Geschichte

Arbeiter und Bürokraten

Wie sich im Sowjetblock Ausbeutungsverhältnisse herausgebildet haben und wie sie funktionierten

Zbigniew Marcin Kowalewski

Die Oktoberrevolution schuf die unumgänglichen Voraussetzungen für die Machtergreifung der Arbeiterklasse im gerade entstehenden Sowjetrussland. Indes, bevor die Arbeiterklasse die Macht, die sie da ergriff, konsolidieren konnte, entglitt ihr diese schon wieder. Die Tatsache, dass die erste siegreiche Arbeiterrevolution der Welt in einem wenig entwickelten Land stattfand und dass sie isoliert blieb - das heisst, dass ihr, entgegen den Erwartungen ihrer Anführer, keine siegreichen Revolutionen in den hochentwickelten Ländern folgten, die Sowjetrussland sozusagen in ihr Schlepptau hätten nehmen können - war dabei ein entscheidender Faktor. Durch den Weltkrieg ausgelöst, wurde die äußerst schwere sozio-ökonomische Krise, die zur Revolution geführt hatte, durch den auf diese folgenden Bürgerkrieg noch einmal deutlich verschärft.

Die Arbeiterklasse war in Russland zahlenmäßig schwach und die Industriearbeiterschaft, wenngleich sehr konzentriert, in ihren Reihen ihrerseits eine Minderheit. Ihre Zahl hatte sich im Laufe des Weltkriegs zeitweilig verdoppelt, bis sie Mitte 1918 auf ihr Vorkriegsniveau zurückfiel und in den vier Jahren danach noch weiter sank. Viele Industriearbeiter schlossen sich der Roten Armee an und kamen im Bürgerkrieg um, viele übernahmen Aufgaben im Partei- und Staatsapparat, nicht wenige verstreuten sich auf der verzweifelten Suche nach Mitteln zum Überleben über die Dörfer oder gingen auf den Schwarzmarkt.

      
Mehr dazu
Zbigniew Marcin Kowalewski: Die Eroberung der Ukraine und die Geschichte des russischen Imperialismus, die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022)
Interview mit Zbigniew M. Kowalewski: Die Geschichte der Volksrepublik aus einem Arbeitergesichtspunkt, Inprekorr Nr. 408/409 (November/Dezember 2005)
Catherine Samary: Wirtschaftliche und soziale Probleme, Inprekorr Nr. 315 (Januar 1998)
 

In einer Diskussion unter Historikern schrieb Sheila Fitzpatrick einmal, die Zahl der Industriearbeiter habe gegen Ende des Bürgerkriegs nur noch bei einem Drittel gelegen, bei etwa einer Million. "Im Laufe des Bürgerkriegs haben sich vielleicht eine Million Arbeiter in Bauern verwandelt und damit die von den Bolschewiki vorgebrachte Behauptung von der Reife der Arbeiterklasse widerlegt." Ronald Suny hielt ihr damals entgegen: "Muss man eine solche Abwanderung von der Stadt aufs Land, von der Fabrik auf den Hof so kategorisch als Übergang von einer Klasse zu einer anderen verstehen, ohne dass die Erfahrungen in Rechnung gestellt werden, die diese proletarisierten Männer und Frauen dabei mit sich nahmen?" In der Sache lagen beide m.E. falsch. Das Gros derer, die damals aufs Land gingen, war erst während des Weltkrieges von dort zum Arbeiten in die Industrie gekommen.

Juri Larin, einer der wichtigsten Wirtschaftsadministratoren in der Zeit des "Kriegskommunismus", schrieb, gestützt auf Angaben von Anfang 1920: Die allgemeine Veränderung des Industrieproletariats "ist darauf zurückzuführen, dass seine Zahl, verglichen mit der Vorkriegszeit, um ein Viertel reduziert wurde und das vor allem aufgrund des Rückgangs der Textilindustrie und der gesunkenen Zahl der ungelernten Arbeiter in anderen Branchen, wohingegen fast der gesamte Kern des qualifizierten Proletariats erhalten geblieben ist. Was das Wesenselement der Produktion angeht - die qualitativ gut ausgebildete lebendige menschliche Arbeitskraft - so haben wir es mit einem Organismus zu tun, der geschrumpft und geschwächt ist, aber nicht zerstört." Dieser sollte bis zum Abschluss des Jahres 1921 weiter schrumpfen und am Ende hatte sich die Zahl der Industriearbeiter, verglichen mit der Vorkriegszeit - und diese muss man zum Vergleich heranziehen und nicht die Kriegsjahre - um mehr als die Hälfte verringert.

Den gesamten Text stellen wir als PDF-Datei bereit. Die Kapitel im einzelnen:

  1. Ein irreparabler Bruch im Arbeiterstaat
  2. Von der Arbeiterbürokratie zur thermidorianischen Bürokratie
  3. Aufbau einer stalinistischen Bürokratie und Konsolidierung der Ausbeutungsformen
  4. Stalinistische strukturelle Assimilation der osteuropäischen Peripherie
  5. Der Sowjetblock und die Problematik der Produktions- und Ausbeutungsweisen
  6. Kampf um das Mehrprodukt und um die Kontrolle über die Arbeitsprozesse
  7. Es gab einen Ausweg aus diesem Teufelskreis

Zbigniew Marcin Kowalewski ist ein polnischer Autor von Forschungsarbeiten über die Geschichte der revolutionären Bewegungen und der Arbeiterbewegung, über die nationale Frage und über bürokratische Herrschaft. 1981 war er Mitglied des Präsidiums der Regionalleitung der Gewerkschaft Solidarnosc in Lódz, Delegierter auf dem ersten nationalen Kongress der Gewerkschaft und Führer der Bewegung für Arbeiterselbstverwaltung. Im französischen Exil leitete er die Solidaritätskampagne mit Solidarnosc, veröffentlichte Rendez-nous nos usines! Solidarnosc dans le combat pour l'autogestion ouvrière (Paris: La Brèche 1985) und beteiligte sich an der Redaktion von Inprekor, einer polnischsprachigen Zeitschrift der Vierten Internationale, die während der 1980er Jahre illegal im Land verbreitet wurde. Derzeit ist er stellvertretender Chefredakteur der polnischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz