat bei der Vorbereitung des Anschlags geholfen. Sie wurde zusammen mit anderen Verschwörer*innen zum Tode verurteilt und am 15. April 1881 in St. Petersburg gehängt. Sie war Mitglied der terroristischen revolutionären Organisation Narodnaja Wolja (Volkswille oder Volksfreiheit), deren Mitglieder und Anhänger*innen „Narodniki“ (Volkstümler, Volksfreunde) genannt wurden. Sie wollten „dem Volk dienen“, hauptsächlich den armen Bauern. Die Bewegung hoffte, einen speziell auf Russland zugeschnittenen Weg zur Revolution zu finden. Ihr Ziel war eine Gesellschaft, in der die Souveränität auf kleinen, autonomen wirtschaftlichen Einheiten beruhen würde, den Dorfgemeinschaften, die untereinander in einer Konföderation verbunden an die Stelle des Staates treten.

Wera Iwanowna Sassulitsch (1849‒1919) schloss sich als Studentin zunächst den Narodniki an. Im Jahr 1880 ging sie in die Emigration und arbeitete mit Georgi Plechanow (1856‒1918) zusammen. Sie gründete mit ihm die erste marxistische Gruppierung der russischen Arbeiterbewegung [die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ (1883), Anm. d. Ü.]. Sie traten für die Bildung einer revolutionären proletarischen Partei ein und stellten sich gegen die Strategien der Narodniki.

Das damalige Russland mit seinem zaristischen Regime war ein rückständiges und noch weitgehend feudalistisches Land. Nach der Freilassung der Leibeigenen durch Zar Alexander den II. im Jahr 1861 erhielt jeder Bauer ein Stück Land im Umfang von 3,5 Dessjatinen (etwa vier Hektar). Den Preis des Bodens zahlte der Staat an die früheren Eigentümer und ließ sich diesen vorgestreckten Betrag in 49 Jahresraten von den neuen Eigentümern zurückerstatten.


Die Revolution 1905


Mit dem „roten Sonntag“, dem 22. Januar 1905 begann die Revolution, die nach zehn Monaten das Versprechen einer Verfassung erreichte. Während der Revolution war die gesamte Gesellschaft in Bewegung und in Aufruhr. Auch die Frauen waren dabei. Es bildete sich ein „bürgerlicher“ Feminismus mit Forderungen zur Frauenemanzipation heraus: Stimmrecht, gleiche Löhne, Bildung usw. Die Sozialdemokrat*innen, wie die marxistischen Revolutionär*innen sich damals nannten, unterstützten diese Forderungen, lehnten jedoch jegliche Zusammenarbeit oder Bündnisse mit den „bürgerlichen Feministinnen“ ab. Es gab keine tiefgehende Analyse der bürgerlich-feministischen Auffassung von der Unterdrückung der Frauen. Das kleinste Anzeichen von Interesse für die Probleme der Frauen oder die kleinste Aktivität in Richtung Frauen wurde mit bürgerlichem Feminismus gleichgesetzt.

Während des ersten allrussischen Frauenkongresses im Jahr 1908 bildete Alexandra Kollontai – unterstützt von Lenin – eine Gruppe von Arbeiterinnen, die daran teilnahm. Das Zentralkomitee der Partei stimmte für eine Resolution, die sich für getrennte politische und gewerkschaftliche Organisationen der Frauen aussprach, aber den Charakter dieser Organisationen nicht näher bestimmte; diese Resolution stand nur auf dem Papier. Die Oktoberrevolution trat ein, ohne dass die sozialdemokratische Partei eine Theorie zur Organisierung der Frauen formuliert hätte.


Die Lage der Frauen vor der Revolution 1917


 

Frauentag 1917 in Petrograd

23.2./8.3.1917, Foto: Unbekannt (Sovfoto)

Die moderne Großindustrie war im russischen Reich vor 1917 stark konzentriert, in gigantischen Werken waren über 1000 Arbeiter beschäftigt, sie machten 41 % der gesamten Industriearbeiterschaft aus, während es in den USA damals 17 % waren. Westlichen Kapitalisten gehörte im Durchschnitt die Hälfte der Investitionen. Die russische Bourgeoisie war schwach und von den herrschenden Klassen Englands und Frankreichs abhängig.

Die Lage der Arbeiter*innen war schrecklich. Die Unternehmen „importierten“ ganze Arbeiterfamilien, sie schliefen in schnell errichteten Baracken oder behelfsmäßigen Schlafstellen neben den Maschinen. Die große Mehrzahl der Beschäftigten war nicht qualifiziert und konnte vielfach weder lesen noch schreiben.

War die Lage der Arbeiter schon elendig, so war die Lage der Arbeiterinnen noch schlimmer. Sie verdienten im Durchschnitt die Hälfte der Männerlöhne. 1913 arbeiteten die Frauen 12 bis 13 Stunden pro Tag. In der Textilindustrie arbeiteten sie 13 oder 14 Stunden lang, die Verkäuferinnen und Angestellten in den Läden hatten Arbeitstage von 16 bis 18 Stunden. Arbeiterinnen, die schwanger wurden, riskierten ihr Leben. Es gab keinen Mutterschaftsurlaub, in jedem Jahr starben 30 000 Frauen bei der Geburt.

In Russland war eine Frau, die nicht von ihrem Ehemann geschlagen wurde, eine Ausnahme. Gesetzlich war das ausdrücklich erlaubt. Die Frauen hatten nicht das Recht zu erben, sie waren vom Gesetz her allen erwachsenen Männern der Familie untergeordnet. Auf dem Land ist die Bauernfrau fast so etwas wie ein Arbeitstier. 1914 konnte ein Drittel der Frauen lesen, unter den Arbeiterinnen und Angestellten lag der Anteil höher. Sexuelle Belästigung bei der Arbeit war gang und gäbe. Zahllose Frauen mussten sich prostituieren, um zu überleben oder eine Anstellung zu bekommen.


Beteiligung an der Revolution


Die Arbeiterinnen hatten sich schon 1905 aktiv an der revolutionären Bewegung beteiligt. Alexandra Kollontai (1872‒1952) schrieb: „Die Arbeiterinnenbewegung ist schon von ihrem Charakter her Teil der allgemeinen Arbeiterbewegung. (…) Die Beteiligung an der Arbeiterbewegung bringt die Arbeiterin ihrer Befreiung näher, nicht nur als Verkäuferin ihrer Arbeitskraft, sondern auch als Frau, Ehefrau, Mutter und Hausfrau.“ Sie stellt aber auch fest: „Sobald die Streikwelle sich gelegt hatte und die Arbeiter zur Arbeit zurückgekehrt waren, wenn sie gesiegt oder wenn sie eine Niederlage erlitten hatten, waren die Frauen wieder vereinzelt und isoliert.“

Am 23. Februar 1917 [8. März nach dem im restlichen Europa geltenden gregorianischen Kalender – Anm. d. Web-Red.] zogen mehrere Demonstrationszüge von Studentinnen, Angestellten, Textilarbeiterinnen aus Anlass des internationalen Frauentags von der Vorstadt Wyborg in das Zentrum von Petrograd, um Brot zu fordern. Sie bekamen die Unterstützung von Industriearbeitern, die von der Arbeit weggingen und sich den Demonstrantinnen anschlossen. Die wenigen führenden Revolutionäre, die sich damals in Petrograd aufhielten, verhielten sich zu dieser spontanen Volksbewegung vorsichtig: Wie der Bolschewist Alexander Schljapnikow, Mitglied des Zentralkomitees, hatten sie die Einschätzung, dass es sich eher um einen Hungeraufruhr als um den Ausbruch der Revolution handelte.

Alexandra Kollontai

Um 1900, Foto: Unbekannt (Sovfoto)

 

1917 waren 43 % der Industriearbeiterschaft weiblich. Mit Beginn der Revolution organisieren sich die Frauen, sie veröffentlichen ihre Forderungen. Soldatenfrauen bildeten Komitees, im Mai traten Tausende von Petrograder Waschfrauen in den Streik und durchbrachen damit den Arbeitsfrieden, für den Kerenskis Provisorische Regierung, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre eintraten.

Im März 1917 wurde der Vorschlag, es solle ein Frauensekretariat (einzig und alleine für technische Aufgaben und Propaganda unter Frauen!) gebildet werden, um der Propaganda der bürgerlichen Feministinnen entgegenzuwirken, von der bolschewistischen Partei abgelehnt. Jede Form autonomer Organisierung der Frauen wurde weiter als Unterstützung für den bürgerlichen Feminismus betrachtet.


Shenotdel und nicht-gemischte Organisierung


Auf der Petrograder Frauenkonferenz im November 1917 wurde eine Resolution für ein Frauensekretariat wiederum abgelehnt, erst auf dem Allrussischen Kongress der Arbeiterinnen und Bäuerinnen, der im November 1918 in Moskau stattfand, wurde die Bildung eines landesweiten Netzwerks zur Organisierung von Frauen beschlossen.

Die Umstände des Bürgerkriegs drängten auf eine besondere Arbeit, die auf die Frauen abzielte. Konkordija Nikolajewna Samoilowa (1876‒1921) sprach sich 1918 für getrennte Frauenkonferenzen aus, denn in den gewöhnlichen, „gemischten“ Versammlungen konnte man nicht über die Probleme der Frauen sprechen, denn … es kamen keine Frauen dorthin. Diese getrennte Organisierung wurde jedoch als eine vorübergehende Lösung betrachtet.

Nach dem Ersten Allrussischen Kongress der Arbeiterinnen und Bäuerinnen Mitte November 1918 in Moskau wurde mit dem Aufbau eines Frauennetzwerks in allen Gremien der Partei begonnen. Diese Frauengruppen wurden 1919 in „Frauenabteilungen“ umbenannt (russisch: Shenskij otdel, Kurzform: Shenotdel). Sie erhielten die Befugnis, organisatorische Initiativen zu ergreifen, bekamen Räume in den Dörfern und Stadtteilen und sie gaben spezifische Veröffentlichungen heraus. Sie organisierten Versammlungen und setzten sich in der Partei, den Gewerkschaften und den Sowjets für die Interessen der Frauen ein.

Die Bolschewist*innen gingen in der Praxis weiter als in der Theorie. Während des Bürgerkriegs wurden Konferenzen von parteilosen Frauen organisiert, Delegiertenversammlungen zur Organisierung von politisch-sozialer Arbeit abgehalten, über die mit Treffen nur für Frauen die Sowjetmacht und die neue Lebensweise in den Massen verankert werden sollte. Die Delegierten ‒ Arbeiterinnen, Bäuerinnen und Hausfrauen ‒ wurden für drei Monate gewählt, sie nahmen an politischen Schulungskursen teil, damit sie dann Ämter im örtlichen Sowjet übernehmen konnten. Zu dem Delegiertensystem gehörten schließlich über drei Millionen Frauen. Es handelte sich allerdings zu keiner Zeit um eine kohärente und unabhängige Bewegung. Die Angst vor zu großen Handlungsspielräumen der Shenotdel blieb ständig vorhanden.

 

Literaturhinweise

(wd) Der Beitrag der belgischen Genossin stützt sich vorwiegend auf zwei Veröffentlichungen auf Französisch: einen Beitrag der britischen sozialistisch-feministischen Historikerin Alix Holt [1], der 1979 in dem Verlag der LCR in einem Sammelband erschienen ist, von dem fünf Jahre später im ISP-Verlag eine deutsche Ausgabe herausgekommen ist, und das im Herbst 2017 erschienene Buch des französischen Historikers Jean-Jacques Marie über Frauen und russische Revolution, der viele zeitgenössische und neuere russischsprachige Quellen und Untersuchungen ausgewertet hat. [2]

1978 erschien eine Untersuchung des US-amerikanischen Historikers Richard Stites über die russische Frauenbefreiungsbewegung in den sieben Jahrzehnten von 1860 bis 1930, die als Standardwerk gilt. [3] Andere Beiträge zum Thema marxistische Bewegung in Russland und „Frauenfrage“ vor der Oktoberrevolution und im ersten Jahrzehnt danach liegen in Form von vier auf Englisch verfassten Biographien zu führenden Bolschewistinnen und Repräsentantinnen eines kommunistischen Feminismus, der so nicht genannt werden wollte, mit den Anfängen der Frauenabteilungen (Shenotdel) in der Periode des Interventions- und Bürgerkriegs (1918‒1921) vor: drei 1979 bzw. 1980 veröffentlichte über Alexandra Kollontai von feministischen Historikerinnen aus den US A bzw. England und eine über Inès oder Inessa Armand, die ein kanadischer Spezialist für die russische marxistische Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg kurz nach dem Ende der UdSSR veröffentlicht hat. [4]

Ein umfassenderer sozialhistorischer Ansatz, bei dem neuere Fragestellungen aus der Genderforschung aufgegriffen werden, wird in den Untersuchungen der US -amerikanischen Sozialwissenschaftlerin Elizabeth A. Wood aus dem Jahr 1997 [5] und in der Dissertation der Schweizer Historikerin Carmen Scheide [6] verfolgt. Beide beschäftigen sich mit den Verhältnissen der nachrevolutionären Gesellschaft in Sowjetrussland bzw. in Moskau.

Immer noch lesenswert ist der Essay einer anderen Schweizerin, von Jacqueline Heinen, in dem sie sich mit Alexandra Kollontais theoretischen Analysen der Frauenunterdrückung, die Rolle der Frauen in der Ökonomie, Fragen der Moral usw. in den Vorlesungen, die sie von Februar bis Juli 1921 hielt, auseinandergesetzt hat und der zuerst in Critique communiste, der theoretischen Zeitschrift der LCR, und auf Englisch in new left review erschienen ist. [7]

Die Diskussion blieb auf das Problem der Organisierung der Frauen innerhalb der bolschewistischen Partei beschränkt. Die Bolschewiki haben sich nie von dem Korsett der Denkweise der deutschen Sozialdemokratie auf diesem Gebiet freigemacht: „Es gibt keine gesonderte Frauenbewegung.“


Frauenforderungen und radikale Gesetzgebung


Mit der neuen Verfassung des jungen Sowjetstaats wurde die Zivilehe eingeführt und die Gleichheit von Männern und Frauen proklamiert, das Gesetz machte keinen Unterschied mehr zwischen illegitimen und legitimen Kindern und Ehescheidung im gegenseitigen Einverständnis (oder auf Verlangen eines der beiden Gatten, ohne dass ein Beweis oder ein Zeuge bzw. eine Zeugin nötig wäre) wurde offiziell. Ehebruch und Homosexualität wurden aus dem Strafgesetzbuch und die Autorität des Familienoberhaupts aus dem Zivilgesetzbuch gestrichen. Das Frauenstimmrecht wurde eingeführt. Im neuen Arbeitsgesetzbuch waren Mutterschaftsurlaub, gleiche Entlohnung und besondere Schutzmaßnahmen für Frauen enthalten, der Arbeitstag wurde auf 8, die Arbeitswoche auf 48 Stunden begrenzt, eine Sozialversicherung wurde eingeführt.


Sozialisierung der Hausarbeit galt als Hauptmittel zur Frauenbefreiung


Für Alexandra Kollontai, für die Leiterinnen der Arbeit unter den Frauen und für bestimmte führende Bolschewiki wie Trotzki und Lenin wird der Charakter der Hausarbeit sich mit der Industrialisierung, durch den Eintritt der Frauen in die Arbeitswelt und durch die Sozialisierung der Hausarbeit wandeln. Das galt als eine Frage, die für den Übergang unmittelbar wichtig war. Die Sozialisierung der Hausarbeit durch Gemeinschaftseinrichtungen wurde als die Hauptmaßnahme zur Befreiung der Frauen aufgefasst. Die Partei sprach sich für die Einrichtung von öffentlichen Kantinen, Kinderkrippen und Kindergärten aus.

Im November 1920 wurde ein Gesetz erlassen, mit dem die Abtreibung freigegeben wurde. Dies wurde jedoch nicht mit der Frage der Verhütung verknüpft, dem besten Mittel, um Abtreibungen zu vermeiden. Die meisten Ärzte und Ärztinnen waren für das Abtreibungsgesetz, es wurde jedoch vielfach nur widerwillig umgesetzt. Die Frauen, die aus anderen Gründen als materieller Not eine Abtreibung verlangten, wurden angegriffen. Mitte der zwanziger Jahre gab es nicht genügend Krankenhausbetten für Abtreibungen, die Forschung über Verhütungsmittel wurde wegen fehlender Mittel eingestellt. Abtreibung wurde hauptsächlich als ein Problem der öffentlichen Gesundheit betrachtet, es war die Rede vom Risiko eines Geburtenrückgangs und von der Gefährlichkeit des Eingriffs. Nach 1921 hat in den Frauenorganisationen nie eine Diskussion über die Abtreibungen und über Kontrolle der Fortpflanzung durch die Frauen selber stattgefunden.


