DDR

1953: Der Arbeiteraufstand in der DDR

Der folgende Artikel wurde im Juli 1953 in Quatrième Internationale veröffentlicht. Er wurde unter dem unmit­telbaren Eindruck der Ereignisse des 17. Juni geschrieben und am 3. Juli abgeschlossen. Wir drucken ihn hier als ein historisches Dokument ab, durch das wir nicht nur über den Generalstreik der Arbeiterklasse der DDR informieren wollen. Es ist ein Ausdruck für die Solidarität, mit der die IV. Internationale bisher alle Kämpfe gegen die stalinisti­sche Bürokratie in jedem Lande des „realen Sozialismus“ unterstützt hat.

Ernest Mandel

Der Arbeiteraufstand, der vom 16. bis 19. Juni 1953 stattgefunden hat, ist die bedeutendste revolutionäre Aktion des deutschen Proletariats seit 1923.

Diese Aktion ist von historischer Tragweite und stellt eine neue Etappe im Aufschwung und in der Erneuerung des deutschen Proleta­riats dar. Sie ist auch eine neue Etappe im Übergreifen des internationalen revolutionä­ren Aufschwungs auf die Länder unter stalini­stischer Herrschaft. Aufgrund seines Ur­sprungs, seiner Dynamik und seiner besonde­ren Formen ermöglicht dieser Aufstand eine genaue Analyse der Arbeiteropposition, die dereinst die stalinistische Bürokratie stürzen wird.


Die Vorgeschichte


Die Arbeiter Ostdeutschlands, die 75 Jahre lang mit der Losung „Akkord ist Mord“ erzo­gen wurden, widersetzten sich von Anfang an mit allen Kräften der stalinistischen Politik, die versuchte, die Arbeitsproduktivität mittels intensivierter Produktion zu erhöhen, d.h. mittels gesteigerter physischer Ausbeutung der Arbeiter.

Dieser Widerstand war so stark, daß sich die stalinistischen Führer zu wiederholten Änderungen ihrer Betriebsorganisationen ge­zwungen sahen, um so zu verhindern, daß diese – so bürokratisiert sie auch waren –die wirklichen Bestrebungen der Arbeiter an den Tag bringen. Die Betriebsräte wurden aufgelöst und durch Betriebsgewerkschaftslei­tungen als Hauptorgan der „Arbeitervertre­tung“ im Betrieb ersetzt. Aber dieser Wechsel genügte nicht. Man ging deshalb zum jährli­chen Abschluß der Gesamtarbeitsverträge über, bei welchem jeweils die Produktions­normen, die „Pflichten“ der Arbeiter, festge­legt wurden. Dafür sprach ihnen die Direktion folgende „Rechte“ zu: Geldbeträge für die Kinderkrippen, Klubs, Kantinen usw. Diese Gesamtarbeitsverträge sollten öffentlich dis­kutiert werden, und über sie sollte offen abge­stimmt werden. Man hoffte, damit den stillen Widerstand der Arbeiter brechen und gleich­zeitig einige der „Anführer“ ausfindig ma­chen zu können, die diesen Widerstand „ideo­logisch vorbereitet hatten“.

Doch der Wille der Arbeiter zu Solidarität und Selbstverteidigung widerstand diesen Machenschaften. In den Jahren 1950 und 1951 lehnten es die Arbeiter im Laufe der ersten Verhandlungen über die Gesamtarbeits­verträge in zahlreichen Verträgen ab, über die Vorschläge der Regierung abzustimmen. In Fabriken wie Leuna in Merseburg (syntheti­sches Öl) und Riesa (Hochöfen und Stahl­werke) mußten vier, fünf Betriebsvollver­sammlungen durchgeführt werden, bis ein abgeändertes Projekt gutgeheißen wurde.

Mit dem psychologischen Hauptargument, wonach die Produktivität gesteigert werden müsse, um so den Lebensstandard der Werk­tätigen zu heben, versuchten die SED-Führer, eine ständige Erhöhung der Normen durchzu­setzen. Selbstverständlich diente ein bedeu­tender Teil der Produktionssteigerung nicht der Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter. Mit ihr wurde ein Akkumulationsfonds geöffnet, der fast aus­schließlich in die Schwerindustrie floß, und ein unproduktiver Verbrauchsfonds geschaf­fen, der der aufkommenden neuen Bürokratie zugute kam. Die Situation der Arbeiter hat sich ab 1947, nach den ersten, infolge des wirtschaftlichen Wiederaufbaus erzielten Er­folgen, zweifellos ständig verbessert, wenn­gleich langsamer als in Westdeutschland seit 1949.


Die Wende von 1952


Nachdem jedoch auf der 2. SED-Konferenz (Mai 1952) der „Aufbau des Sozialismus“, der Aufbau bewaffneter Streitkräfte der Deut­schen Demokratischen Republik, die be­schleunigte Kollektivierung der Landwirt­schaft und eine noch beschleunigtere Entwick­lung der Schwerindustrie proklamiert wurden, änderte sich die Lage schlagartig und begann, sich zusehends zu verschlechtern, was die SED-Führer heute gerne zugeben (Otto Grotewohl, Neues Deutschland, 17. Juni 1953). Es kam vorerst zu einer zunehmenden Lebens­mittelknappheit. Dann mußte Neues Deutsch­land am 31. Januar 1953 zugeben, daß „die Versorgung der Bevölkerung mit Textilien und anderen Industriegütern gemäß Plan ge­fährdet ist“!

Mit einem Regierungserlaß vom 2. Februar wurde versucht, durch einen Angriff auf den privaten Handel und die Privatindustrie die Lage zu verbessern. Daraus ergab sich jedoch lediglich ein weiterer Rückgang der im Lande zirkulierenden Verbrauchsprodukte. In dieser verzweifelten Lage ergriff die Regierung äu­ßerste Maßnahmen: sie hob für mehr als zwei Millionen Personen die Lebensmitteikarten auf und erhöhte gleichzeitig auf dem freien Markt die Preise für die am meisten konsu­mierten Produkte radikal (wie Zucker, Wurst­waren usw.).

