Die Ursachen der argentinischen Krise

Argentinien ist bekanntlich ein Musterschüler des internationalen Währungsfonds (IWF). Seit den 80er Jahren hat sich das Land an die Auflagen der Experten aus Washington streng gehalten. Das Ziel ihrer Programme kennt man jetzt gut: Das Land soll seine Schulden verringern und sich strukturell dem Weltmarkt anpassen, damit endgültig mit der "dirigistischen" Politik der Vergangenheit gebrochen wird, die für die Verschuldungskrise am Anfang der 80er Jahre verantwortlich sei.

Arnaud Zacharie

Gemäß der neoliberalen Theorie wurde also der öffentliche Dienst "entschlackt", Unternehmen wurden an ausländische Kapitaleigentümer verkauft, die wirtschaftlichen Grenzen wurden für das internationale Kapital und die transnationalen Konzerne geöffnet. Heute, wo 90% der Banken und 40% der Industrie dem ausländischen Kapital gehören, sind die Auslandsschulden im Jahr 2000 fast viermal so hoch wie 1983, das Gesundheitswesen und die Bildung sind zerfetzt und der mittlere Lohn ist jetzt gegenüber 1974 nur die Hälfte wert. Das Scheitern ist dramatisch, sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich, und die heute hereinbrechende Krise wird die Lage noch verschlimmern. Der Grund ist offenkundig, selbst wenn er selten benannt wird: Der IWF und die argentinischen Regierungen haben keine Antwort auf die wirklichen Probleme gegeben, sie haben im Gegenteil Maßnahmen getroffen, die deren Gefährlichkeit noch verstärkt haben.

Der Ursprung der argentinischen Verschuldungskrise: Ein gut geölter Mechanismus von Kapitalentzug.

Eine 18 Jahre lange gerichtliche Untersuchung infolge einer Klage, die 1982 der Journalist Alejandor Olmos erhob, liefert jetzt Beweise: Die Ursache der argentinischen Schuldenkrise liegt in einem Mechanismus von Verschwendung und Veruntreuung von Geldern, in dem die argentinische Regierung, der IWF, die privaten Banken Nordamerikas und die amerikanische Bundesbank involviert sind. Deshalb hat der argentinische Gerichtshof im Juli 2000 die Schulden des Vileda-Regimes als illegitim erklärt, denn diese stehen im Widerspruch zu der Gesetzgebung und der Verfassung des Landes. Der Gerichtshof hat dem Kongress empfohlen, sich auf dieses Urteil zu berufen, um über die Streichung dieser unverschämten Schulden zu verhandeln.

Zunächst die damaligen Fakten: 1976 hat Viledas Militärjunta die Macht übernommen und eine Diktatur etabliert, die bis 1983 währte. In dieser Zeit hat sich die Auslandsverschuldung Argentiniens verfünffacht (von 8 auf 43 Milliarden Dollar), während der Anteil der Löhne am BIP von 43% auf 22% sank.

Die Diktatur verursachte eine Verschuldungskrise und die offizielle Übernahme der Führung der argentinischen Finanzen durch den IWF.

Das 195 Seiten dicke Urteil des argentinischen Gerichtshofs schildert die Geschichte dieser ursprünglichen Verschuldung. Mehrere Akteure treten auf: In den Hauptrollen auf der argentinischen Seite findet man den Präsidenten Videla, den Wirtschaftsminister Martinez de la Hoz, ein "Geschenk" des Rates der Unternehmensführer, und der Direktor der Zentralbank, Domingo Cavallo (derjenige, der am 20.12. 2001 zurückgetreten ist).

Man findet auch den IWF, der schon 1976 Argentinien einen umfangreichen Kredit gewährt hatte und damit den westlichen Banken die Garantie gegeben hatte, dass dieses Land ein vorzüglicher Ort wäre, ihre überschüssigen Petrodollars zu recyceln. Aber die Rolle des IWF begrenzte sich nicht darauf, denn während der ganzen Zeit der Diktatur findet man Dante Simone, einen IWF-Verantwortlichen, im Dienst des Regimes. Der IWF rechtfertigt sich durch die Behauptung, dass Dante Simone eine Beurlaubung gewährt worden war und dass dieser sich der Zentralbank des Landes zur Verfügung gestellt hatte (S. 127 des Urteils). So zahlte diese die Aufenthalts- und Unterbringungskosten des Experten. Es wäre noch zu fragen, wer das Gehalt zahlte und ob diese Beurlaubung vom IWF finanziert wurde.

Wie es denn immer sei, Dante Simone hat einen Bericht an Domingo Cavallo von der argentinischen Zentralbank verfasst ( eine Kopie wurde im IWF gefunden), in dem versichert wurde, dass es bezüglich der Verschuldung einen großen Spielraum gäbe, bevor es zu wesentlichen Gefahren kommen würde (Seite 31 des Urteils). Und die Rolle von Herrn Simone bestand klar darin, gewichtige und diskrete ausländische Finanzquellen zu suchen.

Diese ausländischen Finanzquellen waren nicht besonders schwer zu finden, da die westlichen Banken über viele Petrodollars verfügten, die sie wegen der Krise in die reichen Länder des Nordens nicht investieren konnten und also neue Absatzmöglichkeiten suchten. Die Untersuchung stellt dar, dass die argentinische Zentralbank Geld bei amerikanischen Banken diskret anlegen konnte, ohne die Zustimmung des Wirtschaftsministers zu ersuchen, aber mit der großzügigen Unterstützung der amerikanischen Reservebank.

Die Einigkeit zwischen diesen verschiedenen Hauptdarstellern war so groß, dass Bankkredite, die Argentinien gewährt worden waren, niemals in das Land einflossen, sondern direkt durch die Banken in Steuerparadiese im Namen von Scheinfirmen umgeleitet worden sind. Die Verschuldung hat also nicht der Bevölkerung, sondern dem Diktaturregime und den Banken des Nordens genützt und gleichzeitig das Erlernen des Finanzmanagements erheblich unterstützt.

Die übrigen Gelder wurden verschwendet: Die großen privaten Gruppen, die mit dem Minister Martinez de la Hoz befreundet waren, wurden großzügig subventioniert.

Vom Eldorado.....

Die Regierung Alfonsin, die der Videla-Diktatur folgte, schaffte es nicht, das Land wiederaufzubauen, das durch eine starke Inflation und die Korruption - Wundmale der Videla-Diktatur - zersetzt war. Dank der Machtübernahme von Carlos Menem 1989 und der Unterzeichnung des Brady-Plans Anfang der 90er Jahre schaffte es das Land, aus der wirtschaftlichen Untätigkeit herauszukommen.

Die Reformen der Menem-Regierung gehören zu den radikalsten dieses Kontinents: Privatisierung der öffentlichen Unternehmen, im Gegensatz zu Mexiko einschließlich des Ölsektors, Erhöhung der Zinssätze, Liberalisierung der Wirtschaft auch im Agrarbereich und vor allem Schaffung einer neuen Währung, die an den Dollar gekoppelt wurde, der Peso (1 Peso hat einen Wert von einem Dollar, wie der brasilianische Real). An der Spitze des "Superministeriums" der Wirtschaft befand sich Domingo Cavallo.

Diese Reformen haben die Inflation gestoppt und führten zu neuen ausländischen Investitionen. Nach Jahren der Finanzstagnation wuchs das Bruttoinlandsprodukt um 25% innerhalb von 3 Jahren.

Ende 1994 war die Begeisterung für diese schnelle Entwicklung allgemein: Die Märkte hatten Vertrauen, internationale Kapitalströme flossen und das laufende Defizit verringerte sich.

.... zu den wiederholten Finanzkrisen

Die zweite Häfte der 90er Jahre war für Argentinien tragisch, denn die mexikanische Krise und ihre "Tequila"-Auswirkungen warfen das Land in eine brutale Finanzkrise, da sich die internationalen Kapitalquellen ab 1995 massiv zurückzogen.

Das laufende Defizit, das vor Menems Reformen nicht existierte, wurde immer tiefer, parallel zu den Auslandsschulden. Das Land musste also immer höhere Summen ausgeben, um seine Schulden zu begleichen (der jährliche Schuldendienst stieg von 6 auf 21 Milliarden!), während die Regierungseinnahmen dramatisch sanken (die Steuerflucht war wahnsinnig) und der Peso überbewertet war.

Das Problem bestand darin, dass in Folge der totalen Liberalisierung der Wirtschaft die ausländischen Konzerne ihre Gewinne ins eigene Land leichter transferieren konnten und die ungesetzliche Flucht des lokalen Kapitals mühelos geschehen konnte: Die Steuerflucht, die 1998 ca. 40 Milliarden Dollar betrug, entzog dem Staat die Hälfte der Steuereinnahmen, die er normalerweise erhalten sollte. So zahlen nur 17% der hohen Einkommen eine Einkommensteuer! Parallel dazu ist die Besteuerung der Unternehmensgewinne niedrig: 33% gegenüber 45% in den USA. Wie fast überall in der Dritten Welt tragen die Armen die größte Steuerlast: Die Mehrwertsteuer ist von 14% auf 21% erhöht worden, was diejenigen, die den Hauptteil ihres Einkommens zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse ausgeben, stark belastet - also die Ärmsten.

Die Parenthese De la Rua oder der Wandel in der Kontinuität

Während die asiatische und russische Krise die Aufmerksamkeit der Analysten beanspruchte, versank Brasilien ebenfalls in eine Finanzkrise, die im Januar 1999 offenkundig wurde. Dabei gingen 30% der argentinischen Ausfuhren nach Brasilien.

Dieser Einnahmerückgang war für Argentinien dramatisch. Dabei hatte das Land unter den beiden Mandaten von Carlos Menem - wie wir schon gesehen haben - die Anpassungsprogramme des IWF und der Weltbank sorgfältig befolgt; 40% der Unternehmen und 90% der Banken wurden privatisiert, mehrere Hunderttausende Beamte wurden entlassen und die Schulbildung wurde geopfert.

Am 24. Oktober 1999 trat Fernando de la Rua die Nachfolge von Menem an und beerbte ein Land, das sich voll in einer Rezession befand. Die Landesfinanzen waren ruiniert und von den 36 Millionen Argentiniern lebten 14 Millionen offiziell unter der Armutsgrenze.

Während des Jahres 1999 nahmen die argentinischen Schulden um 12 Milliarden Dollar zu. Argentinien war das Land, das seine Schulden gegenüber den Finanzmärkten am meisten erhöhte: Gläubiger von drei Vierteln seiner Schulden sind die Finanzmärkte (ähnliche Anteile findet man auch in Brasilien, in Mexiko oder in Südkorea).

Diese Politik von massiven Kreditaufnahmen gegenüber den Finanzmärkten reichte jedoch nicht aus, um die Schulden zurückzuzahlen und das Land unterschrieb ein Abkommen mit dem IWF über eine Summe von 7,2 Milliarden, das ihm auferlegte, sein Haushaltsdefizit von 7,1 Milliarden auf 4,7 Milliarden innerhalb eines Jahres herabzusetzen, was eine Streichung von 2,5 Milliarden im Haushalt für 2000 bedeutete.

Die Hilfe der Weltbank wurde ebenfalls ersucht: Ende 1999 legte Argentinien eine Anleihe in 6 Abschnitten von je 250 Millionen auf, die von der Weltbank gedeckt wurde. Dieses Deckungssystem erlaubt es den Finanzmärkten, jegliche Nichtzahlung zu ihren argentinischen Investitionen zu vermeiden, da im Falle einer Säumnis die Weltbank das nötige Geld vorstrecken würde (Argentinien würde der Bank später den Betrag - samt Zinsen - zurückzahlen.).

Erneut zeigte sich, dass alle diese Kunststücke, die das Vertrauen in ihrer Natur nach instabile Märkte wiederherstellen sollten, nur eine ineffektive Flucht nach vorne waren.

Im Dezember 2000 war der Druck noch stärker, und die argentinische Regierung schöpfte ihre Geldreserven aus, wobei sie versuchte, die feste Bindung zwischen dem Peso und dem Dollar, die 1991 eingerichtet worden war, aufrechtzuerhalten. Die Vorteile einer solchen Parität waren damals vielfältig: Die Inflation eindämmen, jegliches Kurswechselrisiko bei den Rohstoffpreisen, die meistens in Dollar festgelegt werden, vermeiden und das Vertrauen der ausländischen Investoren wecken, was den Dollarwert ihrer argentinischen Investitionen angeht.

Aber als mehrere wichtige Nachbarn ihre Währung abgewertet hatten (Brasilien z.B.), stand Argentinien mit einer für die Region überbewerteten Währung da, was ihre Ausfuhren gegenüber mehreren lateinamerikanischen Ländern verteuerte und ihr Handelsdefizit verschlimmerte.