Einführung der NEP


Aus der Periode des „Kriegskommunismus“ mit drei Jahren Interventionskriegen der imperialistischen Mächte geht das Land siegreich, aber ausgeblutet hervor. Die Neue Ökonomische Politik (NEP) erzwingt eine drastische Minderung der staatlichen Ausgaben und eine Beendigung der Zuschüsse für die kollektiven Einrichtungen. Die Shenotdel sollen abgeschafft werden, aber in Anbetracht der massiven Beschwerden und nach einer Debatte über das Für und Wider in der Prawda wird entschieden, dass sie weiterbestehen. Es werden die gleichen Argumente vorgebracht wie Ende der 20er Jahre für die Schließung der Räume der Shenotdel.

Die Shenotdel wurden ab 1922 schwächer. Inessa Armand und Konkordija Samoilowa waren gestorben. Nadeshda Krupskaja widmete sich anderen Problemen, Alexandra Kollontai reiste nach Norwegen ab, um fortan als Bevollmächtigte und erste Botschafterin weltweit im diplomatischen Dienst der UdSSR zu arbeiten. Die neuen weiblichen Kader hatten nicht genug Gewicht in der Partei, die sich nicht für die theoretischen Debatten in dem Bereich des Feminismus interessierte. Die innere Demokratie nahm ab, Hörigkeit und Karrierismus führten zu politischer Passivität.

      
Mehr dazu
Alex de Jong: Marijke Colle (1947‒2023), die internationale Nr. 3/2023 (Mai/Juni 2023) (nur online). Auch bei intersoz.org
Edith Bartelmus-Scholich: So revolutionär wie feministisch (Rezension zu Cinzia Arruzza: Feminismus und Marxismus), die internationale Nr. 1/2018 (Januar/Februar 2018)
Cinzia Arruzza: Marxismus und Feminismus, Inprekorr Nr. 2/2016 (März/April 2016)
Jacqueline Heinen: Frauenbefreiungsbewegung und Klassenkampf, Inprekorr Nr. 442/443 (September/Oktober 2008)
David Mandel: Neunzig Jahre später, Inprekorr Nr. 434/435 (Januar/Februar 2008)
Barbara Schulz: Frauen in der Oktoberrevolution, Inprekorr Nr. 253 (November 1992)
Frederiqe Vinteuil: Marxismus und Feminismus, Inprekorr Nr. 223 (Januar 1990)
 

Manche Aktivistinnen befürchten zu Beginn der NEP, die Rückkehr der Frauen ins Heim und die Aufgabe der kollektiven Einrichtungen würden zur Restauration der traditionellen Familienmuster führen. Sie schlugen die Bildung einer Bewegung vor, in der Verbände, die vor Ort für die Einführung einer neuen Lebensweise kämpfen würden, zusammengefasst würden. Diese Vorstellungen wurden jedoch von einer Mehrheit der Shenotdel-Mitglieder als feministische Abweichung kritisiert.

Gegen Ende der 1920er Jahre ändern die Shenotdel ihre Meinung in der Frage der Formen unabhängiger Organisierung von der Partei. Sie begannen das Scheitern der Partei in Bezug auf Fortschritte bei der Frauenbefreiung zu kritisieren. Doch bezogen sich ihre Kritiken nur auf einige Aspekte, sie legten kein alternatives ökonomisches und soziales Programm vor, das es der Partei ermöglicht hätte, die Befreiung der Frauen wirklich in ihr Programm, ihre Theorie und ihre Praxis zu integrieren. 1930 ließ Stalin die Shenotdel abschaffen, ihre Zeitung Kommunistka wurde eingestellt.


Zum Schluss


Die Beschäftigung mit der russischen Revolution macht es möglich, dass wir die Verbindung zwischen dem Kampf für den Sozialismus und dem Kampf für die Frauenbefreiung besser begreifen. Es lässt sich ermessen, wie sehr der Kampf um eine autonome Frauenbewegung auf den mächtigen Widerstand der Familienideologie und der Familienstrukturen stieß. Oft ist das Bild gezeichnet worden, als habe der Staat, solange es sich um einen relativ gesunden und demokratischen Arbeiterstaat gehandelt hat, seine Verpflichtungen den Frauen gegenüber eingehalten, erst mit der Degeneration der Revolution habe sich die Lage auch für die Frauen verschlechtert.

