Nationale Frage

Die Arbeiter und das Vaterland

Zur Auslegung einer Stelle des „Kommunistischen Manifests“

Roman Rosdolsky

Die Stelle, von der hier die Rede, ist jene, worin die Verfasser des Manife­stes das Verhältnis des Proletariats zum Vaterlande schildern: Diese Stelle lautet:

Roman Rosdolsky, ca. 1960

Foto: Fritz Keller

„Den Kommunisten ist ferner vorgeworfen worden, sie wollten das Vaterland, die Nationalität abschaffen. Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur natio­nalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bour­geoisie. Die nationalen Absonderungen und Gegen­sätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bour­geoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Le­bensverhältnisse. Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen. Vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner Befrei­ung. In dem Maße, wie die Exploitation des ei­nen Individuums durch das andere aufgeho­ben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.“ [1]

Und einige Seiten vorher heißt es:

„Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Pro­letariat eines jeden Landes muß natürlich zu­erst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.“ [2]

Die obigen Sätze sind in der sozialistischen Literatur unzählige Male zitiert worden, mei­stens, um durch sie die negative Haltung der sozialistischen Arbeiterbewegung dem bür­gerlichen Patriotismus und Chauvinismus gegenüber zu begründen. Nicht selten aber wurde auch versucht, die scharfe Sprache die­ser Sätze abzuschwächen und ihnen einen ent­gegengesetzten, nationalistischen Sinn zu un­terlegen.

Als Beispiel soll uns hier der bekannte deutsche sozialdemokratische Theoretiker Heinrich Cunow dienen. In seinem Buch Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie befaßt er sich u. a. auch mit den obigen Stellen. Ihm zufolge wollten Marx und Engels durch ihre Ausführungen einfach sa­gen:

„Heute (1848) hat der Arbeiter kein Vater­land, er hat keinen eigentlichen Anteil am Leben der Nation, ist noch von ihren mate­riellen und geistigen Gütern ausgeschlossen. Aber die Arbeiterschaft wird einst die politi­sche Macht erringen und eine dominierende Stellung im Staat und in der Nation einneh­men, und dann, wenn sie sich gewisserma­ßen (!) selbst als Nation konstituiert haben wird, wird sie auch national sein und national fühlen, wenn auch ihr Nationalismus anderer Art sein wird als jener der Bourgeoisie.“ [3]

Diese Cunowsche [4] Interpretation stürzt über ein kleines Wort zusammen, und zwar über das Wörtchen „noch“ („Indem das Pro­letariat … sich selbst als Nation konstituie­ren muß, ist es selbst noch national“), das in der Tat eine ganze Welt bedeutet und den pro­letarischen Internationalismus vom bürgerli­chen Nationalismus scheidet.

Die Cunowsche Auslegung hat im reformi­stischen Lager Schule gemacht: sie hat aber nach dem Zweiten Weltkrieg auch in den kommunistischen Kreisen Eingang gefunden! So lesen wir in der „Einleitung“ zu der im Wiener Stern-Verlag 1946 erschienenen Aus­gabe des Manifestes:

Zur nationalen Frage

Auf den folgenden Seiten veröffentlichen wir einen Text von Roman Rosdolsky zur nationalen Frage, der zu­erst in die Internationale, Nr. 12, Februar 1978, aus seinem Nachlaß publiziert worden ist.

In der Einleitung zu dieser Erstveröffentlichung schrie­ben die Herausgeber: „Roman Rosdolsky wurde 1898 im ukrainischen Lemberg [Lwow] geboren, das zur damali­gen Zeit zur österreichisch-ungarischen Monarchie ge­hörte, heute Teil der Ukrainischen Sowjetrepublik und damit der UdSSR ist. Schon als Gymnasiast in der soziali­stischen Bewegung tätig, gründete er während des Ersten Weltkrieges die gegen den Krieg kämpfende illegale Organisation ‚Internationale Revolutionäre Sozialistische Ju­gend Galiziens‘. Nach 1918 lebte er in Prag und Wien. Anfang der 30er Jahre schloß sich Rosdolsky der trotzki­stischen Bewegung an, und mit ihren Ideen fühlte er sich bis an sein Lebensende verbunden. Als die legale österreichische Arbeiterbewegung durch die Errichtung der Doll­fuß-Diktatur 1934 zerschlagen wurde, mußte Rosdolsky Wien verlassen und ging zurück in das mittlerweile polni­sche Lemberg. 1942 von der Gestapo in Krakau verhaftet, war er bis 1945 in den Konzentrationslagern Auschwitz, Ravensbrück und Oranienburg eingekerkert. 1947 wan­derte er in die USA aus, wo er bis zu seinem Tod 1967 lebte.

Von Rosdolskys Arbeiten ist in der BRD besonders sein die Marxschen Grundrisse behandelndes dreibändiges Werk Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapi­tal‘. Der Rohentwurf des ‚Kapitals‘ 1857–1858 (EVA, Frankfurt/M. 1968 und 1974) bekannt.

Als Angehöriger einer unterdrückten Nation hat sich Roman Rosdolsky besonders für die nationale Frage inter­essiert. Der folgende Text untersucht die Terminologie des Kommunistischen Manifests und wendet sich vorran­gig gegen dessen nationalistische Auslegung …“

1979 erschien als Reprint beim Verlag Olle&Wolter, Berlin, seine ursprünglich 1964 im Archiv für Sozialgeschichte, Bd. IV, erschienene Arbeit „Friedrich Engels und das Problem der ‚geschichtslosen‘ Völker“.

„Wenn Marx im Kommunistischen Mani­fest sagt: ‚Indem das Proletariat sich zunächst die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Na­tion konstituieren muß, ist es selbst noch na­tional‘, so befinden wir uns heute gerade in der Zeit, wo die Arbeiterklasse national auf­tritt, als das Rückgrat der Nation im Kampfe gegen Faschismus und für die Demokratie. Die Arbeiterschaft Österreichs kämpft heute mit dem ganzen werktätigen Volk um die Eroberung ihres österreichischen Vaterlan­des, durch die Schaffung eines unabhängigen, freien und demokratischen Österreich.“ [5]

Daß diese Auslegung der Cunowschen vollkommen gleicht, ja, sie sogar überbietet, ist einleuchtend.

Im vollen Gegensatz zu diesen nationalisti­schen Interpretierungsversuchen steht die Auslegung der erwähnten Sätze des Manife­stes, die sich in Lenins Skizze Karl Marx fin­det:

„Die Nationen sind ein unvermeidliches Produkt und eine unvermeidliche Form der bürgerlichen Epoche der gesellschaftlichen Entwicklung. Auch die Arbeiterklasse konnte nicht erstarken, ins Mannesalter eintreten und sich formieren, ohne ‚sich selbst als Nation zu konstituieren‘, ohne ‚national‘ zu sein, (‚wenn auch keineswegs im Sinne der Bour­geoisie‘). Aber die Entwicklung des Kapita­lismus zerstört mehr und mehr die nationalen Schranken, hebt die nationale Absonderung auf und setzt an die Stelle der nationalen An­tagonismen die der Klassen. In den entwickel­ten kapitalistischen Ländern ist es daher volle Wahrheit, daß ‚die Arbeiter kein Vaterland haben‘ und daß die ‚vereinigte Aktion‘ der Arbeiter wenigstens der zivilisierten Länder für das Proletariat ‚eine der ersten Bedingun­gen seiner Befreiung‘ ist.“ [6]

Indes, auch diese Leninsche Auslegung befriedigt nicht, wie sehr sie auch inhaltlich vom Geiste des Marxismus getragen ist. Ei­nes fällt hier nämlich sofort auf: Während im Manifest das Proletariat auch nach der Erobe­rung der Staatsmacht „noch national“ ist, bezieht sich bei Lenin dieses „national sein“ der Arbeiterklasse nur auf die Anfänge der Arbeiterbewegung, bevor die Arbeiterklasse in ihr „Mannesalter“ eingetreten ist. Im ent­wickelten Kapitalismus hätten die Arbeiter, Lenin zufolge, erst recht „kein Vaterland“!

Soviel über die bisherigen Auslegungen der erwähnten Sätze des Manifestes. Es mag viel­leicht nicht sonderbar erscheinen, daß man die Bedeutung dieser Sätze erst durch Inter­pretierungen zu ergründen suchte. Viel son­derbarer ist jedenfalls der Umstand, daß sie im Laufe der Zeit zu einer Art von Glaubens­sätzen geworden, daß daraus programmati­sche Losungen von größter Tragweite abge­leitet wurden, ohne daß man sich in den mei­sten Fällen über den wirklichen Sinn dieser Sätze viel Kopfzerbrechen gemacht hätte! Das gilt insbesondere für den Satz, wonach die Arbeiter „kein Vaterland“ hätten. Je leichter es fiel, ihn beständig zu wiederholen, desto schwieriger war es, diesen so einfach schei­nenden Satz zu erklären und ihn mit der Pra­xis der sozialistischen (und später auch der kommunistischen) Parteien in, Einklang zu bringen. Diese Praxis aber schien immer häufiger die Verfasser des Manifestes Lügen zu strafen!


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Was ist nun der wirkliche Sinn der betref­fenden Äußerungen des Manifestes? Wieso haben die Arbeiter „kein Vaterland“, und wieso werden sie trotzdem auch nach ihrer Machtergreifung vorderhand „noch national“ bleiben? – Um diese Frage zu beantworten, ist es u. E. zuallererst nötig, die Terminologie des Manifestes einer Prüfung zu unterziehen.

Bekanntlich werden die Termini „Nation“ und „Nationalität“ nicht immer und überall in gleichem Sinne gebraucht. Während z. B. in England und Frankreich unter einer „Na­tion“ zumeist die Bevölkerung eines Staates verstanden wird und das Wort „Nationalität“ dort entweder als Synonym der Staatsangehö­rigkeit oder aber zur Bezeichnung einer eth­nisch-sprachlichen Gemeinschaft („Volk“) dient, werden bei uns beide Termini vor allem auf ethnisch-sprachliche Gemeinschaften be­zogen. [7]

Marx und Engels folgen – besonders in ihren Jugendschriften – fast durchwegs dem englisch-französischen Sprachgebrauch. Mit dem Worte „Nation“ wird also von ihnen meistens die Bevölkerung eines Staates bzw. eine ihren eigenen Staat besitzende Volks­gemeinschaft [8] bezeichnet. (Ausnahmsweise wird von ihnen dieses Wort auch auf „histori­sche“ Völker angewandt, die – wie z. B. die Polen – ihres Staates verlustig gingen.) Die „Nationalität“ hingegen bedeutet ihnen: 1.)die Zugehörigkeit zu einem Staat oder Staats­volk, den „Zustand“ eines Staatsvolkes, ei­ner Nation im politischen Sinne [9], und 2.)die ethnisch-sprachliche Gemeinschaft bzw. die Zugehörigkeit zu einer solchen. Deshalb be­nutzen sie fast ausschließlich dieses Wort, wenn es sich um „geschichtslose“ Völker – wie die österreichischen Slawen (Tschechen, Kroaten, Ukrainer usw.) – oder um „Völkertrümmer“ (wie die Gälen, Bretonen, Basken) handelt. Und eben diese Auffassung der „Nationalität“ – im Gegensatz zur „Na­tion“ als Bezeichnung eines „historischen“ Staatsvolkes – ist für die Terminologie von Engels und Marx besonders charakteristisch! Hier einige Beispiele:

„Die Hochland-Gälen und die Waliser“, schrieb Engels 1866 in der Zeitschrift The Commonwealth, „unterscheiden sich zweifel­los der Nationalität nach von den Engländern, doch niemandem fiele ein, diese Reste längst verschwundener Völker – oder gar die kelti­schen Bewohner der Bretagne in Frankreich – als Nationen zu bezeichnen.“ [10]

Von den österreichischen Slawen aber sagt er in dem Artikel „Deutschland und der Pan­slawismus“ (1855):

„Die österreichischen Slawen zerfallen so in zwei Klassen: Ein Teil davon besteht aus Trümmern von Nationalitäten, deren eigne Geschichte der Vergangenheit angehört und deren gegenwärtige historische Entwickelung an die von Nationen verschiedener Race und Sprache gebunden ist … Diese Nationalitä­ten daher, obgleich ausschließlich auf öster­reichischem Boden lebend, sind keineswegs anerkannt als verschiedene Nationen konstitu­iert.“ [11]

Und an noch einer Stelle:

„Weder Böhmen noch Kroatien waren stark genug, um als Nation eine selbständige Existenz zu führen. Die eine wie die andere Nationalität, nach und nach durch die Wir­kung geschichtlicher Ursachen untergraben, die unvermeidlich zu ihrer Aufsaugung durch kraftvollere Stämme führen, konnte nur dann hoffen, wieder eine gewisse Selbständigkeit zu erlangen, wenn sie sich mit andern slawi­schen Völkern verband.“ [12]

Welches große Gewicht aber Engels der terminologischen Abgrenzung der Begriffe „Nation“ und „Nationalität“ beilegte, kann man aus dem zitierten Aufsatz im Common­wealth ersehen, worin er den Unterschied und Gegensatz von „nationaler“ und „Nationali­tätenfrage“, von „nationalem“ und „Natio­nalitätenprinzip“ begründet. Nur das erste Prinzip wird von ihm bejaht, das zweite hin­gegen entschieden abgelehnt.


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Auch im „Kommunistischen Manifest“ lassen sich mehrere Belege für den von unsbehaupteten Sprachgebrauch finden. Wenn z. B. das Manifest von „nationalen Indu­strien“ spricht, denen die Entwicklung des Kapitalismus den Boden unter den Füßen wegzieht [13], so sind hier offenbar auf das Ter­ritorium eines bestimmten Staates be­schränkte Industrien gemeint. In demselben Sinne sind natürlich auch die am Schluß des zweiten Teiles erwähnten „Nationalfabriken“ zu verstehen. Auch im Satze: „Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiede­nen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein natio­nales Klasseninteresse, eine Douanenlinie“ [14]bezieht sich das Wort „Nation“ (sowie das Wort „national“) auf den Staat, das Staats­volk, und nicht auf die Nationalität im eth­nisch-sprachlichen Sinne. Und schließlich, wenn Marx und Engels im Manifest von ei­nem „nationalen“ Kampf des Proletariats sprechen, so bedeutet das etwas ganz anderes als die reformistischen und neoreformisti­schen Ausleger des Manifestes meinen. Das erhellt schon aus der folgenden Stelle, die das Werden des proletarischen Klassenkampfes schildert:

„Im Anfang“, heißt es dort, „kämpfen die einzelnen Arbeiter, dann die Arbeiter einer Fabrik, dann die Arbeiter eines Arbeitszwei­ges an einem Ort gegen den einzelnen Bour­geois, der sie direkt ausbeutet … Es bedarf aber bloß der Verbindung, um die vielen Lo­kalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampfe zu zentralisieren.“ [15]

Hier wird der „nationale“ (d.h. im gesamt­staatlichen Maßstabe geführte) Kampf des Proletariats direkt dem Klassenkampf gleich­gesetzt, weil nur eine solche Zentralisierung der Kämpfe der Arbeiter im Staatsmaßstab die Arbeiter als Klasse der Klasse der Bour­geoisie entgegenzustellen und diesen Kämp­fen selbst den Stempel politischer Kämpfe aufzudrücken vermag. [16] Indem also – um auf die eingangs zitierte Stelle zurückzukommen – Marx und Engels den Kampf des Proletari­ats gegen die Bourgeoisie als einen „zunächst nationalen“ bezeichneten, haben sie offenbar nur einen zunächst im Rahmen eines Staates geführten Kampf im Auge. Das folgt klar aus der Begründung dieses Satzes, wonach „das Proletariat eines jeden Landes natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden muß“. Aber auch der Satz von der Erhebung des Proletariats zur „nationalen Klasse“In der englischen, von Engels revidierten Über­setzung des Manifestes vom Jahre 1888 wird die „nationale Klasse“ mit den Worten „leading class of the nation“ [führende Klasse der Nation] wieder­gegeben., von seiner Konstituierung „als Nation“, er­hält von diesem Gesichtspunkt eine ganz be­stimmte Bedeutung. Er besagt in der Tat nichts anderes, als daß das Proletariat sich zunächst nach den bestehenden Staatsgrenzen richten, sich innerhalb der bestehenden Staa­ten zur herrschenden Klasse machen muß. Deshalb wird es vorderhand „noch national“ sein, „wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie“, die in der politischen Absonde­rung der Völker und in der Exploitation frem­der Nationen durch die eigene ihr Ziel er­blickt. Demgegenüber wird die siegreiche Arbeiterklasse von Anfang an auf die Beseiti­gung der nationalen Absonderungen und Ge­gensätze der Völker hinwirken und durch ihre Herrschaft die Voraussetzungen dafür schaf­fen, daß „mit dem Gegensatz der Klassen in­nerhalb der Nation“ zugleich auch „die feindliche Stellung der Nationen gegeneinan­der“ verschwinde. Von diesem (und nur von diesem) Gesichtspunkt kann überhaupt von einer „Abschaffung“ oder „Vernichtung“ der Nationalität gesprochen werden – inwie­fern darunter die Beseitigung nicht der beste­henden sprachlich-ethnischen Gebilde (was ganz sinnlos wäre!), sondern derpolitischen Abgrenzungen der Völker verstanden werden soll. [18] In einer Gesellschaft, worin – nach den Worten des Manifestes – „die öffentli­che Gewalt den politischen Charakter (verlie­ren) [19], worin der Staat als solcher „abster­ben“ wird, kann es allerdings auch für beson­dere Nationalstaaten keinen Raum mehr ge­ben!


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Die Untersuchung der Terminologie des Manifestes hat sich also, wie wir glauben, als fruchtbar erwiesen. Sie zeigt uns, daß die in Frage stehenden Sätze sich vor allem auf die „Nation“ und „Nationalität“ im politischen Sinne beziehen und aus diesem Grunde mit den bisherigen Deutungen nicht gut verein­bart werden können. Das betrifft insbeson­dere die durchaus willkürliche und sophisti­sche Auslegung Cunows, der gerade aus dem Manifest einen spezifischen „proletarischen Nationalismus“ ableiten und die Internationa­lität der Arbeiterbewegung auf das Streben nach der internationalen Zusammenarbeit der Völker reduzieren wollte. [20]

Ebensowenig aber kann aus dem Manifest geschlossen werden, daß es etwa einen „Nihilismus“ des Proletariats in der nationa­len Frage, seine Indifferenz den nationalen Bewegungen gegenüber predige: Die „Vater­landslosigkeit“ der Arbeiter, von der es spricht, bezieht sich auf den bürgerlichen Na­tionalstaat, nicht aber auf das Volkstum, die Nationalität im ethnischen Sinne. Die Arbei­ter haben „kein Vaterland“, weil sie den bür­gerlichen Nationalstaat als eine gegen sie ge­richtete Unterdrückungsmaschine ansehen müssen [21]; und sie werden auch nach ihrer Machtergreifung „kein Vaterland“ (im politi­schen Sinne) haben, inwiefern nach Marx die besonderen sozialistischen Nationalstaaten nur eine Durchgangsetappe auf dem Wege zur klassen- und staatenlosen Gesellschaft der Zukunft darstellen werden und inwiefern der Aufbau dieser Gesellschaftnur im internatio­nalen Maßstab möglich ist. – Die „indiffe­rentistische“ Deutung des Manifestes, wie sie in den „orthodoxen“ [22] marxistischen Kreisen üblich war, ist daher keineswegs berechtigt. Wenn trotzdem diese Deutung im ganzen und großen der sozialistischen Bewegung wenig Abbruch tat, sondern sie sogar förderte, so lag das daran, daß sie – wiewohl in verzerrter Form – die der revolutionären Arbeiter­bewegung innewohnende kosmopolitische Tendenz [23], ihr Streben nach der Überwin­dung der „nationalen Beschränktheit“ und der „nationalen Absonderungen und Gegen­sätze der Völker“ widerspiegelte. In diesem Sinne aber kam sie dem Geiste des Marxis­mus und des Manifestes unvergleichlich nä­her als die borniert-nationalistische Ausle­gung Bernsteins, Cunows und anderer.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 225 (März 1990). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunisti­schen Partei (1848), in: Werke [MEW], Bd. 4, Ber­lin 1964, S. 479.

[2] Ebd., S. 473.

[3] H. Cunow, Die Marxsche Geschichts-, Gesell­schafts- und Staatstheorie, Bd. II, Berlin 1921, S. 30.

[4] Cunow war freilich nicht der erste, der das Ma­nifest in diesem Sinne umdeutete. Wie viele andere reformistische Neuerungen, geht auch diese auf den Vater des Reformismus, Eduard Bernstein, zurück. Wir lesen in seinem Artikel „Die deutsche Sozial­demokratie und die türkischen Wirren“ (Die Neue Zeit, 1896/1897, Nr. 4, S. 11lf.): „Der Satz, daß der Proletarier kein Vaterland hat, wird von dem Augenblick an, wo, und in dem Maße modifiziert, als derselbe als vollberechtigter Staatsbürger über die Regierung und Gesetzgebung seines Landes mitzubestimmen hat und dessen Einrichtungen nach seinen Wünschen zu gestalten vermag.“

[5] Daß die Arbeiterschaft Österreichs, der das so­genannte „österreichische Vaterland“ durch den Sieg der Alliierten aufdiktiert wurde, etwa um die Verwirklichung des Sozialismus kämpfen könnte, kommt dem Verfasser der „Einleitung“ nicht in den Sinn.

[6] W. I. Lenin, Karl Marx (1915), in: Werke, Bd. 21, Berlin 1968, S. 61f.

[7] Auch der Begriff Nation“, schreibt Karl Kautsky, „ist schwer abzugrenzen. Die Schwierig­keit wird nicht vermindert dadurch, daß zwei ver­schiedene gesellschaftliche Gebilde mit demselben Wort bezeichnet werden und dasselbe Gebilde mit zwei verschiedenen Worten. – In Westeuropa, mit seiner alten kapitalistischen Kultur, fühlt sich die Bevölkerung jedes Staates mit ihm fest verbunden. Da wird als Nation die Bevölkerung eines Staates bezeichnet. In diesem Sinn spricht man z. B. von einer belgischen Nation. Je weiter östlich wir in Europa kommen, desto zahlreicher die Bevölke­rungsteile in einem Staate, die ihm nicht angehören wollen, die in ihm eigene nationale Gemeinschaften bilden. Man nennt sie ebenfalls ‚Nationen‘ oder ‚Nationalitäten‘. Am zweckmäßigsten wäre es wohl, auf sie nur die letztere Bezeichnung anzu­wenden.“ (K. Kautsky, Die materialistische Ge­schichtsauffassung, Bd. II, Berlin 1927, 5, 441.)

[8] Eine Bedeutung, die am ehesten der Definition Friedrich Naumanns entsprechen würde: Im politi­schen Sinne „bezeichnet die Nation die Gesamtheit der Angehörigen eines Staates … u. zw. speziell solchen Kulturstaates, dessen Bevölkerung ihrem Kerne nach eine Nation (im eigentlichen und ur­sprünglichen Sinne dieses Wortes) bildet,- oder ... welcher eine Nation im eigentlichen Sinne zu schaf­fen befähigt erscheint“. (F. Naumann, Volk und Nation, 1888, S. 131f.)

[9] So schrieb Marx 1843: „Während das Problem in Frankreich und England lautet: Politische Öko­nomie oder Herrschaft der Sozietät über den Reich­tum, lautet es in Deutschland: National-Ökonomie oder Herrschaft des Privateigentums über die Na­tionalität.“ (K. Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW, Bd. 1, Berlin. 1981, S. 382.) Hier ist unter „Nationalität“ be­stimmt kein ethnisch-sprachliches Gebilde gemeint. – Vgl. Marx’ Rede über Polen vom 22. Februar 1848: „Les trois puissances (d.h. Preußen, Öster­reich und Rußland, R. R.) ont marché avec l’hi­stoire. En 1846, lorsqu’en incorporant Cracovie à l’Autriche, ils confisquèrent les derniers débris de la nationalité polonaise … [Die drei Mächte sind mit der Geschichte mitgegangen. Als sie 1846 Kra­kau Österreich einverleibten, raubten sie die letzten Reste der polnischen Nationalität …]“ (K. Marx/F. Engels, Historisch-kritische Gesamtaus­gabe [MEGA], Erste Abteilung, Bd. 6, Berlin 1932, S. 408 [vgl. MEW, Bd. 4, S. 519]). Auch hier, wie an vielen anderen Stellen bei Marx und Engels, wird unter „Nationalität“ nichts anderes als die Staatlichkeit verstanden.

[10] F. Engels, Was hat die Arbeiterklasse mit Polen zu tun? (1866), MEW, Bd. 16, Berlin 1962, S. 157.

[11] F. Engels, Deutschland und der Panslawismus (1855), MEW, Bd. 11, Berlin 1961, S. 194.

[12] F. Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland (1852), MEW, Bd. 8, Berlin 1960, S. 53.

[13] Manifest der Kommunistischen Partei, a. a. O., S. 466.

[14] Ebd., S. 467.

[15] Ebd., S. 470f.

[16] Vgl. Die deutsche Ideologie: „Die Bourgeoisie ist schon, weil sie eine Klasse, nicht mehr ein Stand ist, dazu gezwungen, sich national, nicht mehr lokal zu organisieren und ihrem Durchschnitts­interesse eine allgemeine Form zu geben.“ (K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie [1846], MEW, Bd. 3, Berlin 1958, S. 62.)

[17] In der englischen, von Engels revidierten Über­setzung des Manifestes vom Jahre 1888 wird die „nationale Klasse“ mit den Worten „leading class of the nation“ [führende Klasse der Nation] wieder­gegeben.

[18] In diesem Sinne schrieb Engels 1845: „Die Proletarier allein können die Nationalität vernich­ten, das erwachende Proletariat allein kann die ver­schiedenen Nationen fraternisieren lassen.“ (Das Fest der Nationen in London, MEW, Bd. 2, Berlin 1957, S. 614.) – Ähnlich wird in der Deutschen Ideologie das Proletariat als eine Klasse bezeichnet, die „schon der Ausdruck der Auflösung aller Klas­sen, Nationalitäten etc. innerhalb der jetzigen Ge­sellschaft“, „bei der die Nationalität schon ver­nichtet“ ist. (Die deutsche Ideologie, a. a. O., S. 70 und S. 60. – Vgl. auch ebd., S. 449.)

[19] Manifest der Kommunistischen Partei, a. a. O.,S. 482.

[20] Als der Gipfel der Cunowschen Mißdeutung des Manifestes ist wohl die folgende Stelle seines Buches zu bezeichnen: „Und ebensowenig kann aus der Aufforderung: ‚Proletarier aller Länder vereinigt euch!‘ (zur Durchsetzung ihrer Befreiung) geschlossen werden, Marx hätte damit sagen wol­len, der Arbeiter stehe außerhalb der nationalen Gemeinschaft. Genauso wenig wie der Aufruf: ‚Journalisten, Ärzte, Philologen etc. schließt euch zur Durchsetzung eurer Aufgaben zu internationa­len Verbänden zusammen!‘ besagt, daß die Ange­hörigen dieser Berufsgemeinschaften sich nicht mit ihrer Nationalität verbunden fühlen dürften …“ (Cunow, a. a. O., S. 29.)
Vgl. Marx’ Kritik am Programm der deutschen Arbeiterpartei (1875), dessen Punkt 5 lautete: „Die Arbeiterklasse wirkt für ihre Befreiung zunächst im Rahmen des heutigen nationalen Staats, sich be­wußt, daß das notwendige Ergebnis ihres Strebens, welches den Arbeitern aller Kulturländer gemein­sam ist, die internationale Völkerverbrüderung sein wird.“
Dazu schrieb Marx: „Lassalle hatte, im Gegensatz zum ‚Kommunistischen Manifest‘ und zu allem frü­heren Sozialismus, die Arbeiterbewegung vom eng­sten nationalen Standpunkt gefaßt. Man folgte ihm darin – und dies nach dem Wirken der Internatio­nalen!
Es versteht sich ganz von selbst, daß, um über­haupt kämpfen zu können, die Arbeiterklasse sich bei sich zu Haus organisieren muß als Klasse, und daß das Inland der unmittelbare Schauplatz ihres Kampfs. Insofern ist ihr Klassenkampf, nicht dem Inhalt, sondern, wie das ‚Kommunistische Mani­fest‘ sagt, ‚der Form nach‘ national. Aber der ‚Rah­men des heutigen nationalen Staats‘, z. B. des Deut­schen Reichs, steht selbst wieder ökonomisch ‚im Rahmen des Weltmarkts‘, politisch ‚im Rahmen des Staatensystems‘. Der erste beste Kaufmann weiß, daß der deutsche Handel zugleich ausländi­scher Handel ist, und die Größe des Herrn Bis­marck besteht ja eben in seiner Art internationaler Politik.
Und worauf reduziert die deutsche Arbeiterpartei ihren Internationalismus? Auf das Bewußtsein, daß das Ergebnis ihres Strebens ‚die internationale Völ­kerverbrüderung sein wird‘ – eine dem bürgerli­chen Freiheits- und Friedensbund entlehnte Phrase, die als Äquivalent passieren soll für die internatio­nale Verbrüderung der Arbeiterklassen im gemein­schaftlichen Kampf gegen die herrschenden Klas­sen und ihre Regierungen. Von internationalen Funktionen der deutschen Arbeiterklasse also kein Wort!“ (K. Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW, Bd. 19, Berlin 1962, S. 23f.)

[21] In einem seiner Notizbücher exzerpierte Marx folgende Stelle aus Brissot de Warville: „Es gibt eine Reflexion, welche die erst ahnen, die Erzie­hungspläne für das Volk geben, – daß es keine Güte geben kann, da 3/4 von dem Volke eigentums­los ist; denn ohne Eigentum hat es kein Vaterland, ohne Vaterland ist alles gegen es, und seinerseits muß es bewaffnet sein gegen alle … Da dies der Luxus von 3/4 der bürgerlichen Gesellschaft ist, folgt, daß diese 3/4 weder Religion, noch Moral, noch Anhänglichkeit an die Regierung und das Gouvernement haben können …“ (MEGA, Erste Abteilung, Bd. 6, S. 617.)

[22] „Beim Gebrauch dieses Ausdrucks (Orthodo­xie, R.R.) darf man jedoch niemals vergessen, daß er von den Gegnern in die Polemik geworfen wurde, daß die ‚Orthodoxen‘ nicht Kritik über­haupt, sondern nur die ‚Kritik‘ der Eklektiker ab­lehnen …“ (W. I. Lenin, Eine unkritische Kritik [1900], in: Werke, Bd. 3, Berlin 1968, S. 654.)

[23] Der Kosmopolitismus gilt allerdings – seit Sta­lin! – als die schlimmste bürgerliche Untugend. Allerdings pflegte ein gewisser Friedrich Engels von den „gemeinsamen kosmopolitischen Interes­sen des Proletariats“ (Brief an F. A. Sorge vom 12.-17. September 1874, MEW, Bd. 33, Berlin 1966, S. 641) zu sprechen, und uns ist die Gesell­schaft von Engels doch lieber als die von Stalin und seinen Nachfolgern.