Schweden wird oft — vor allem von Sozialdemokraten — als ein Land präsentiert, daß erfolgreich einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und bürokratischem „Sozialismus“ eingeschlagen hat. Dieses Bild erhielt am 8. Februar 1990 einen deutlichen Knacks, als die sozialdemokratische Regierung von Ingvar Carlsson Vorschläge für einen zweijährigen Preisstopp und ein Streikverbot als Versuch, die Inflation zu kontrollieren und die „Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen“, ankündigte. Der daraufhin entfachte politische Sturm hatte zum Rücktritt der Regierung geführt. Diese Entwicklung findet vor dem Hintergrund einer machtvollen Streikbewegung und einer sich vertiefenden Unzufriedenheit mit der sozialdemokratischen Politik statt, wie der folgende Artikel, der vor dem Rücktritt der Regierung geschrieben wurde, zeigt. [1]
Maria Sundvall
Nationale Streiks mit Hunderttausenden Angestellten des öffentlichen Dienstes wurden angekündigt sowie ein nationaler Streik der Bankangestellten, und kürzlich wurde ein nationaler Lehrerstreik beendet. Des weiteren gibt es eine Welle spontaner Arbeiterproteste gegen die Regierungspolitik und für Lohnerhöhungen; einen zunehmenden Vertrauensschwund für die regierenden Sozialdemokraten bei Meinungsumfragen; das Bestreben, eine neue Arbeiterpartei zu gründen; eine zunehmende Krise der alten „neuen Linken” — die in Schweden traditionell stabile politische Lage hat in wenigen Monaten eine rasche Änderung erfahren.
Während des Januars und der ersten Februartage gab es eine Reihe von „wilden” Streiks unter den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes — angefangen mit 600 Angestellten in der psychiatrischen Abteilung eines Malmöer Krankenhauses am 17. Januar. Beschäftigte in psychiatrischen Abteilungen im ganzen Land folgten bald nach, ebenso wie Busfahrer, Feuerwehrleute und andere.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter forderten höhere Löhne und übten Druck auf die Regierung und auf ihre eigenen Verhandlungsführer aus, die gegenwärtig an nationalen Tarifverhandlungen teilnehmen. Als Ergebnis dieses Drucks kündigten die nationalen Gewerkschaftsverbände für den öffentlichen Dienst Streiks an.
Zum Hintergrund dieser spontanen Streiks gehörte auch der Zorn über die im vergangenen Jahr beschlossene Steuerreform — eine Steuerreform, die große Steuererleichterungen für die höheren Einkommensgruppen und kleine für die Einkommensschwachen bringen wird. Diese kleinen Steuererleichterungen werden jedoch durch die gleichzeitigen Erhöhungen der direkten Steuern, wie der Mehrwertsteuer, durch Mieterhöhungen usw. zunichte gemacht werden.
Dazu kommt noch der Anfang Januar vorgelegte Regierungshaushalt, der ein Einfrieren der Löhne vorsieht. Gleichzeitig hat die Regierung angedroht, frühere sozialdemokratische Versprechen, wie die Einführung eines sechswöchigen Urlaubs, zu brechen, falls die Lohnabhängigen bei ihren Forderungen nicht „Verantwortungsbewußtsein“ zeigten. Später unternahm die Regierung noch weitere Schritte nach rechts, so zur Frage der Kernenergie und der Aufnahme von Flüchtlingen.
Volvo-Arbeiter Göte Kildén und Lars Henriksson mit Flugblättern des Dalauppropet |
Diese Faktoren erklären die verbreitete Unzufriedenheit und den Zorn über die rechte Politik der Sozialdemokratie seit ihrer Rückkehr an die Macht 1982. Diese rechte Entwicklung hat die Arbeiterhasis der Partei zunehmend aufgeweicht. Laut den letzten Meinungsumfragen befinden sich die Sozialdemokraten auf ihrem tiefsten Stand seit über zwanzig Jahren: nur noch 32 % derjenigen, die sich überhaupt für eine Partei aussprechen, und nur 28 % aller Befragten unterstützen die Sozialdemokraten — ein Rekord von 17 % entscheidet sich für keine Partei! Bei den letzten Wahlen von 1988 hatte die SAP noch fast 44 % der Stimmen erhalten.