Aufstieg und Niedergang von proletarischer Demokratie und Arbeiterkontrolle fallen nicht mit Aufstieg und Niedergang der Frauenbewegung zusammen. Eine andere Umsetzung der Neuen Ökonomischen Politik wäre möglich gewesen, doch weder die führenden Kommunist*innen noch die Basismitglieder der Parteien schenkten der „Frauenfrage“ bei den Debatten genügend Beachtung. Und diese Schwäche war nicht direkt mit der bürokratischen Konterrevolution unter Stalins Ägide verknüpft.

Aus dem Französischen übersetzt und bearbeitet von Wilfried

Marijke Colles Artikel ist im Herbst 2017 auf der Webseite der flämischen SAP und in einer dem Thema „Russische Revolution und Aktualität der Revolution“ gewidmeten Ausgabe der Vierteljahreszeitschrift La Gauche erschienen, die von der belgischen Organisation „Gauche Anticapitaliste/Stroming voor een Antikapitalistisch Project“ herausgegeben wird.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2018 (März/April 2018). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Holt, Alix: „Die Bolschewiki und die Frauenunterdrückung“. In: Annik Mahaim / Alix Holt / Jacqueline Heinen, Frauen und Arbeiterbewegung. Deutschland vor 1914. Russische Revolution. Spanischer Bürgerkrieg, aus dem Französischen übersetzt von einem Übersetzer[*innen] kollektiv u. Willy Boepple, Frankfurt a. M.: isp-Verlag, 1984, S. 87–126, Anmerkungen S. 211–213.

[2] Marie, Jean-Jacques: Les femmes dans la révolution russe, Paris: Éditions du Seuil, 2017. ‒ 381 S.

[3] Stites, Richard: The Women’s Liberation Movement in Russia. Feminism, Nihilism, and Bolshevism, 1860-1930, Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1978. – XXI, 464 S.

[4] – Clements, Barbara Evans: Bolshevik Feminist. The Life of Aleksandra Kollontai, Bloomington u. London: Indiana University Press, 1979. – XIV, 352 S.
– Clements, Barbara Evans: Bolshevik Women, Cambridge, New York, Melbourne: Cambridge University Press, 1997. – XIV, 338 S.
– Farnsworth, Beatrice: Aleksandra Kollontai. Socialism, Feminism, and the Bolshevik Revolution, Stanford, California: Stanford University Press, 1980. – XV, 432 S.
– Porter, Cathy: Alexandra Kollontai. A Biography, 2. Ausg., Chicago, Illinois: Haymarket Books, 2014. – XVII , 511 S.1. Ausg.: London: Virago, 1980).
– Porter, Cathy: Women in Revolutionary Russia, Cambridge New York, New Rochelle, Melbourne, Sydney: Cambridge University Press, 1987, (Women in History). – 48 S.
– Elwood, R. C.: Inessa Armand. Revolutionary and Feminist, Cambridge: Cambridge University Press, 1992. ‒ XI, 304 S.

[5] Wood, Elizabeth A.: The Baba and the Comrade. Gender and Politics in Revolutionary Russia, Bloomington, Indiana, u. Indianapolis: Indiana University Press, 1997, (Indiana-Michigan Series in Russian and East European Studies, hrsg. von Alexander Rabinowitch u. William G. Rosenberg). – [IX], 318 S.

[6] Scheide, Carmen: Kinder, Küche, Kommunismus. Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen, Zürich: Pano Verlag, 2002, (Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, hrsg. von Andreas Guski u. Heiko Haumann, Bd. 3). – 390 S.

[7] Heinen, Jacqueline: „Kollontai and the History of Women’s Oppression“ (aus dem Französischen übersetzt von Patrick Camiller). In: new left review, London, Nr. 110, Juli/August 1978, S. 43–63. Zuerst veröffentlicht: „,Des origines de l’oppression à la République des soviets‘ ou l’analyse qu’en faisait Kollontaï en 1921“. In: Critique Communiste, Paris, Nr. 20/21, Dezember 1977/Januar 1978, S. 181–211.