Geschichte

Armenak Manoukian (1898–1944)

Ein Trotzkist im Pariser Pantheon

Achtzig Jahre hat es gedauert, bis die Französische Republik endlich die Rolle von Missak Manouchian und den Kämpfern der FTP-MOI [1] im Widerstand gegen die Nazi-Besatzung anerkannt hat. Am Ende war es ein Präsident der „extremen Mitte“, der Manouchian und den in einer Gedenktafel namentlich genannten Helden des Affiche Rouge [2] die Türen des Pantheons öffnete.

Michael Löwy

François Hollande hatte seinerzeit einen entsprechenden Antrag der kommunistischen Mitglieder des französischen Senats noch höflich abgelehnt. Macron hingegen hielt eine schöne Rede, in der er diese Aktivisten – Kommunisten und Ausländer – würdigte. Schade nur, dass seine Taten nicht mit diesen schönen Worten in Übereinstimmung stehen: Es handelt sich um denselben Macron, der gerade erst ein niederträchtiges Einwanderungsgesetz verabschieden ließ, das von Marine Le Pen als „ideologischer Sieg“ ihrer Partei gefeiert wurde - einer Partei, zu deren Gründern 1972 ehemalige französische Offiziere der Waffen-SS-Division Charlemagne gehörten ... Wir sollten auch daran denken, dass ein nach Frankreich geflüchteter kurdischer Aktivist – in etwa vergleichbar mit den armenischen Flüchtlingen in den 1930er Jahren – erst kürzlich die obligatorische Aufforderung erhalten hat, das französische Territorium zu verlassen. Wird man ihn an die türkische Polizei des Erdogan-Regimes ausliefern?

 

Foto vom 21. November 1943.

Quelle: Archiv der Pariser Polizei

Zu den dreiundzwanzig Kämpfern der „Manouchian-Bande“, die auf dem Mont Valérien bei Paris erschossen wurden, gehörte auch ein Trotzkist. Sogar die Humanité räumt das in ihrem vor kurzem veröffentlichten Affiche-Rouge-Dossier ein. Es handelt sich um Arben Dawidian (geleg. auch: Dav'tian), genannt Armenak Manoukian. Seine von unserem Genossen Rodolphe Prager geschriebene Biografie erschien 2009 im Maitron, dem biographischen Lexikon der französischen Arbeiterbewegung. Hier einige Momente aus diesem bewegten Leben, wie sie dieser Notiz entnommen wurden. [3]

Arben Dawidian, genannt Armenak Manoukian, wurde laut den in seinem Besitz befindlichen Papieren am 7. November 1898 in Schuschi in Karabach (Armenien) geboren. Er trat 1917 der bolschewistischen Partei Georgiens bei und nahm 1918 mit einer Brigade von Rotgardisten an den Kämpfen zur Verteidigung der Kommune von Baku teil. Dabei soll er dreimal verwundet worden sein. Zunächst von den englischen Truppen, die die Stadt im August eroberten, gefangen genommen, gelang ihm die Flucht und er ging nach Teheran in Persien. Als Kämpfer nach Aserbaidschan und Armenien zurückgekehrt, wurde er 1920 nach einem kurzen Lehrgang an der Roten Militärschule Schahumjan in Baku zum Offizier und politischen Kommissar befördert. Er war Politkommissar einer Brigade, als er mit seiner Einheit auf die 11. Rote Armee stieß, die am 2. April 1921 in Eriwan (Armenien) einmarschierte. Danach wechselte er in den Parteiapparat und arbeitete als Ausbilder und Organisator für das Zentralkomitee von Armenien, von Georgien und von Aserbaidschan.

In den zwanziger Jahren schloss sich Dawidian der Linken Opposition an und wurde in Eriwan zu einem ihrer Wortführer. Ende 1927 aus der Partei ausgeschlossen, wurde er am 24. September 1928 zusammen mit zahlreichen anderen armenischen Aktivisten verhaftet und nach Akmolinsk in Kasachstan deportiert. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt und sechs Monate später in den Isolator von Werchneuralsk gebracht, wo er sich dem Kollektiv von Bolschewiki-Leninisten anschloss und im Dezember 1933 an einem achtzehn Tage dauernden Hungerstreik teilnahm.

