Ernst Scholz, geboren 1904 in Reichenbach, war seit Ende des Ersten Weltkriegs in der Arbeiterbewegung aktiv: zunächst im Sudetendeutschland und der CSR, dann in Westdeutschland. 1950 wurde er Sekretär der IG Textil, Bekleidung in Augsburg, in den Jahren 1965 bis 1969 arbeitete er als Geschäftsführer dieser Gewerkschaft in Augsburg. Zu seinem achtzigsten Geburtstag führte die Zeitung was tun das folgende Interview mit ihm.
Interview mit Ernst Scholz
Das Bild des „Sudetendeutschen Tags” 1984 war, wie üblich in den letzten Jahrzehnten, geprägt von reaktionären Forderungen – unterstrichen auch von Strauß, Zimmermann und Carstens. Du bist Sudetendeutscher – und Marxist. Wie stehst Du zu den hier geäußerten Rechtsansprüchen auf die Rückkehr in die Heimat? |
Diese Bewegung wird. natürlich seit längerem von Reaktionären dominiert. Sie kann jedoch so große Massen hinter sich bringen, weil der Ausgangspunkt der brutale Akt der Vertreibung der Sudetendeutschen aus ihrer Heimat ist. Diese Menschen haben dort sechs- bis siebenhundert Jahre gelebt. Zwischen den Weltkriegen hat die Regierung der CSR unter Benesch eine Politik der Unterdrückung der deutschen Minderheit betrieben – mit einer mit Hitler vergleichbaren Stoßrichtung, der des (tschechischen) „Volk ohne Raum”. Seit 1918 versuchte man gezielt, Tschechen in die deutschen Siedlungsgebiete zu lancieren, man gab ihnen hier bevorzugte Arbeitsplätze – und trieb somit die nationale Frage erst auf die Spitze.
Das normale Bild, das man heute als Linker von Sudetendeutschland hat, ist das einer reaktionären Speerspitze Hitlers bei seinem Eroberungsfeldzug gen Osten. |
Das stimmt so nicht. Im Sudetendeutschland gab es – besonders in den industrialisierten Gebieten – eine starke Arbeiterbewegung. Mein Vater war Arbeiter und Sozialist. Ich trat 1921 in die Sozialdemokratische Partei und die Sozialistische Jugend ein. In vielen Städten bestimmten bis Ende der 20er Jahre Parteien der Arbeiterbewegung das politische Klima. Erst die kriminelle Politik der bürgerlichen Regierung der CSR hat dann dazu geführt, daß der Klassenkampf von der nationalen Frage überdeckt – und von Hitler funktionalisiert werden konnte.
Oft hört man: Die Vertreibung der Sudetendeutschen war verständlich – war die Rache für die brutale Unterdrückung der Tschechen unter dem NS-Regime. |
Für diese Vertreibung gibt es genausowenig eine Rechtfertigung wie für das NS-Regime. Marxisten kennen kein „Recht auf Rache”. Richtig: Hitler und sein Statthalter Heydrich haben im tschechischen „Protektorat” ein Terrorregime errichtet. Deshalb brauchen wir nicht der „Kollektivschuldthese” verfallen: Sudetendeutsche Kommunisten, Sozialisten und Trotzkisten haben ebenso unter diesem Regime gelitten wie unsere tschechischen Klassenbrüder und -schwestern. Die Westalliierten und Stalin haben nach dem Weltkrieg, mit dem Potsdamer Abkommen, das grüne Licht für das Verbrechen der Vertreibung gegeben. Man muß immer wieder betonen, daß die Vertreibung zwischen 1945 und 1947 ja unter einer bürgerlichen Regierung – wieder der unter Benesch – stattfand und es hier auch zu den schlimmsten Exzessen kam. Später, als ab 1948 die Kommunisten die Macht übernahmen, zeigten sich diese oft toleranter.
Du hast später in Westdeutschland im Rahmen der SPD und in der sozialdemokratischen „Seliger-Gemeinde” versucht, gegen die reaktionäre Ausnutzung der Vertriebenen anzugehen. Was waren Deine Erfahrungen? |
Die Seliger-Gemeinde hat die sudetendeutschen Sozialdemokraten zusammengefaßt. Sie hat niemals versucht, wirklich die Gründe für die Vertreibung zu analysieren. Ihr erster Funktionär, Wenzel Jaksch, war ein ausgesprochener Gegner des Marxismus und unserer Position in der Nationalitätenfrage. 1960 besaß er die Frechheit, öffentlich zu erklären, die „Sudetendeutschen stünden der Nato als gute Soldaten gegen die Sowjetunion zur Verfügung”. Ich habe darauf in der Zeitschrift Sozialistische Politik [1] über das Thema der Vertriebenenfrage einen Artikel geschrieben und in diesem Wenzel Jaksch scharf angegriffen. [2] Aufgrund dieses Artikels wurde ich aus der Seliger-Gemeinde ohne jedes Verfahren ausgeschlossen. Bei der SPD ist es in der Vertriebenenfrage ebenso wie bei anderen Themen: Man schließt sich bürgerlichen Positionen an und gerät, zumal in den Zeiten des kalten Kriegs und wirtschaftlichen Aufschwungs, immer mehr in das rechte Fahrwasser: Aufrüstung, Remilitarisierung, Notstandsgesetze… Im Sudetendeutschen Rat nahm die Seliger-Gemeinde auch kommentarlos zur Kenntnis, daß frühere sudetendeutsche Nationalsozialisten als Funktionäre diesen Gesamtverband repräsentierten.
Was war der wichtigste Unterschied zwischen der Gewerkschaftsarbeit, die Du vor dem Zweiten Weltkrieg im Sudetendeutschland und danach in Westdeutschland, im DGB und der IG Textil machen konntest? |
Drüben galt, daß das sozialistische Ziel auch das Ziel der Gewerkschaften sein muß. Hier zwang man uns, unter Hinweis auf die Einheitsgewerkschaft, alle sozialistischen Forderungen aus dem Programm herauszunehmen und „nur-gewerkschaftliche” Politik zu betreiben. Unter den Bedingungen des Kalten Kriegs und Booms hat das zusätzlich dazu beigetragen, daß jeder Begriff von dieser kapitalistischen Gesellschaft verloren ging. Das rächt sich heute bitter. Die Gewerkschaften stehen fassungslos vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik und der Massenarbeitslosigkeit. Sozialpartnerschaft hat ihnen nichts gebracht. Im Fall meiner Branche, der Textilindustrie und insbesondere beim Raum Augsburg, wurde der Großteil der Arbeitsplätze wegrationalisiert oder ins Ausland verlagert – und die „sicheren” Ersatzarbeitsplätze, z.B. MAN, sind inzwischen auch alles andere als sicher.
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Du hast vor und nach dem Krieg enge Beziehungen zur IV. Internationale gehabt. Was bedeutete und was bedeutet das für Dich? |
Ich hatte bereits in den dreißiger Jahren Kontakt mit Genossen aus Dresden, die mit Trotzki in Verbindung standen. Wir haben damals bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in Sudetendeutschland eine kleine Gruppe aufgebaut und eine Zeitung herausgegeben. Dann mußte ich auch in der Wehrmacht dienen – glücklicherweise nur als Sanitäter, wo ich auch den Gegner pflegen konnte. Nach dem Krieg, 1948 in Augsburg, kam ich in Kontakt zu Schorsch Jungclas. Seit diesem Zeitpunkt wurde unsere Zusammenarbeit immer enger. In den fünfziger und sechziger Jahren bildete die Zeitung Sozialistische Politik ein wichtiges Bindeglied – ich hatte immer eine größere Anzahl in Augsburg verkauft. Diese Verbindung zur IV. Internationale war politisch lebenswichtig – für mich war es und ist es die einzige Möglichkeit, mich mit der sozialistischen Theorie und Praxis zu befassen und sie auf die gegebenen Verhältnisse anzuwenden. Ohne diese Beziehung wäre das passiert, was mit Dutzenden Sozialdemokraten, die sich Anfang der 50er Jahre hier in Augsburg noch als Sozialisten verstanden, passierte: sie verbürgerlichten völlig.
Ich habe versucht diese Bindung auch innerhalb der SPD zu verankern. Wir schufen den „Marxistischen Arbeitskreis”, der ein Gegengewicht zur Rechtsentwicklung der SPD bilden sollte. Die Parteiführung ging immer schärfer gegen uns vor, insbesondere, als wir in der Remilitarisierungsfrage eine große Mehrheit in der Augsburger SPD gegen den Kurs der Parteiführung hinter uns bekamen. Dem Arbeitskreis wurde verboten, Referate ohne Genehmigung zu halten; auf diese Art wurde er schließlich 1958/59 völlig abgewürgt. Seither wurde ich politisch immer stärker isoliert. Dazu kommt, daß viele mit denen man noch sinnvolle Diskussionen führen konnte, inzwischen tot sind. Und schließlich ist natürlich auch Augsburg, zumal nach dem Niedergang der Textilindustrie, was ja auch ein Weggang Hunderter guter Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter hieß, kein Pflaster, wo der Sozialismus blüht. Gerade in dieser Situation hat für mich die Bindung an die IV. Internationale, die GIM und die Zeitung was tun – für die ich ja regelmäßig Material, vor allem für Kurznachrichten, beisteuere, an Bedeutung gewonnen.
Aus: was tun Nr. 387 (13.7.1984). |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 311 (September 1997). | Startseite | Impressum | Datenschutz