Buchbesprechung

Markt und Plan - ein fundamentaler Widerspruch

Zu Guenther Sandlebens Streitschrift gegen die Widersinnigkeit des „Marktsozialismus“

Jakob Schäfer

In seinem neuen Buch „Gesellschaft nach dem Geld. Arbeitszeitrechnung als Alternative“ [1] argumentiert Guenther Sandleben gegen die Phantasterei, man könne beziehungsweise müsse eine Planwirtschaft mit Marktelementen verbinden. Wie schwach die sozialistische Linke bei der Klärung dieser Frage aufgestellt ist, zeigt sich übrigens daran, dass ein ausgesprochener Verfechter des Marktsozialismus, Klaus Dörre, bei der Vorstellung seines 2021 veröffentlichten Buchs [2] großen Anklang fand. Umso wichtiger also, dass in Sandlebens Buch die entscheidende ökonomische Grundlage herausgearbeitet wird, auf die sich eine nachkapitalistische Gesellschaft gründen muss.

Eine sozialistische Gesellschaft, die tatsächlich eine humanistische Alternative zum menschenverachtenden und die Umwelt zerstörenden Kapitalismus bildet, basiert zum einen auf einer – demokratisch ausgearbeiteten – rationalen Planung der Produktion und zum anderen auf einer egalitären Verteilung der zur Verfügung stehenden Güter und Dienstleistungen. Sandleben hat sich in seinem Buch vor allem der zweiten Frage zugewandt und dabei untersucht, wie eine sozialistische/kommunistische Gesellschaft ohne Geld auskommen kann. Schließlich gehört es zum Grundwissen sozialistischer Politik, dass das Geld immer wieder Quelle neu entstehender sozialer Differenzierung ist und letztlich auf die Neuherausbildung von Klassen hinausläuft.

Sandleben umreißt den Inhalt seines Buchs folgendermaßen: „Was Arbeitszeitrechnung genau heißt, worin ihre Voraussetzungen und Schwierigkeiten bestehen, in welcher Weise sie bereits praktiziert wird und in welchem Verhältnis sie zur heutigen Kostenrechnung steht, bilden die Themen des Buchs. Dem Kern nach geht es um die von Mises negativ beantwortete Frage, ist eine effiziente Planwirtschaft ohne Geld möglich.“ (S. 10) Im Klappentext wird u. a. ausgeführt: „Guenther Sandleben stellt die Geld- und Kostenrechnung auf den Prüfstand und weist nach, wie zweifelhaft deren Vorzüge sind. Jedoch wird in ihnen die Arbeitszeitrechnung vorbereitet. Erst diese ist mit der Planwirtschaft kompatibel, d. h. sie bildet keine Gefahr für deren Effizienz und Stabilität. ‚Ware-Geld-Beziehungen‘ werden überflüssig, auch die mit einem ‚marktsozialistischen‘ Inhalt. Statt nur anders angewendet zu werden, hat das Wertgesetzt seine Gültigkeit verloren. Die neuen ökologischen und sozialen Möglichkeiten, die eine befreite Gesellschaft eröffnet, werden in zwei Szenarien umrissen.“

Diesem Versprechen des Klappentexts wird das Buch uneingeschränkt gerecht. Mithilfe einer theoriegeschichtlichen Betrachtung erläutert Sandleben, wie sich schon für die Frühsozialisten die Frage nach der Verteilung der gesellschaftlichen Produktion stellte. Sodann geht er auf die „unsichtbare Hand der Märkte“ (A. Smith) ein und erklärt – in seiner gewohnten stringenten Art –, warum beispielsweise das „Arbeitsgeld“ keine Lösung ist. Anknüpfend an Marx und Engels (etwa in der „Deutschen Ideologie“) oder an Marx’ „Grundrissen“ und am „Kapital“ erklärt Sandleben die Funktionsweise von nicht übertragbaren Arbeitszeitscheinen, auf denen eine definierte Menge an Arbeitszeiteinheiten (AZE) vermerkt sind. Marx drückt es so aus: „Die Gesellschaft verteilt Arbeitskraft und Produktionsmittel in die verschiednen Geschäftszweige. Die Produzenten mögen meinetwegen papierne Anweisungen erhalten, wofür sie gesellschaftlichen Konsumtionsvorräten ein ihrer Arbeitszeit entsprechendes Quantum entziehen. Diese Anweisungen sind kein Geld. Sie zirkulieren nicht.“ [3] In den „Grundrissen“ verglich Marx einen solchen Schein mit einer Theaterkarte, die bei Nichtbenutzung verfällt. Mit der Konkretisierung der Arbeitszeitrechnung (AZR) gibt Sandleben wertvolle Hinweise, wie die Verteilung im Sozialismus geregelt werden kann. Dabei helfen uns die schon im Kapitalismus extrem ausgefeilten Methoden der Kostenrechnung. Hiermit lässt sich sehr gut berechnen, wie viel Arbeitsaufwand in all den Produkten steckt und welche Arbeitszeit folglich bei der nächsten Planerstellung für die entsprechende Produktion anzusetzen ist. Gleichzeitig ist die jeweils individuell geleistete Arbeitszeit das Maß, das zum Bezug von Gütern oder Dienstleistungen berechtigt.

Im Kapitalismus ist die Kostenrechnung eine Bereicherungsrechnung, in einer gemeinschaftlich geplanten Ökonomie ist sie die Grundlage für eine rationale Verteilung der Produktionsmittel und der aufzuwendenden Arbeitszeit. Sandleben gibt sich neben den theoretischen Erklärungen auch die Mühe, mit Beispielrechnungen eine Verteilung der Güter ohne Geld nachvollziehbar zu machen.


Welche Rolle spielen die Bedürfnisse?


An einer Stelle allerdings muss ich Guenther Sandleben widersprechen. Er unterstellt, Ernest Mandel verbinde das Absterben der Waren- und Geldwirtschaft „keineswegs mit der Umwandlung warenproduzierender Arbeit in unmittelbar gesellschaftliche Arbeit, sondern mit der erst im Sozialismus möglich gewordenen Beseitigung der Knappheit, d. h. mit der unentgeltlichen Verteilung der Konsumgüter.“ (S. 50) Die Frage ist natürlich nicht, ob Mandel für eine unmittelbar gesellschaftliche Arbeit (also ohne Marktelemente und folglich auch ohne Geldwirtschaft) eintritt. Dazu hat Mandel in zahllosen Schriften gegen den Marktsozialismus argumentiert, nicht zuletzt in der berühmt gewordenen Auseinandersetzung mit Alec Nove in der New Left Review im Jahr 1987.

Die Differenz der Betrachtungsweise, die ich hier mit Guenther Sandleben habe, liegt in der Frage, wie die Warenwirtschaft restlos zu beseitigen ist, denn zum einen werden nicht alle Güter mit einem Schlag in unbegrenzter Menge zur Verfügung stehen und zum anderen werden wir nach dem Sturz des Kapitalismus nicht mit einem Schlag den neuen Menschen haben, also jenen, der sich von dem warenwirtschaftlich basierten Bewusstsein emanzipiert hat. Diese Probleme werden sich nicht automatisch mit der AZR erledigt haben.

Es gibt sicherlich eine Rangfolge von Bedürfnissen: Grundbedürfnisse wie Grundnahrungsmittel, Getränke, Kleidung, Wohnung; sodann zweitrangige Bedürfnisse und dann drittens Luxusbedürfnisse (marginale Bedürfnisse). Alle drei Kategorien, besonders die erste, sind sowohl durch physiologische als auch durch gesellschaftliche historische Momente bestimmt. Vor allem bei wachsender Produktivität und Wohlstand gibt es eine Tendenz zur Sättigung der Grundbedürfnisse. „Rationales Verhalten tritt allmählich mehr und mehr an die Stelle des angeblich instinktiven Wunsches, immer mehr zu konsumieren.“ [4]

Welche Produkte und Dienstleistungen später einmal zur zweiten oder dritten Kategorie gehören werden, darüber muss heute nicht befunden werden. Die Gesellschaft wird das souverän entscheiden. Klar aber ist: Die Menschen werden beim Eintritt in eine neue Gesellschaftsordnung nicht mit einem Schlag die Muttermale der alten Gesellschaft abgelegt haben. Es wird also darauf ankommen, sowohl die Produktivität zu erhöhen – um möglichst viele Güter und Dienstleistungen ausreichend und ohne Arbeitszeitscheine (also ohne „Theaterkarten“) verteilen zu können – als auch in bewussten politischen Bildungsprozessen an der Änderung der Bedürfnisstruktur zu arbeiten. Dabei gilt es zu betonen, was Marx in der dritten Feuerbachthese hervorgehoben hat:

„Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren.

Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.“ [5]

Mit anderen Worten: Wir dürfen nicht vergessen, dass nach der Abschaffung des Kapitals die Wertvorstellungen in Verbindung mit existierenden Bedürfnisstrukturen nicht einfach verschwunden oder restlos ersetzt sind. Für substantielle positive Änderungen der Bedürfnisstrukturen bedarf es grundlegender Änderungen der Gesellschaftsstruktur, der realen Machtverhältnisse, der Herstellung verlässlicher sozialer Sicherheit und der Ausrichtung der Produktion und der Verteilung an den realen Bedürfnissen der Menschen. Und es bedarf des Erhaltens der natürlichen Lebensgrundlagen. All dies setzt nicht nur eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel voraus, sondern auch den Aufbau einer gemeinsamen solidarischen Lebensgestaltung. Beides hängt eng miteinander zusammen: Je weiter die ökonomischen Voraussetzungen für eine weitreichende freie Verteilung von Gütern (also ohne Arbeitszeitscheine) vorangeschritten ist, desto leichter werden die politischen Prozesse zu gestalten sein, die auf politischer und freiwilliger (!) Basis zu einer Änderung der Bedürfnisstruktur führt. Dies führt uns zu einem wichtigen Aspekt, den Guenther Sandleben leider nicht abgehandelt hat, der aber für die heutige Diskussion von besonderer Bedeutung ist.

      
Mehr dazu
Guenther Sandleben: Welchen Charakter hat die neue Finanzkrise?, die internationale Nr. 3/2023 (Mai/Juni 2023)
Interview mit Cédric Durand: Demokratische Planwirtschaft, die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020). Bei intersoz.org
Michel Husson: Von der sozialistischen Ökonomie hin zur ökologischen Planung, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019)
Paul Michel: Von schwarzen Löchern und weißen Flecken, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019)
Johann-Friedrich Anders: Was kommt nach dem Kapitalismus?, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019)
Daniel Tanuro: Die Grundlagen einer ökosozialistischen Strategie, Inprekorr Nr. 6/2011 (November/Dezember 2011)
Catherine Samary: Plan, Markt und Selbstverwaltung, Inprekorr Nr. 240 (Oktober 1991)
Ernest Mandel: Zur Verteidigung der sozialistischen Planwirtschaft, Inprekorr Nr. 200 (Februar 1988)
 

Der Klimawandel erfordert einen Rückbau


In der marxistischen Tradition ist es Allgemeingut, dass im Kapitalismus die Produktivkräfte dazu tendieren, Destruktivkräfte zu werden. Im Unterschied zur Zeit vor hundert oder hundertfünfzig Jahren steuert die Menschheit heute allerdings auf einen Point of no Return zu. Will heißen: Speziell der Klimawandel stellt uns vor die gewaltige Herausforderung, nicht nur die Produktion auf umweltverträgliche Verfahren und Produkte umzustellen. Es muss auch insgesamt der Material- und Energiedurchsatz drastisch zurückgebaut werden, wenn die nächsten Generationen überhaupt eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben haben sollen. Wir reden hier nicht in Größenordnungen von fünf oder zehn Prozent, sondern global (!) von mindestens einem Viertel. Eine humanistische (weil klimagerechte) sozialistische Politik muss demzufolge darauf orientieren, den Ausstoß klimaschädlicher Gase im globalen Norden um den Faktor 30 zu reduzieren! Auch die Schonung der Ressourcen legt dies dringend nahe. [6] Es versteht sich, dass dies unter kapitalistischen Bedingungen unmöglich ist. Denn einen sozial gerechten Rückbau der Produktion – in einer Weise also, die der großen Mehrheit der Bevölkerung keinen Verlust an Lebensqualität einbringt – ist nur in einer nicht auf Profit basierenden Wirtschaftsweise umsetzbar. Und nur unter dieser Voraussetzung werden die Menschen solche weitreichenden Veränderungen mittragen und sie als einen menschlichen Gewinn erleben können.

Kurzum: Diese gewaltige Herausforderung bedeutet auch eine Beschränkung der Güterproduktion (es wird also gerade nicht alles in Hülle und Fülle zur Verfügung stehen). Gleichzeitig ist dies ein weiteres – heute vielleicht das schlagendste – Argument für einen radikalen Bruch mit der bürgerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Auch wenn Guenther Sandleben dieses Thema ausgespart hat, so ist sein Buch doch von enormem Wert. Nicht nur erklärt er schlüssig den Gegensatz von Markt und Plan, sondern er erläutert auch gut nachvollziehbar die Leitlinie der AZR. Kurz: Dieses Buch ist so wertvoll, weil es die Widersprüche des Marktsozialismus aufdeckt und damit zum Zerpflücken eines Konzepts beiträgt, das nur in einer Sackgasse enden kann.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2022 (Mai/Juni 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Köln (PapyRossa Verlag) 2022

[2] Klaus Dörre: „Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution!“, Berlin (Matthes & Seitz) 2021

[3] MEW 24: 358

[4] E. Mandel: „Zur Verteidigung der sozialistischen Planwirtschaft“ in Oktober-Texte 2. (Berlin Dezember 1989) Seite 10. Hier findet sich die deutsche Übersetzung der Debatte mit Alec Nove. Sie begann mit dem Beitrag von Mandel in New Left Review (NLR), Nr. 150 aus dem Jahr 1987, in dem er auf das Buch von Alec Nove: „The Economics of Feasible Socialism“, London (Allen & Unwin) 1985, einging. In NLR Nr. 161 antwortete Nove und darauf erwiderte Mandel in NLR Nr. 169. [Siehe auch: Zur Verteidigung der sozialistischen Planwirtschaft – Eine Kritik der Theorie des „Markwirtschaftlichen Sozialismus“, Inprekorr Nr. 200 (Februar 1988)]

[5] MEW 3, S. 5 f.

[6] Mehr dazu unter: Daniel Tanuro: Ungleiches Wachstum oder gerechtes Degrowth, die internationale Nr. 2/2022 (März/April 2022)