Nach Ablauf seiner Strafe wurde er am 22. Januar 1934 nach Zentralasien, nach Andijon in Usbekistan verbannt. Er floh am 30. Juni 1934 aus Andijon und überquerte am 18. Juli die persische Grenze.

Dawidian gelang es im Sommer 1935, einen Kontakt zu Trotzkis Sohn Lew Sedow herzustellen. Er schickte ihm seinen (auf den 4.8.1935 datierten) „Appell an das Weltproletariat“, den er unter seinem damaligen Pseudonym Tarow verfasst hatte. Das Dokument schilderte seine persönlichen Erfahrungen und machte die Öffentlichkeit auf das Schicksal der politischen Gefangenen in der Sowjetunion aufmerksam. Es wurde zusammen mit einem Begleittext von Trotzki [4] über die internationale trotzkistische Presse verbreitet.

Auf Trotzkis und Sedows Initiative hin kam es zu einer internationalen Spenden-Sammelaktion für einen „Tarow-Fonds“, um ihn zu unterstützen und die Reise nach Europa zu finanzieren. Die erforderliche Summe aufzubringen und die Visafrage zu klären, nahm fast zwei Jahre in Anspruch, bis Dawidian schließlich am 22. Mai 1937 in Marseille und am 25. Mai in Paris ankam.

Er wurde in Maisons-Alfort bei den trotzkistischen Aktivisten Roland und Yvonne Filiâtre untergebracht und verbrachte einen Teil des Sommers bei Alfred und Marguerite Rosmer in ihrem Gartenhaus in Périgny-sur-Yerres bei Paris. Am 12. Juni 1937 wurde er von der Pariser Zweigstelle der Kommission zur Untersuchung der Moskauer Prozesse angehört; die Aussage, die er machte, wurde in der trotzkistischen Presse abgedruckt und hinterließ einen starken Eindruck. Er stand in ständigem Kontakt mit Lew Sedow und beteiligte sich an der von diesem geleiteten „russischen Gruppe“ der Internationalen Linken Opposition. Über das umfangreiche Manuskript der Memoiren mit dem Titel In den Gefängnissen des russischen Thermidor, die er noch in Täbris geschrieben hatte, kam es dann zu einem Streit. Zborowski, der eingeschleuste GPU-Agent, erhob Einwand um Einwand, um die Veröffentlichung zu verunmöglichen. Der Bruch mit der „russischen Gruppe“ wurde endgültig, nachdem Sedow am 16. Februar 1938 unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen war. Dawidian beklagte sich darüber in einem Brief an Trotzki vom 9. Juli und ließ erkennen, dass sein Unbehagen auf die Anwesenheit „eines fremden Elements“ zurückzuführen war, „das in unser Milieu eingedrungen ist“ – gemeint war offenbar Zborowski.

Im Frühjahr 1939 erschien schließlich eine aus dem Russischen ins Französische übersetzte Broschüre, die von Tarow unterzeichnet war, als „Beitrag zur Kritik des Aktionsprogramms der Vierten Internationale“ angekündigt wurde und den Titel Le Problème est: viser juste trug. Sie erschien unter der Adresse von Marceau Piverts Parti Socialiste Ouvrier et Paysan (PSOP) in der Rue de Rochechouart und wurde mit der Hilfe von Georges Servois von der Gewerkschaft der Korrektoren erstellt.

In zunehmender Isolation lebend, trat Dawidian um 1941 in Kontakt zu armenischen KommunistInnen.

Im Laufe des Jahres 1942 nahm er Verbindung zu Missak Manouchian auf. Zwischen den beiden entwickelte sich ein Verhältnis gegenseitiger Wertschätzung und Vertrauens. Mélinée Manouchian erinnert sich daran, dass ihr Mann, „Manouche“, ihr 1942 in einem Café Dawidian mit den Worten vorstellte: „Er ist einer von uns.“ Sie fügt hinzu, Manouchian habe gewusst, dass er Antistalinist war und aus der Sowjetunion geflohen war. Manouchian kümmerte sich darum, dass Dawidian in die armenische Gruppe der MOI aufgenommen wurde, und ließ ihn später in die erste Abteilung der FTP holen, in die er im Juli 1943 mit dem Pseudonym André und der Kennnummer 10 050 aufgenommen wurde.