Gleichzeitig begann in Ostdeutschland eine schwere Finanzkrise. Die beschleunigte Wie­deraufrüstung verschlang Riesensummen, die für Industrieinvestitionen vorgesehen waren. Um den Plan trotz allem erfüllen zu können, mußten die Mittel anderswo beschafft werden. Man schöpfte beim Fonds für soziale Sicher­heit, indem die Zahlungen für verschiedene Sozialversicherungen (Krankenkasse, Alters- und Arbeitsinvalidenversicherung, Ferien usw.) gesenkt wurden. Der Staatsbeitrag, dank welchem Fahrkarten jenen Arbeitern um 75 % billiger abgegeben wurden, die mit der Bahn zur Arbeit fahren mußten, wurde gestri­chen.

Auf die großen sozialen Spannungen, die sich in Ostdeutschland Anfang 1953 bemerk­bar machten, begann die Mittelklasse auf die für sie typische Art zu reagieren: sie floh. 1952 verließen 50 000 Personen die DDR; im Laufe der ersten vier Monate des Jahres 1953 stieg deren Zahl auf 150 000. 80 % der Flücht­linge waren Bauern, Handwerker, Händler oder Kleinindustrielle mit ihren Familien. Dieser Exodus verschärfte die wirtschaftliche Krise weiter; in zahlreichen Dörfern wurde im Frühling 1953 auf den Feldern nicht ausgesät. Es konnte nicht mehr so weitergehen; eine Wendung mußte vollzogen werden.

Am 9. Juni 1953 proklamierte das Zentral­komitee der SED den „neuen Kurs“ und setzte ihn sogleich in die Praxis um. Der Bourgeoisie und der Kleinbourgeoisie wurden bedeutende Zugeständnisse gemacht. Für den Handel und die Privatindustrie wurde ein praktisch kostenloses Kreditwesen eingerich­tet. Man versprach, die vor einem Jahr enteig­neten Unternehmen der Leichtindustrie wie­der in Privatbesitz zurückzuführen (am 27. Juni wurden die ersten Fabriken in Frankfurt an der Oder- ihren ehemaligen Besitzern zu­rückerstattet).

Den Bauern wurde das Verlassen ihrer Ge­nossenschaften erlaubt; ihre obligatorische Liefermenge an den Staat wurde drastisch ge­senkt. Der Kampf gegen die Kirche, die wich­tigste organisierte Kraft der Mittelklassen, wurde plötzlich unterbrochen. Der protestan­tische Jugendverband „Junge Gemeinde“, eben noch als „versteckte Spionageorganisa­tion“, als „ein Verein von Saboteuren und Provokateuren“ verunglimpft, wurde voll le­galisiert und durfte von nun an uneinge­schränkt funktionieren. Bedeutende Führer bürgerlicher Parteien, wie der ehemalige Ver­sorgungsminister Hamann, der wegen Kor­ruption unter Anklage stand, wurden auf freien Fuß gesetzt und mit größter Rücksicht behandelt.

Den Arbeitern hingegen wurde kein einzi­ges Zugeständnis gemacht. Im Gegenteil: während die Lebensbedingungen der anderen Gesellschaftsschichten verbessert wurden, verschlechterte man jene der Arbeiterklasse. Dies hat schließlich zur Explosion vom 16. bis 19. Juni geführt.


Steigerung der Normen


Am 28. Mai 1953 veröffentlichte die. Regie­rung ein Dekret, mit welchem die Produk­tionsnormen um durchschnittlich 10 % erhöht wurden. In einigen Industrien, wie in der Me­tallindustrie und im Baugewerbe, wurden die neuen Normen am 10. Juni eingeführt. In gewissen Fällen wurden die Lohnzettel vom 5., 7. und 10. Juni bereits aufgrund der neuen Produktionsformen berechnet, was bedeu­tende Lohneinbußen zur Folge hatte. In der Baubranche war diese Einbuße besonders kraß: 10 bis 15 % für unqualifizierte Arbeiter; 50 % und mehr für die qualifizierten, für wel­che gleichzeitig auch noch das Prämienbe­rechnungssystem geändert wurde (L'Observa­teur, 25. Juni 1953).

Dem Dekret vom 28. Mai ging eine syste­matische Kampagne der SED für die „freiwil­lige“ Steigerung der Normen voraus. Diese Kampagne stieß bei den Arbeitern auf beson­deren Widerstand: ein Vorzeichen der kom­menden Ereignisse. Das SED-Organ Freiheit aus Halle berichtete in seiner Ausgabe vom 29. Mai 1953 von einem wahren Aufstand in der Vollversammlung der Zeitz-Fabriken vom 16. April. Ein Arbeiter namens Wilhelm er­klärte: „Genossen, was sich heute bei uns ab­spielt, ist für einen Arbeiter eine Schande. 70 Jahre nach -dem Tod von Karl Marx müssen wir noch über die elementarsten Lebensbe­dürfnisse diskutieren. Wenn Karl Marx das hören würde, würde er sich im Grabe umdrehen.“

Ein anderer Arbeiter namens Mai fragte, wieviel Prämie der Parteifunktionär Kahnt erhalten und wieviel er dafür produziert habe. Die stalinistische Zeitung spricht von einer „offenen Provokation gegenüber der Partei“ und von der „Beschmutzung des Banners von Karl Marx“. Bald spricht sie eine andere Sprache.

Am 2. Juni berichtet Neues Deutschland über den Widerstand der Arbeiter gegen die Normenerhöhung in der Gießerei und Maschi­nenfabrik in Lichtenberg bei Berlin. Am 14. Juni berichtet die gleiche Zeitung, daß die Aktivisten der Unternehmung für Wohnungs­bau in Berlin am 28. Mai die 10 %ige Nor­menerhöhung mit großer Mehrheit verworfen haben; unter den Zimmerleuten einer Bau­stelle in der Stalinallee, einer der beiden größ­ten Baustellen Ostberlins, sei es sogar zu ei­nem Teilstreik gekommen.

Am 9., 10. und 11. Juni kommt es in zahl­reichen Betrieben Ostberlins zu heftigen Aus­einandersetzungen über die Normenerhöhung, vor allem in der Lampenfabrik Osram und der Textilfabrik „Fortschritt“. In dieser Textilfa­brik akzeptieren die Arbeiterinnen die Nor­menerhöhung am 12. Juni mit einer „provokatorischen“ Erklärung: „Diese An­nahme erfolgt nicht freiwillig, sondern wurde mit Gewalt aufgezwungen.“ Provozierend war jedenfalls der Grundsatzartikel in der Gewerkschaftszeitung Tribüne vom 14. Juni, wo es hieß, daß der „neue Kurs“ nicht auf die Normenfrage angewendet werde.

Unter den Bauarbeitern ist die Erregung jedoch am größten. Erstens, weil die Löhne der qualifizierten Arbeiter dort am stärksten gesenkt worden sind. Zweitens, weil die Ber­liner Bauarbeiter eine lange revolutionäre syn­dikalistische Tradition besitzen. Noch im Jahre 1932 gehörten 80 % der gewerkschaft­lich organisierten Bauarbeiter Berlins nicht dem reformistischen Gewerkschaftsbund, sondern einer revolutionären Baugewerk­schaft an, die unter Leitung oppositioneller Kommunisten stand. Drittens, weil die Leute vom Bau, vor allem der wichtigsten Baustel­len der Stalinallee und vom Friedrichshain, mehrheitlich aktive SED-Mitglieder und sehr bewußte Kommunisten sind, voll Vertrauen in ihre eigenen Kräfte. Viertens, weil die Berli­ner Bauarbeiter wie die Stahlarbeiter im Werk Fürstenberg und die Minenarbeiter von Zwickau eine lange – erfolglose! – Kam­pagne gegen die miserable Arbeitsorganisa­tion, den Verschleiß und die Inkompetenz der Bürokratie geführt haben. Trotz mehrerer freiwilliger Normenerhöhungen erfüllte das Baugewerbe seinen Plan im ersten Quartal 1953 lediglich zu 77 %. Unter diesen Bedin­gungen eine neue Normenerhöhung von den Arbeitern zu verlangen – ohne dabei die un­fähigen führenden Bürokraten zu entfernen –, stellte eine wahre Provokation dar.

 

Streikende Bauarbeiter

Berlin, Haus der Ministerien, 17.6.1953, Foto: unbekannt, Bundesarchiv

Am 8. Juni ergreifen die Arbeiter von Block 40 der Stalinallee, zu 75 % SED-Mitglieder, die Initiative zur Abstimmung einer Resolu­tion, mit welcher die Aufhebung der Normen­erhöhung gefordert wird. Die Resolution wird in Form einer Petition abgefaßt und „an den Präsidenten unserer Regierung, Genosse Otto Grotewohl, und an den Generalsekretär unserer Partei, Genosse Walter Ulbricht,“ gerich­tet. Diese Petition 'bleibt unbeantwortet. Im Gegenteil: am 10. Juni kommen die neuen Normen zur Anwendung. Am 10. Juni schlie­ßen sich die Arbeiter der Eisenwerke Hen­nigsdorf der öffentlichen Protestbewegung an und beschließen nach einer lebhaften Ver­sammlung, am nächsten Tag in den rotieren­den Streik zu treten. Am 15. Juni treten die Bauarbeiter vom Friedrichshain ihrerseits in Aktion und es kommt auf dieser Baustelle zum Teilstreik.

Die von der Regierung geübte Selbstkritik wegen der von ihr am 12. Juni angenomme­nen ZK-Beschlüsse der SED über den „neuen Kurs“ gibt ihrem Prestige den Todesstoß, und zwar wegen der streng bürokratischen Form, in welcher die „schweren Fehler“ zugegeben werden. Das Volk hat den Eindruck, solche Geständnisse könnten nichts anderes bedeu­ten, als daß die UdSSR die SED „fallen läßt“. So werden die Voraussetzungen geschaffen, die schließlich zur Explosion vom 16. Juni führen.

Beim Teilstreik der Bauarbeiter vom Fried­richshain werden zwei „Anführer“ von der Vopo (Volkspolizei) verhaftet. Die Arbeiter vom Friedrichshain entsenden eine Delegation auf die Bauplätze an der Stalinallee, um ihre Kollegen darüber zu informieren. Am Mor­gen des 16. Juni spricht man auf sämtlichen Bauplätzen der Stalinallee von diesem Streik. Die Arbeiter eines Blocks beschließen, an­derswo Arbeit zu suchen. Als sie sich bereit machen und weggehen wollen, legen auch die anderen Arbeiter ihre Arbeit nieder. Man be­schließt, in einem Massenzug zum Regie­rungsgebäude zu marschieren und dort eine Antwort auf die Petition vom 8. Juni zu ver­langen. Der Demonstrationszug durch die Stadt verläuft geordnet. Die Vopo glaubt, es handle sich um eine offizielle Demonstration und läßt sie passieren. Unterwegs schließen sich mehrere tausend Bauarbeiter ihren Kolle­gen von der Stalinallee an. Vor dem Regie­rungssitz sind es sechstausend. Sie möchten mit Grotewohl und Ulbricht sprechen; doch Wirtschaftsminister Rau und Bergbauminister Selbmann kommen heraus und versuchen, die Menge zu beruhigen. Ein Arbeiter, der die Ratlosigkeit der Bürokraten bemerkt, stößt diese beiseite und richtet sich an die Menge, wobei er folgende Forderungen an die Arbei­ter vorbringt:

Der Redner ruft den Generalstreik in Berlin für den nächsten Tag aus, um diesen Forde­rungen Nachdruck zu verleihen. Die Menge der Streikenden hat bereits vorher von ihrem hohen Bewußtseinsgrad Zeugnis abgelegt, denn sie schreit den stalinistischen Bürokraten zu: „Wir sind die wahren Kommunisten, nicht Ihr!“


Der 17., 18. und 19. Juni in den übrigen Städten


Inzwischen verbreitet sich die Nachricht von den Ereignissen in Berlin in ganz Ost­deutschland. In allen Industriezentren kommt es zu Solidaritätsbewegungen, Streiks und Straßendemonstrationen. In Magdeburg, einer alten Bastion der Sozialdemokratie, lassen die Arbeiter die politischen Gefangenen frei und fordern auf einer Kundgebung die Zulassung der Sozialdemokratischen Partei. Die Eisen­bahnarbeiter von Magdeburg bringen an ihren Lokomotiven die Aufschrift an, „Wir verhan­deln weder mit Ulbricht noch mit Adenauer, wir verhandeln nur mit Ollenhauer“ und fah­ren damit überall im Land herum (Ollenhauer, der Vorsitzende der SPD, stammte aus Mag­deburg).

In Halle und Erfurt herrschte der General­streik und die Straßendemonstrationen sind besonders heftig: die Gefängnisse werden ge­stürmt. In Leipzig, der zweitgrößten Stadt der DDR, stehen die meisten Fabriken im Streik, und die Demonstration ist ebenfalls sehr hef­tig. Große Fabriken wie die Schiffswerft Nep­tun in Rostock, die Zeiss-Fabriken in Jena, Lowa in Görlitz, Olympia in Erfurt, Buna in Halle, die Lokomotivfabriken in Babelsberg, die Stahlwerke in Fürstenwalde und Branden­burg haben alle die Arbeit niedergelegt.

Das Zentrum des Streiks auf dem Lande und in einem gewissen Sinne der ganzen DDR sind die berühmten Leuna-Werke in Merse­burg. Die Arbeiter von Leuna haben eine große, heldenhafte Vergangenheit: Leuna war im Ersten -Weltkrieg das Zentrum der Sparta­kus-Bewegung und die Hochburg der jungen Kommunistischen Partei Deutschlands. Die heldenhafte Erhebung dieser Arbeiter im März 1921 war einer der Höhepunkte des re­volutionären Kampfes in Deutschland. Unter Hitler war Leuna eines der wichtigsten Wider­standszentren der Arbeiterklasse. Seit 1950 leistet Leuna den heftigsten Widerstand gegen die Normenerhöhung.

Als der Streik dort am 17. Juni ausbricht, geben die Arbeiter über das Radio Anweisun­gen, wie der Streik und der Widerstand zu organisieren seien. Eine Delegation von 1500 Leunaer Arbeitern überbringt den streikenden Berliner Arbeitern eine Grußbotschaft. Am 18. Juni beginnt die Repression; Hunderte von Arbeitern werden verhaftet. Aber der hartnäckige Widerstand kann nicht gebrochen wer­den. Nachdem die stalinistischen Bürokraten zugeschlagen haben, beginnen sie nun zu scharwenzeln: Generalsekretär Ulbricht be­gibt sich persönlich nach Leuna, um die Ar­beiter zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen. Aber die Streikenden beschließen, die Versammlung zu sabotieren: Von 23 000 Arbeitern erscheinen lediglich 1300. Am 23. Juni dauert der Streik in Leuna noch immer an! In der Geschichte des Arbeiterkampfes gegen die Bürokratie stellt dieser Streik einen Erfolg ohnegleichen dar.

Am 17. Juni, schließen sich die Metallar­beiter von Hennigsdorf und die Arbeiter der Reichsbahn-Bau-Union in Velten dem Gene­ralstreik an, zu welchem bereits in der ganzen DDR aufgerufen wurde. 30 000 an der Zahl durchqueren sie den Westsektor, um zum Walter-Ulbricht-Stadion zu gelangen, wo sie den Sturz der Regierung und die Einsetzung einer „Metallarbeiter-Regierung“ diskutie­ren, das heißt einer Regierung der Arbeiter­räte. Alle Bauarbeiter haben die Arbeit nie­dergelegt und demonstrieren vor dem Regie­rungsgebäude. Die Arbeiter vieler bedeuten­der Fabriken schließen sich ihnen an, vor al­lem jene der Kabelwerke Köpenick, der Os­ram, der Eisenbahn-Reparaturwerkstätten, der Plania-Siemens in Lichtenberg, der ehe­maligen AEG-Fabriken in Treptow usw. Dann schließen sich auch alle Angestellten der Untergrundbahn, der Hochbahn und der Tram den Streikenden an, deren Zahl auf 150 000 angestiegen ist. Der Korrespondent des Observateur stellt fest, die Transportarbeiter hät­ten der Demonstration den Stempel von Ord­nung, Disziplin und sozialistischem Bewußt­sein aufgedrückt.

Bis zum Mittag des 17. Juni behält die Demonstration klaren Arbeitercharakter und wird von hohem Bewußtsein getragen; es kommt zu wenigen oder keinen Gewalttaten. Doch am Nachmittag beginnen zahllose Ele­mente aus Westberlin in den Ostsektor einzu­dringen, wo die Vopo völlig machtlos ist. Unter ihnen befinden sich gut organisierte re­aktionäre Banden, vor allem die Bande der BDJ, von den Amerikanern finanzierte faschi­stische Mordkandidaten, deren Vorbereitung zur Ermordung der wichtigsten sozialdemo­kratischen Führer vom Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Zinn, 1952 angeprangert worden war.

Diese Lumpenproletarier sowie junge demoralisierte Arbeitslose begehen die haupt­sächlichsten Vandalenakte, plündern Läden und stecken Hochhäuser am Potsdamer Platz in Brand. Dieser Aufruhr hat das Eingreifen des sowjetischen Kommandanten zur Folge, der den Belagerungszustand verhängt. Doch die Menge weicht nur langsam; erst zu Beginn des nächtlichen Ausgehverbotes leeren sich die Straßen. Die Vopo schießt auf Aufrührer­gruppen und tötet 16 Personen, davon elf Bewohner Westberlins und einige Jugendliche aus Ostberlin. Ein einziger Streikender befin­det sich unter den Opfern.