Am 21. Januar 1989 lancierten 20 bis 30 Gewerkschaftsaktivisten, zumeist Kollegen und Kolleginnen der gewerkschaftlichen Basisbewegung für Lohnerhöhungen und gegen Sparprogramme — des sogenannten ,,Dala-Aufruhrs“ (Dalaupproret) — sowie enttäuschte Sozialdemokraten einen Aufruf [Dalauppropet] zur Bildung einer neuen Arbeiterpartei. [2]Sie nennen sich selbst Arbeiterliste (Ar- betarlistan) und werden im Mai eine Konferenz zur Bildung einer Partei abhalten. Sie zentrieren ihren Aufruf um drei Fragen: gegen die Sparpolitik und zur Verteidigung der Sozialleistungen; Kampf gegen die Umweltzerstörung; Kampf gegen den Rassismus. Dieser Aufruf ist in den Betrieben bereits positiv, in einigen sogar mit Begeisterung, aufgenommen worden. [3]
Die Sozialistische Partei (SP), die schwedische Sektion der IV. Internationale. hat die Bildung der Arbeiterliste begrüßt, da sie darin einen echten und notwendigen Bruch mit der Sozialdemokratie sieht. Die SP diskutiert darüber, wie sie zur Stärkung dieser neuen Alternative beitragen kann. [4]
Gleichzeitig wird die organisierte Linke mit stalinistischer Tradition durch die Auswirkungen der Ereignisse in Osteuropa erschüttert. Die kleine moskauorientierte Partei, die APK (Arbeiterpartei-Kommunisten) [5], hat ihre Tageszeitung Norrskensflamman in eine Wochenzeitung verwandelt und ihre Jugendorganisation. die kürzlich entschied, die Bindung an die Parteizu lösen, verloren. Die Reste der maoistischen Strömung, die Solidaritätspartei [6], beschlossen zwar im November, sich nicht aufzulösen, stellten aber die Herausgabe ihrer Zeitung ein.
Wichtiger ist, daß die „eurokommunistische“ VPK, die bei den letzten Wahlen 5,9 % der Stimmen erhalten hatte, sich in einer seltsamen Lage befindet: eine wachsende Unterstützung bei Wahlen für sie (laut den Meinungsumfragen) und gleichzeitig eine schwere Krise, mit Mitgliederverlusten, internen Debatten über die Kontakte der Parteiführung zu den KPen in Osteuropa und Kritik an den wiederholten Kompromissen mit der sozialdemokratischen Regierung über Sparmaßnahmen.
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Die VPK-Führung hat darauf mit dem öffentlichen Vorschlag, eine breitere linke Partei zu bilden, geantwortet, sie spricht von möglichen Wahlbündnissen für die Reichstagswahlen 1991 und lädt Nichtmitglieder dazu ein. Beiträge zu schreiben und an den kommenden Parteitag im Mai Anträge zu stellen.
Die Idee einer breiteren Partei könnte sehr unterschiedliche Perspektiven umfassen: Bündnisse mit bürgerlichen Kräften mit dem Schwerpunkt auf dem Parlamentarismus, aber auch die Erkenntnis der Notwendigkeit, an den Massenbewegungen teilzunehmen und die Einheit der Linken anzustreben. Als Resultat der Initiative der VPK hat ein erstes Treffen der Führungen von VPK und SP stattgefunden, auf dem die Möglichkeit einer verstärkten gemeinsamen Arbeit zu konkreten Fragen des Klassenkampfs diskutiert wurde.
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 226 (April 1990). | Startseite | Impressum | Datenschutz