      
Mehr dazu
Helmut Dahmer: Unser Genosse Rudolf Klement. Bespitzelt, entführt, ermordet, zerstückelt, die internationale Nr. 2/2021 (März/April 2021) (nur online). Auch bei intersoz.org
Ein Gespräch mit Rudolf Segall: Cyrano von Bergerac und die Geduld des Revolutionärs (Teil II), Inprekorr Nr. 416/417 (Juli/August 2006)
Michel Lequenne: Rodolphe Prager (1918-2002), Inprekorr Nr. 369 (Juli 2002)
 

Dawidian wurde in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1943 bei einer von Joseph Boczov geleiteten Entgleisungsoperation auf der Bahnstrecke Paris-Verdun in der Nähe von Châlons-sur-Marne eingesetzt. Am 28. August warf er, gedeckt von seinen armenischen FTP-Genossen, an der Ausfahrt der Renault-Werke in Boulogne-Billancourt eine Granate auf einen mit deutschen Soldaten besetzten Lastwagen. Bei der nächsten, fehlgeschlagenen Operation, bei der am 5. Oktober der Kollaborateur Gaston Bruneton, zuständiger Direktor für die französischen Arbeitskräfte in Deutschland, erschossen werden sollte, wurde er verletzt. Armenuhi Assadourian, Mélinées Schwester, nahm Dawidian bei sich auf und brachte ihn in einem Hotelzimmer unter, das ihr Henri Karayan, ein junger armenischer FTPler, überlassen hatte. Fast sechs Wochen lang brachte Mélinée ihm jeden Tag Nahrung und Medikamente und erneuerte die Verbände; lange und vertrauensvoll konnten sie miteinander sprechen. Dawidian sprach offen über seine trotzkistische Vergangenheit und entwickelte Mélinée gegenüber Gefühle tiefer Dankbarkeit.

Die Brigade spéciale der französischen Polizei verhaftete ihn am 19. November an seinem neuen Wohnort, in der Rue de Belleville 200. Zwei Stunden vor seiner Hinrichtung schrieb Manouchian, der damit seine Verbundenheit mit diesem Gefährten unterstrich, an Mélinée: „Wir müssen auch an Manoukian denken, der mit mir stirbt“.

An seinem Grab auf dem Friedhof von Ivry, in dem für die Mitglieder der „Manouchian-Gruppe“ reservierten Bereich, befindet sich eine Gedenktafel der Sozialistischen Republik Armenien mit der Aufschrift: „Deine Kampfgefährten, die dich nie vergessen werden“. Dawidian soll in Armenien rehabilitiert worden sein, ebenso wie seine Frau und seine Tochter, denen die Bürgerrechte entzogen worden waren.

26. März 2024
Aus dem Französischen von Horst Lauscher
Quelle: Inprecor



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 3/2024 (Mai/Juni 2024) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] FTP-MOI (Francs-tireurs et partisans – main d’œuvre immigrée, etwa: Freischärler und Partisanen – eingewanderte, immigrierte Arbeitskräfte), kommunistisch geführte Widerstandsbewegung im besetzten Frankreich. Die FTP verstanden sich als Teil der Résistance, die MOI war gewissermaßen die migrantische Abteilung der FTP.

[2] Affiche Rouge (rotes Plakat), ein von den Nazis erstelltes, in Frankreich weit verbreitetes Wandplakat, auf dem die Résistance-Kämpfer der Manouchian-Gruppe als „jüdisch-ausländische Terroristen“ denunziert wurden. Mit diesem Plakat setzten ihre Verfolger ihnen ungewollt ein Denkmal. Auch Titel eines Gedichts von Louis Aragon, später vertont von Léo Ferré.

[3] Vgl. https://maitron.fr/spip.php?article73527

[4] Vgl. Trotzki, Schriften, Bd. 1.1, S. 621-635.
(Anm. v. Übersetzer)