Redmole meldet sich nicht mehr

Ein Nachruf auf Winfried „Winnie“ Wolf (4. März 1949 – 22. Mai 2023)

Der Tod ist ein gnadenloser Schnitter. Am 22. Mai 2023 ist unser Freund und Genosse Winfried Maria Wolf, genannt Winnie, in der Berliner Charité seiner schweren Krebserkrankung erlegen. Zum Glück war er in seinen letzten Stunden nicht allein.

W. A.

Bis zu seinem Ableben war Winnie ein unermüdlicher Antreiber – und ein permanent Getriebener. Das kam nicht von ungefähr.

In seiner eigenen Kurzbiographie schreibt er: „Meine erste linke Politisierung erlebte ich Ende der 1960er Jahre als führendes Mitglied der ‚Katholischen Jungmännergemeinschaft (KJG) Weißenau/ Ravensburg‘“. Vor diesem Hintergrund dürfte ihm damals eine gewisse Bibelfestigkeit beigebracht worden sein. Die Offenbarung des Johannes, die der drohenden Apokalypse ein Reich der Hoffnung entgegensetzt, ist ihm sicher nicht fremd gewesen.

 

Die apokalyptischen Reiter

Holzschnitt: Albrecht Dürer

Vielleicht kam mir, nachdem mich die sehr traurige Nachricht von Winnies Tod erreicht hatte, auch deshalb sofort Albrecht Dürers berühmter Holzschnitt „Die apokalyptischen Reiter“ von 1498 in den Sinn. Dürers Druckgrafik entstand in der unruhigen Vorzeit des großen Bauernkriegs. Sie ist die wohl bekannteste Darstellung der durch herrschende Verhältnisse verursachten Katastrophen.

Dürers vier Reiter symbolisieren die Gier nach Ruhm und Reichtum, den menschenverschlingenden Krieg, die durch Teuerung und Hungersnot erzeugte Not sowie den Tod durch Seuchen oder andere Ereignisse. Letzterer, auf einer abgemagerten Mähre galoppierend, treibt die panisch fliehenden, fallenden oder bereits am Boden liegenden Menschen mit einem Dreizack dem Schlund der Hölle zu.


Kampf gegen die Apokalypse


War es nicht der scheinbar endlose Kampf gegen diese im Spätkapitalismus des 21. Jahrhunderts in einer „modernen“ – und um den Ökozid ergänzten – Form auftauchenden apokalyptischen Reiter, für den sich Winnie rast- und ruhelos buchstäblich bis zur Erschöpfung engagierte?

Doch was hatte ihn dazu motiviert und sein Leben lang geprägt?

Nach der Geburt in Horb am Neckar, der Kindheit und Jugend am Bodensee und im tief schwarz eingefärbten Oberschwaben, dem Abi am Wirtschaftsgymnasium in „Raveschburg“ sowie dem Studienbeginn in Freiburg/Breisgau zog es ihn schließlich nach Westberlin, der „Hauptstadt“ der APO, der Außerparlamentarischen Opposition.

In diesem schon damals sehr spezifischen Biotop der Jugendrevolte mit einer bald von mao-stalinistischen Sekten dominierten linksradikalen Szene fand Winnie Anfang der 1970er Jahre den Weg vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) zur Gruppe Internationale Marxisten (GIM), wie sich die deutsche Sektion der IV. Internationale ab 1969 nannte.

Dies geschah nicht zuletzt durch die Bekanntschaft mit Ernest Mandel, der ihm lange Zeit freundschaftlich als Vorbild und Lehrer verbunden sein sollte. Winnie begegnete dem führenden Kopf der IV. Internationale und sicherlich wichtigsten Vertreter eines offenen Marxismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts persönlich zuerst 1971.

2005 erinnerte er sich: „Nach einem Seminar mit Mandel zur ‚Übergangsgesellschaft‘, an dem zweihundert Studierende teilgenommen hatten, wollten meine Freundin und ich, noch tief beeindruckt von Vortrag und Diskussion, unsere Mäntel in der Garderobe abholen. In dem ansonsten leeren Raum stand nur noch – Ernest Mandel. Wir waren einigermaßen verunsichert. Mandel ging auf uns zu, stellte sich vor und gab uns die Hand.“


Was tun?


Erstmals taucht Winfried Wolfs Name als „verantwortlicher“ Redakteur im Impressum der GIM-Zeitung was tun von Mai 1974 auf. Der Bogen zu Lenins Worten in dessen berühmter Schrift Was tun? von 1902 ist kurz: „Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator.” Und der Bogen zu Winnies sehr ausgeprägter Affinität zur Herausgabe von gedruckten Zeitungen ist vielleicht noch kürzer. In einer der vielen Videokonferenzen während der COVID-19-Pandemie, in der wir seine Initiative #ZeroCovid – Solidarität in Zeiten der Pandemie diskutierten und weiterentwickelten, bekannte er: „Ich bin nun mal ein Zeitungsmann.“

Auf was tun folgte Winnies Engagement für die Sozialistische Zeitung, die ursprünglich als Parteiorgan der 1986 gegründeten Vereinigten Sozialistischen Partei – dem Zusammenschluss von GIM und KPD – erschien. 1995 initiierte er die Zeitung der PDS-Bundestagsfraktion wirtschaft soziales widerstand, ab 1999 die Zeitung gegen den Krieg, ab 2008 seine „Herzensangelegenheit“ Lunapark21 – „(die) Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie“, 2014 die Streikzeitung („Ja zum Arbeitskampf der GDL – Nein zum Tarifeinheitsgesetz“), 2015 FaktenCheck:HELLAS („fünf Ausgaben in fünf Sprachen“), 2016 FaktenCheck:EUROPA, 2020 FaktenCheck:CORONA, 2021 die Zeitung ZeroCovid und ebenfalls 2021 die Streik Zeitung (Solidarität mit dem Arbeitskampf der GDL). Allein die Aufzählung lässt den Atem stocken.

Winnie verfasste unzählige Artikel, Aufsätze, Broschüren, Diskussionsbeiträge und viele Bücher, aus denen sicherlich seine unter dem Titel Eisenbahn statt Autowahn 1987 in erweiterter Form veröffentlichte Dissertation herausragt.

Bei zahllosen Veranstaltungen, Kundgebungen und Konzertlesungen (mit der Mannheimer Band ewo²) beindruckte er als kompetenter und fesselnder Redner.

Von 1994 bis 2002 vertrat Winnie die PDS Baden-Württemberg im Bundestag. Diesem Vorläufer der LINKEN trat er 1997 bei, verließ ihn aber 2006 wieder wegen dessen Anpassung an die herrschenden Verhältnisse. Danach bezeichnete er sich als „unabhängiger [gewerkschaftlich organisierter] radikaler Sozialist und Utopist, orientiert an den Vorstellungen von Rosa Luxemburg“.


„Traum von der roten Republik“


Es ist sicherlich nicht falsch, Winnie als eine aktivistische, streitbare und dennoch zugewandte „Ein-Mann-Organisation“ anzusehen. Er war das Zentrum eines großen und flexiblen, hunderte von Menschen zählenden internationalen Netzwerks, dessen Verbindungen in mehrere unterschiedliche Bereiche und Bewegungen hineinreichten. Mit seinen zahlreichen Aktivitäten erreichte er viele zehntausend Menschen.

      
Mehr dazu
Traueranzeige, taz
Angela Klein: Winfried Wolf (1949–2023), die internationale Nr. 4/2023 (Juli/August 2023) (nur online). Auch bei intersoz.org
Josef-Otto Freudenreich: Zwischen Marx und Missionar, Kontext (24.05.2023)
 

Eines seiner herausragenden und bleibenden Verdienste ist der konsequente Kampf für eine Verkehrswende zum öffentlichen (Schienen-)Verkehr, den er vor allem in der Bewegung gegen „Stuttgart 21“seit deren Anfängen Mitte der 1990erJahre bis zuletzt entscheidend mitgeprägt hat. Im Unterschied zu den meisten „68ern“ hat Winnie trotz aller persönlichen und gesellschaftlichen Umbrüche, Niederlagen und Rückschläge nie aufgegeben. Es war für ihn keine Alternative, sich in die herrschende (Un-)Ordnung einzufügen oder den „Traum von der roten Republik“ zu verdrängen.

Winnie soll zum Schluss selbst zu Wort kommen. Bereits Ende 1975 schrieb er in einem Text zu der damaligen Entwicklung, dass es nur zwei „wirkliche […] Auswege aus der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftskrise“ geben könne: „Die eine […] wird ein massiver Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse […] sein. Die andere […] wird […] die Überwindung […] der auf privater Gewinnaneignung beruhenden Gesellschaftsordnung sein.“

Seit dem 22. Mai 2023 meldet sich redmole (roter Maulwurf) alias Winnie mit einem Betreff wie „Fragen, Bitten, Antworten“ auch beim Verfasser dieser Zeilen nicht mehr – selbst nicht sehr spät in der dunklen Nacht.

Gibt es eine bessere Art der Erinnerung an Winnie, als sie durch die grenzenlose Vernetzung und die solidarische Organisierung möglichst vieler roter Maulwürfe wachzuhalten?

Weitere Informationen von und über Winfried Wolf finden sich hier: https://winfriedwolf.de/



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 4/2023 (Juli/August 2023) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz