Ernest Mandel

„Die Botschaft ist: sich politisch einzusetzen“

Im Rahmen einer Debatte mit dem marokkanischen Revolutionär Abraham Serfaty am 4. Februar 1993 hat Ernest Mandel in seiner Schlußrede knapp dargelegt, welche Lehren er der heutigen jungen Generation geben würde.

Ernest Mandel

(…) Um zu schließen, möchte ich auf eine Frage antworten, die mir gestellt wurde: „Welches ist die Lehre die du, alter Kämpfer, den jungen Menschen heute gibst?“

Ich würde sagen, die Lehre, oder eher die Botschaft – nein, das Wort Lehre ist nicht adäquat … – die Botschaft, ja, ist zuerst: sich politisch einzusetzen. Man kann nicht in dieser schrecklichen Welt als würdiger Mensch leben, mit all den Erscheinungen, die ich aufgezählt habe – ich könnte Dutzende anderer zitieren: Alle vier Jahre sterben in der Dritten Welt 60 Millionen Kinder an Hunger und an heilbaren Krankheiten! Das sind ebenso viel Tote wie die, die im Zweiten Weltkrieg, in Auschwitz, Hiroshima und während der Hungersnot von Bengalen umgekommen sind. Das ist das gräßliche Gesicht der Gesellschaft, in der wir leben: alle vier Jahre ein Weltkrieg gegen die Kinder!

Sich dagegen politisch einzusetzen, politisch dagegen zu kämpfen, für eine Welt zu kämpfen, in der ein Lächeln das Gesicht aller Kinder dieser Erde erhellen könnte, das ist die einzig menschliche Haltung, die man haben kann, der Männer, der Frauen, jedes Menschen. Seid politisch aktiv!

Es ist nicht möglich sich politisch einzusetzen, ohne sich zu organisieren, aber ich will dieses Thema nicht aufnehmen, das würde uns zu weit führen.


Permanentes Studium


Die zweite Botschaft, die ich geben würde, ist die schwierigste. Es ist die Botschaft des wissenschaftlichen Realismus. Studiert die Gesellschaftswissenschaften – nicht die dicken Wälzer; es ist nicht notwendig, daß alle die drei Bände des Kapitals lesen … Ich fände es gut, aber es wäre zu viel verlangt. Aber versucht die großen Linien einer wissenschaftlichen Interpretation der Geschichte zu assimilieren, die Abfolge der gesellschaftlichen Ordnungen, der politischen Regime, andere Phänomene kultureller, ethnischer Art, alles was ihr wollt, aber tut dies in einem wissenschaftlichen Geist, welcher der Geist von Karl Marx ist: „An allem ist zu zweifeln“, aber in einer konstruktiven Weise, d. h. betrachtet als provisorische Errungenschaft was bewiesen ist, und bleibt für die Möglichkeit offen, daß neue Tatsachen auftauchen, die diese Errungenschaften partiell in Frage stellen können.

Nicht auf leichtfertige Weise – ohne Beweise – in Frage stellen. Wenn die Geschichte bewiesen hat, und das ist unbestreitbar, daß seit dem Beginn der Industrieproduktion für den Weltmarkt, seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, 23 Überproduktionskrisen stattfanden, mit einem Zyklus, der im Durchschnitt siebeneinhalb Jahre dauerte, was Marx beschrieben hat, unter diesen Bedingungen zu behaupten, daß die Theorie der Überproduktionskrisen nicht aufrechtzuerhalten sei, daß wäre genauso unwissenschaftlich wie der stalinistische Dogmatismus. Es ist richtig, weil es durch Tatsachen bewiesen ist.

Bleibt auf dieser Linie, nicht um des Vergnügens an Wissen, nicht für die Erkenntnis an sich, sondern weil ein Individuum, eine Gruppe, eine Partei, eine Organisation, eine Klasse, die die Realität versteht, besser befähigt ist sie in diesem Sinne zu verändern.


Pflicht zum Widerstand


Die dritte Botschaft, die wichtigste, besteht in dem, was Marx – das ist wenig bekannt – ein moralisches Prinzip, ein kategorischer Imperativ des Kampfes, genannt hat: immer und überall, ohne Ausnahme sich gegen alle Formen der Entfremdung, der Unterdrückung, der Repression, der Ausbeutung von Menschen einzusetzen.

In dieser moralischen Gewißheit ist etwas Erhabenes, Herrliches, da sind keine Zweifel erlaubt, da muß man Gewißheit besitzen.

Der große holländische Schriftsteller Multatuli hat es in einer anderen Weise ausgedrückt, die er aufgrund seiner Kontakte zu den indonesischen Bauern gefunden hat: Es ist eine Pflicht, ich will sagen, eine Pflicht zum Widerstand, die Pflicht die bestehende Ordnung abzulehnen, die Pflicht, die Ungerechtigkeit abzulehnen. In diesem moralischen Engagement ohne Grenzen, sage ich, besteht etwas Herrliches.

Als es Mitternacht in diesem Jahrhundert war, als Hitler und Stalin scheinbar die Szene beherrschten, als die Hoffnung fast verschwunden war, hat Trotzki in einem polemischen Artikel (später ist er auf seine Formulierungen zurückgekommen, die natürlich zu knapp waren; er hat in seinem Testament geschätzt, daß Jahrzehnte für diese Frage notwendig sind, was wesentlich realistischer, wissenschaftlicher und auch besser mit dem übereinstimmte, was tatsächlich passiert ist), Trotzki sagte, daß falls der Krieg nicht zu einem Sieg führen würde, sondern zu einem Niedergang des Proletariats, zu einem endgültigen und permanenten Niedergang, dann wäre es notwendig, sofort ein neues Programm zur Verteidigung der Interessen der Sklaven gegen die entstehende totalitäre Gesellschaft zu entwickeln.

Da ist herrlich! Das ist in der Linie von Marx. Immer gegen das Establishment, immer gegen die Ungerechtigkeit, unabhängig von den Hoffnungen, den Formeln, den Zeiträumen, immer!

Dieses moralische Engagement, das versichere ich Euch, ich sage das auf der Grundlage einer persönlichen Erfahrung von 55 Jahren aktiver Politik, dieses moralische Engagement, falls man sich daran hält, ist auch eine Quelle des individuellen Glücks.

Man leidet an keinem schlechten Gewissen, man hat keine Schuldkomplexe, man kann sich täuschen, jede(r) kann sich täuschen. Aber man täuscht sich für eine gute Sache. Man hat sich nicht im Ziel getäuscht, man hat nicht zynisch Mörder, Folterer und Ausbeuter unterstützt. Nein! Niemals! Unter keinen Umständen!

Übersetzt von Marc Fischer aus einer Broschüre unserer belgischen Genossen, in der die vollständige Diskussion zwischen Ernest Mandel und Abraham Serfaty nachzulesen ist.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 287 (September 1995). | Startseite | Impressum | Datenschutz