Nach Presseberichten – und Nachrichten un­serer Berliner Freunde war der Streik am 17. Juni noch nicht zu Ende. Noch am 18. Juni bleiben in Berlin 50 % der Streikenden ihrer Arbeit fern. Am 19., 20. und 21. Juni dauert der Streik in einigen Arbeiterzentren weiter an, vor allem im Block 40 der Stalinallee und bei den Kabelwerken in Köpenick, wo Berich­ten der stalinistischen Presse zufolge ein Streikkomitee funktioniert.


Die Voraussetzungen, die für den Sieg notwendig waren


Der Streik vom 17. Juni konnte nicht zum Sieg führen, da er auf die DDR beschränkt blieb. Die sowjetische Besatzungsmacht wäre früher oder später eingeschritten und zum Kampf gegen die sowjetischen Panzer und Bajonette waren die Ostberliner Arbeiter nicht gerüstet. Damit der Streik siegreich verlaufen konnte, mußte er sich auf Westberlin und Westdeutschland ausdehnen. Die Streikenden hatten dies instinktiv begriffen! Nach den Be­richten unserer Berliner Freunde rief der Bau­arbeiter, der am 16. Juni vor dem Regierungs­sitz den Generalstreik proklamierte, diesen nicht nur für Ostberlin, sondern für ganz Ber­lin aus. Die Metallarbeiter von Hennigsdorf, die durch den französischen Sektor Berlins zogen, suchten dort nicht Zigaretten und Schokolade, die man ihnen zuwarf; sie such­ten ihre Kollegen der Westberliner Metallin­dustrie. Leider blieben diese in ihren Fabri­ken.

Anstelle sozialistischer Proletarier mischten sich Lumpenproletarier aus Westberlin unter die Demonstranten und ließen die Demonstra­tion entarten. Damit begünstigten sie weitge­hend die sowjetische Intervention. Man stelle sich vor, den sowjetischen Soldaten wäre an­stelle reaktionärer Jugendlicher, die rote Fah­nen verbrannten, sozialistische Arbeiter aus Westberlin in geschlossenen Reihen und in Arbeitskleidung entgegengekommen, die rote Fahnen trugen und die „Internationale“ san­gen! Die Anwendung der Repression wäre äußerst schwierig gewesen, und wenn sie trotz allem ausgeübt worden wäre, hätte sie bei den Soldaten der Sowjetarmee tiefe Spuren hinter­lassen! Berichten aus der Provinz zufolge, wo die Demonstrationen einen stärkeren proleta­rischen Charakter aufwiesen als die Demon­stration am Nachmittag des 17. Juni in Ostber­lin, haben die Sowjetsoldaten in Halle demon­strativ in die Luft geschossen, als die Menge sich ihnen näherte und dafür frenetischen Applaus seitens der Arbeiter geerntet.

Die für den Sieg in Ostberlin so notwendi­gen Voraussetzungen waren in Berlin so of­fensichtlich, daß sogar bei der Versammlung der SPD-Parteiführung, welcher mehrere na­tionale Parteiführer beiwohnten, einige Red­ner die Frage eines Solidaritätsstreiks aufwar­fen, um sie dann aber unter dem seither klas­sisch gewordenen Vorwand abzulehnen, die „objektiven Bedingungen seien noch nicht reif dazu“. Trotz der zweifellos ungünstigen Atmosphäre in Berlin mit seinen 300 000 Arbeitslosen und einer SPD, die in Deutsch­land am weitesten rechts stand, warteten die Westberliner Arbeiter auf Anweisungen, die nie eintrafen. Die Tatenlosigkeit der SPD war die natürliche Ergänzung zur sorgfältig vorbe­reiteten und geführten Aktion der reaktionä­ren Banden. Mit ihrer Fähigkeit zum sponta­nen Handeln haben die Ostberliner Arbeiter den sozialdemokratischen Arbeitern der West­zone eine Lehre erteilt. Mögen ihre Brüder im Westen dieses Beispiel bald nachahmen!

Die Besatzungsmächte und die deutsche Bourgeoisie waren 'über die Streikbewegung sehr erschrocken. Sie erkannten von vornher­ein den explosiven Charakter und die Gefahr, daß sie sich über die Demarkationslinie hinaus ausdehnen könnte. Was sie wollten, waren einige blutige Zwischenfälle, um die Sowjetarmee zu diskreditieren, und kein er­folgreicher Arbeiterstreik, der die Arbeiter­klasse in ihrer Überzeugung bestärkt hätte, daß sie die einzige aktive Kraft im Lande dar­stellt! Sie hatten auch alles Interesse daran, die Zwischenfälle am Nachmittag des 17. Juni zu provozieren und zu begünstigen, die zur so­wjetischen Intervention geführt haben.

Ihre Angst war so groß, daß sie sofort jede Demonstration oder öffentliche Versammlung in Westberlin verboten, für die nicht im vor­aus um Erlaubnis nachgesucht wurde. Ein diesbezügliches Gesuch der Sozialistischen Jugend wurde mit der Begründung abgewie­sen, „alle demokratischen Organisationen müßten gemeinsam vorgehen“.

Ironie des Schicksals: während die westli­che Propaganda behauptete, die Arbeiter im Osten streikten für „die demokratische Frei­heit“, begannen westliche Militärpotentaten eben diese Freiheit in Westberlin zu unterbin­den. Ist das wirklich ein Zufall oder nicht eher ein Symbol?


Die Arbeiter der DDR wurden nicht geschlagen


Wenn der Streik vom 17. Juni wegen des Stillhaltens und der Feigheit der westlichen Arbeiterführer auch nicht zu einem vollen Erfolg wurde, so kann doch keineswegs ge­sagt werden, daß er im Blut ertränkt worden sei. Die Repression der sowjetischen Trup­pen, so hart sie auch gewesen sein mag – man spricht von 30 Toten –, war trotz allem zu sehr begrenzt, um die riesigen Massen wirk­lich einzuschüchtern, die sich ihrer eigenen Kraft bewußt geworden sind. Angesichts des andauernden, hartnäckigen Widerstandes der Arbeiter versuchen es die stalinistischen Füh­rer abwechslungsweise mit Versprechungen und Drohungen, kündigen dann die Freilas­sung der meisten verhafteten Arbeiter an und sind bereit, eine rasche Verbesserung der Lebensbedingungen zu versprechen.

„Gebt uns 14 Tage Zeit,“ bittet Grotewohl vor einer Arbeiterversammlung. „Wir sind für das, was vorgefallen ist, voll verantwort­lich,“ erklärt er unter großem Applaus der Zuhörer. Wir wetten, daß er diese Art von Applaus nicht so sehr mochte … Unter solchen Bedingungen kann es in der Arbeiterklasse kein Gefühl der Niederlage geben. Ja mehr noch: die bedeutenden Konzessionen, die die stalinistischen Führer zugestanden haben und weiter zugestehen, verstärken bei den Arbei­tern den Eindruck, daß ihre Bewegung zu ei­nem bedeutenden Erfolg geführt hat. Bei aller vergangenen, bei den stalinistischen Führern üblichen, „Kritik und Selbstkritik“ hat man noch sie so etwas erlebt!

Sowjetische Panzer

Leipzig, Georgi-Dimitroff-Museum (ehemaliges Reichsgericht), 17.6.1953, Foto: unbekannt, Bundesarchiv

 

Am 16. Juni wird die Normenerhöhung von 10 % verschoben; deren administrative Verfü­gung wird verurteilt. Am 21. Juni stellt das Zentralkomitee bedeutende Summen des Inve­stitionsfonds der Schwerindustrie für den ver­stärkten Wohnungsbau, den Ausbau der Sozi­alversicherungen und für die Erhöhung der Staatsbeiträge frei, mit denen die Bahnfahr­karten zum reduzierten Tarif für die Arbeiter wieder eingeführt werden. Am 26. Juni gibt der Ministerrat bekannt, daß die Hälfte des für die Schwerindustrie bestimmten Investitions­fonds der Konsumgüterindustrie zufließen werde: Baumaterialien gelangen in den freien Verkauf, damit die Arbeiter eigene Häuser bauen können. Die Versorgung mit Textilien soll von nun an mit den Staatsbeiträgen von den Betrieben selbst organisiert werden.

Insgesamt werden zwei Milliarden Deut­sche Mark von der Schwerindustrie und der Aufrüstung in die Leichtindustrie und den Wohnungsbau umgeleitet.

Nach Berichten der stalinistischen Presse kommt auf den Betriebsversammlun­gen das von den Arbeitern erworbene Gefühl der Stärke und des Selbstvertrauens klar zum Ausdruck. Die Partei- und Gewerkschafts­führer werden überall am heftigsten kritisiert. Die Arbeiter sprechen nicht nur von den Nor­men, den Löhnen und den Preisen in den HO. Sie werfen hochpolitische Fragen auf.

In der Transformatorenfabrik in Oberschö­neweide fragen sie Grotewohl: „Würden Sie nicht besser zurücktreten?“ (Neues Deutschland, 24. Juni 1953). Grotewohl windet sich, verspricht, der „Volkskammer“ einen Bericht vorzulegen, die dann souverän entscheiden werde. In der Zwischenzeit habe die Regie­rung die Pflicht, ihre Fehler gutzumachen …

In der Maschinenfabrik Berlin-Weißensee nehmen die Arbeiter Ulbricht beim Wort, der sie zur offenen Kritik aufforderte. „Wir ver­langen die Zusicherung, daß uns hinterher nichts passiert … Was ist aus den drei Genos­sen geworden, die seit dem 17. Juni aus der Transport-Abteilung verschwunden sind?“ Seit 1927 sahen sich die stalinistischen Führer nie mehr gezwungen, diesen Ton geduldig anzuhören und Rede und Antwort zu stehen.


Die „Selbstkritik“ der SED-Führer


Zwischen dem 16. und 26. Juni müssen die SED-Führer in der Tat eine Selbstkritik üben, die en den Grundfesten der stalinistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik rüttelt. Die Par­teiführer geben offen zu, daß verschiedene soziale und ökonomische Spannungen beste­hen, die die revolutionär-marxistische Bewe­gung bereits seit Jahrzehnten aufzeigt und ver­urteilt.

Sie geben zu, daß die übertriebene und un­proportionale Entwicklung der Schwerindu­strie zu einer Senkung des Lebensstandards der Arbeiter geführt und einen wirtschaftli­che, soziale und politische Krise größten Aus­maßes ausgelöst hat: „Die forcierte Entwick­lung der Schwerindustrie hat zu einer Ein­schränkung der Konsumgüterindustrie ge­führt. Dies wiederum hat ein späteres Anstei­gen des Lebensstandards verhindert.“ (Neues Deutschland, 17. Juni 1953.)

Sie geben zu, daß die Normen auf rein ad­ministrative Weise und gegen den Willen der Arbeiter ständig erhöht wurden, was zu Unzu­friedenheit bei den Arbeitern geführt hat: „Die verfehlten Maßnahmen haben in zuneh­menden Maß zur Anwendung falscher admini­strativer Maßnahmen geführt (um die Normen zu erhöhen) und sogar zu verstärkten Straf­maßnahmen (um diese Erhöhungen durchzu­setzen), … was die schöpferischen Kräfte des Volkes eingeschränkt hat.“ (Grotewohl, Neues Deutschland, 17. Juni 1953.)

Sie geben zu, daß die sogenannte „freiwilli­ge“ Normenerhöhung in Wirklichkeit eine administrativ verfügte Erhöhung war, die mit Hilfe von Druck, Drohungen oder sogar Ge­walt durchgesetzt wurde: „Am 1. Mai haben die Leiter von Wohnungsbauunternehmen (in Berlin) ein Pressekommuniqué veröffentlicht, in welchem sie erklärten, daß die große Mehr­heit der Arbeitsbrigaden freiwillig ihre Nor­men um 10% erhöht hätten. Bei einer Zusam­menkunft dieser Leiter mit den Aktivisten und Brigadiers vom 28. Mai lehnte die große Mehrheit diese Normenerhöhung jedoch ab.“ (Neues Deutschland, 14. Juni 1953.)

Sie geben zu, daß die Gewerkschaften bis heute als verlängerter Arm der Leitungen der staatlichen Betriebe fungiert haben: „Die Bau- und Holzarbeitergewerkschaft des FDGB darf nicht mehr als Pendant zu den Be­triebsleitungen. funktionieren.“ (Neues Deutschland, 17. Juni 1953.)

Sie erkennen jetzt die „trotzkistische“ Idee an, die bereits von der KP Jugoslawiens und teilweise von der KP Chinas übernommen wurde, daß die Verteidigung der Arbeiterin­teressen die Aufgabe der Gewerkschaften ist, wenn nötig gegen den Willen der Leitungen der staatlichen Betriebe (diese Idee stammt in Wirklichkeit von Lenin und wurde von der bolschewistischen Partei in ihren Thesen über die Gewerkschaften aufgenommen):

„Eine Reihe von Gewerkschaftsleitungen vergessen in ihrem Bestreben, die Arbeitspro­duktivität in den staatlichen Betrieben zu stei­gern, daß gleichzeitig die Arbeiterinteressen gegen jede Form bürokratischer Verfälschung verteidigt werden müssen. Diese falsche Pra­xis muß überwunden werden … Die Haupt­aufgabe der Gewerkschaften besteht gegen­wärtig in der ehrlichen und sorgfältigen Erfül­lung ihrer Funktion als Vertreterin der Arbei­terinteressen im Kampf für verbesserte wirtschaftliche und kulturelle Lebensbedingungen in jedem Betrieb, jedem Dorf, jeder Stadt.“ (Neues Deutschland, 20. Juni 1953.)

Als Antwort auf die Repression, beginnen die Arbeiter, offen das Streikrecht zu fordern. Sie fragen die SED-Führer, ob es in der DDR ein Streikrecht gebe. Noch am 24. Juni erklärt Walter Ulbricht in seiner Rede in den Leuna­Werken, „daß es im Prinzip unerträglich ist, daß in der DDR gestreikt wird, denn mit ei­nem Streik gegen einen Arbeiterstaat schnei­den sich die Arbeiter ins eigene Fleisch“.

Aber eine Woche später muß auch in dieser Frage unter zunehmendem Druck der Arbeiter eine Wende vollzogen werden. Neues Deutschland veröffentlicht in seiner Ausgabe vom 2. Juli einen Zusatz zu einem Interview mit dem ostdeutschen Justizminister Max Fechner, in dem es heißt: „In der DDR ist das Streikrecht in der Verfassung verankert. Die Streikkomiteemitglieder werden für ihre Akti­vitäten in diesen Komitees nicht bestraft.“


Das Echo auf den Arbeiteraufstand


Die Ereignisse vom 16. bis 19. Juni werden den Aufschwung der Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit, das heißt in erster Linie die westdeutschen Arbeiter, nachhaltig beeinflus­sen. Diese hatten bis jetzt in bezug auf die Wiederaufnahme der Kämpfe in Deutschland die Initiative. Die Initiative ist jetzt an ihre Brüder im Osten übergegangen. Ohne Zweifel regt das Beispiel von Berlin den Kampfwillen der Aktivisten und Funktionäre der Avant­garde in den Massenorganisationen West­deutschlands an und weitet ihre Sicht. Die Arbeiter von Berlin, Leuna, Magdeburg und Leipzig haben bewiesen, daß den Vopo-Kräf­ten und der Drohung der sowjetischen Besat­zungskräfte durch die Massenaktionen wider­standen werden kann.

Die westdeutschen Arbeiter können daraus die Lehre ziehen, daß die westdeutsche Poli­zei noch viel leichter besiegt werden kann, solange die neue Armee noch nicht aufgebaut worden ist. Die Einheit Deutschlands, die Ei­nigung der Arbeiterbewegung ganz Deutsch­lands wird mehr und mehr zu einer revolutio­nären Perspektive, in welcher die deutsche Arbeiterklasse erneut als die wichtigste Arbei­terkraft Europas auftritt. Die Forderung nach sofortigem Rückzug der Besatzungstruppen aus Deutschland kommt für die internationale Arbeiterbewegung der Forderung nach Auf­hebung des größten Hindernisses für den re­volutionären Aufschwung in Deutschland gleich.

Die Berliner Ereignisse werden sich – nach den ähnlichen Zwischenfällen in Pilsen und Brünn bei der letzten tschechoslowakischen Währungsreform – in allen Industriezweigen der Volksdemokratien und sogar der UdSSR auswirken. Zum ersten Mal haben die Arbei­ter der stalinistischen Bürokratie durch die Massenaktionen bedeutende Zugeständnisse abgerungen. Dieses Beispiel wird anderswo geprüft und nachgeahmt werden. Als indirek­tes Produkt der kürzlichen Entwicklung der UdSSR (auf Moskaus Befehl zwang Semjo­now die SED zu ihrem „neuen Kurs“) werden die revolutionären Berliner Ereignisse diese Tendenz in der stalinistischen Politik in der UdSSR beschleunigen, die seit dem Tod Sta­lins sichtbar geworden ist. Die sowjetischen Führer werden mit Vorbeugemaßnahmen zu verhindern versuchen, daß eine ähnliche Streikwelle über ihr eigenes Land hinweg-rollt.