Die Entscheidung war also heikel: Muss man seine Währung abwerten und damit Gefahr laufen, eine irrationale Panik zu verursachen, die den Peso in unkontrollierbare Abgründe stürzen lassen könnte (wie es der Fall in Mexiko, Thailand, Russland oder Brasilien gewesen ist)? Oder soll man es vorziehen, die Parität mit dem Dollar aufrechzuerhalten und auf das Vertrauen der ausländischen Investoren zu setzen, die die Löcher des laufenden Defizits stopfen sollten?

Ende Dezember 2000 wurde die Entscheidung für den zweiten Weg bestätigt, und der IWF schnürte ein Hilfspaket von 39,7 Milliarden Dollar. Selbstverständlich wurden diese neuen Kredite nicht ohne Bedingungen vergeben: Liberalisierung des Gesundheitswesens, Deregulierung der Schlüsselbereiche wie Energie und Telekommunikation, Verringerung der Einfuhren, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Verstärkung der Privatisierungen usw. .Im Sommer 2001 kündigte die Regierung außerdem eine Kürzung der Gehälter im öffentlichen Dienst um 14% an.

Die Spirale war jedoch unerbittlich: Die Liberalisierung der Geldtransaktionen und die ungerechte Besteuerung, die vom IWF auferlegt wurden, ermöglichten eine Steuerflucht von -zig Milliarden Dollar pro Jahr, während der tief verschuldete argentinische Staat gezwungen war, auf den internationalen Märkten Kredite zu unerträglichen Zinssätzen aufzunehmen, damit er seinen laufenden Zahlungen nachkommen konnte. Die Risikoprämie erreicht 40% Ende 2001!

Die De la Rua Regierung wurde daher von einer IWF-Anleihe in Höhe von 1,2 Milliarden Dollar abhängig: Der IWF fordert eine Politik des "Nulldefizits", was zu Hungerrevolten, zum Sturz der Regierung und dem Zusammenbruch eines Landes führt, das eigentlich wichtige ökonomische und menschliche Reichtümer besitzt.

Was wird aus dem Chaos?

Heute kommt die argentinische Verschuldungskrise ans Tageslicht, während das Land in ein wahres Chaos versinkt. Praktisch alle industriellen und finanziellen Kräfte wurden an das ausländische Kapital verkauft, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst wurden zu massiven Opfern gezwungen, Schulbildung und Gesundheit sind für die wenigen zahlungskräftigen Personen reserviert, Armut und Ungleichheit nehmen ständig zu. Was werden die Strategen des IWF jetzt, wo das Land vollends verkauft wurde, der Bevölkerung vorschlagen, die durch die wiederholten Finanzkrisen niedergewalzt wurde? Was werden obendrein die zukünftigen argentinischen Regierungen angesichts einer so erdrückenden Schuldenlast ihren Bürgern vorschlagen?

Die neue Nummer Zwei des IWF, Anne Krüger, plädiert für die Einrichtung eines Systems zum Schutz vor dem Bankrott von Staaten, ähnlich dem amerikanischen Gesetz über Bankrott (Paragraph 11). Sie möchte dadurch den IWF auf die Rolle des Kreditgebers in letzter Instanz beschränken und es dem privaten Sektor überlassen, das Verschuldungsproblem zu regeln. Diese Maßnahme ist zweischneidig: Ein solches System setzt Kreditgeber und -nehmer gleich und erlaubt es dem Schuldner, ein Moratorium zu erklären, wodurch die Rückzahlung seiner Schulden eingefroren wird ... was zu einer Prozedur der Zahlungsunfähigkeit und zumindest teilweise Streichung der argentinischen Schulden führt. Argentinien verfügt über ein Urteil, wonach die Schulden der Videla-Diktatur ungesetzlich sind ... Selbstverständlich geht Anne Krüger in ihren Überlegungen nicht so weit.

Aber eine andere Frage wird sich vielleicht jetzt stellen: Wird Argentinien Brasilien in seinem Sturz mitziehen und durch eine generelle Erhöhung der Risikoprämien einen Dominoeffekt bei den aufkommenden Märkten in Gang setzen, die ihre wichtigsten Ausfuhrmärkte (USA und Japan) wegen der Krise im Norden verloren haben?

Aus: Grain de sable Nr.294 von Attac France, 22.12. 2001
Übersetzung: M.D.Vernhes
Der Autor ist Forscher am CADTM (Komitee für die Streichung der Schulden der Dritten Welt) und Sprecher von Attac-Belgien.



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr (Januar 2002).