Es ist jedoch zweifelhaft, ob dieses Ziel erreicht werden kann. In den industrialisierten Volksdemokratien und in der UdSSR ver­schiebt sich das Kräfteverhältnis immer mehr zuungunsten der Bürokratie. Das Vertrauen der Arbeiter in ihre eigene Kraft und in ihre eigene Zukunft wird einen neuen Schritt nach vorn machen. Die Berliner Ereignisse stellen somit eine entscheidende Etappe auf dem Weg zum revolutionären Sturz der Bürokratie durch das Proletariat, zum Wiederaufleben und Tri­umph der Sowjetdemokratie dar.


Die Lehren aus dem Arbeiteraufstand


Der Verlauf dieses proletarischen Kampfes gegen die Bürokratie, den wir früher nur punktuell nachvollziehen konnten, läßt sich nun vollständig nachzeichnen. Im Gegensatz zu allen Voraussagen der Skeptiker und Kapi­tulanten wird dieser Kampf nicht von demora­lisierten Sklaven, sondern von bewußten kom­munistischen Arbeitern geführt und weiter geführt werden. Sie führen ihn nicht unter der Fahne „westlicher Freiheit“, sondern unter der Fahne des echten Kommunismus, der Demokratisierung des Staates und der Arbei­terorganisationen, der direkten Arbeiter­macht, das heißt der Macht der Arbeiterräte. [1]

      
Mehr dazu
Linke Opposition: „Die kommunistische Alternative. Texte der Linken Opposition und der IV. Internationale 1932-1985“ (Neuerscheinung), Inprekorr Nr. 220 (Oktober 1989)
Resolution des XII. Weltkongresses der IV. Internationale: Auszug aus „Sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats“: Die Arbeiterräte und die Ausdehnung der demokratischen Rechte der Massen, Inprekorr Nr. 222 (Dezember 1989)
Anna Libera: Ungarn 1956 - Eine Revolution der Arbeiterräte, Inprekorr Nr. 188 (Dezember 1986)
„die Internationale“ 1956: Die antibürokratische Revolution in Polen und Ungarn, Inprekorr Nr. 188 (Dezember 1986)
Robi Morder: Der Prager Frühling 1968/69 - Selbstverwaltung und Arbeiterräte, Inprekorr Nr. 442/443 (September/Oktober 2008)
 

Ihre Aktionen werden nicht von „neuen Ideen“ – nach dem „Mißerfolg des Bolsche­wismus und Marxismus“ – angeführt, son­dern von der alten spartakistischen, bolsche­wistischen, kommunistischen Tradition gelei­tet. Die Zukunft bringt nicht die „Synthese“ zwischen bürgerlicher Demokratie und stalini­stischer Diktatur, sondern den Triumph der Sowjetdemokratie, die auf der gesellschaftli­chen Grundlage aufgebaut ist, die durch die Oktoberrevolution neu geschaffen wurde und die sich auf die Volksdemokratien ausgedehnt hat. Objektiv gesehen haben die Streikenden von Ostberlin das trotzkistische Programm und seine Perspektiven auf eklatante Weise bestätigt.

Vor einem Jahr, als wir über die Diskussio­nen berichteten, die die chinesische Revolu­tion in der KPdSU ausgelöst hatte, wiesen wir darauf hin, daß die Fortschritte in der interna­tionalen Revolution revolutionäre Ideen in die UdSSR schleudern werden. Bei der Veröf­fentlichung des letzten Werks von Stalin wur­den die mühsamen Erklärungen des heißge­liebten Führers von einer Welle revolutionä­rer Kritik an der Bürokratie begleitet. Nach dem Tod Stalins kam das Ausmaß der den Massen zugestandenen Konzessionen dem Geständnis gleich, daß die Unzufriedenheit unter der Bevölkerung über die Bürokratie weit verbreitet war. Am vergangenen 1. Mai stand im Aufruf der IV. Internationale, daß der internationale revolutionäre Aufschwung nun die unter stalinistischer Herrschaft stehen­den Völker erreiche. Dank den Arbeitern von Ostberlin, deren Mut und hohes kommunisti­sches Bewußtsein wir begrüßen, können wir heute ohne Übertreibung sagen: Der revolu­tionäre Aufschwung gegen die stalinistische Bürokratie hat begonnen. In der Geschichte der Weltrevolution in unserer Zeit hat ein neues Kapitel begonnen.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 222 (Dezember 1989). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Die westdeutschen Kapitalisten wissen sehr genau, wes­halb sie den Kampf der Arbeiter der DDR als einen „Frei­heitskampf“ hinstellen; sie hoffen auf den Sturz der DDR, um in Ostdeutschland die Freiheit des Privateigentums und der freien Ausbeutung der Arbeitskraft zurückzuerobern. Einige Tage nach dem Streik vom 16. Juni hat der Staatsse­kretär für innerdeutsche Fragen in Bonn, Thiedeck, an ei­ner Sitzung der Handelskammer in Koblenz erklärt, daß die erste Aufgabe auf dem Weg zur deutschen Wiedervereini­gung die Abschaffung der Planwirtschaft in der russisch besetzten Zone und die Re-Integrierung dieser Wirtschaft in jene Westdeutschlands sei, die auf dem freien Markt ba­siert. Der ehemalige Minister Walter von Keudell äußert sich in der Welt vom 1. Juli 1953 im gleichen Sinne. Der wirtschaftliche Pressedienst der SPD-Führung kritisierte diese Pläne in seiner Ausgabe vom 25. Juni 1953 auf das heftigste. Er enthüllte auch, daß im Ministerium für inner­deutsche Fragen in Bonn seit 15 Monaten ein Forschungs­institut besteht, das alle Details der Rückführung in Privat­eigentum der Wirtschaft Ostdeutschlands für den „Tag J“ vorbereitet hat. Leider führt die SPD keine einzige öffentli­che Kampagne gegen diese Projekte. In ihren Tageszeitun­gen schreibt sie nichts darüber. Zudem beteiligt sie sich ak­tiv an dem Konzert über den sogenannten „Freiheits­kampf“ der Arbeiter der DDR und erleichtert damit den Industriemagnaten die Ausarbeitung ihrer Pläne zum Raub der vergesellschafteten Betriebe.