Auf genauso überraschende wie unausgeglichene Weise ist die Forderung nach der 35-Stunden-Woche erneut auf die Tagesordnung getreten. In den achtziger Jahren wurde die Fackel vor allem durch die IG-Metall getragen, die ihre Mitgliedschaft in einer machtvollen Kampagne der Propaganda und des Kampfes mobilisierte. Ein Jahrzehnt später ist es die Regierung Jospin, die neben der Arbeiterbewegung in aller Eile und von oben ein Gesetz annimmt, um damit gegen alle Erwartung ein Wahlversprechen zu erfüllen. Unter dem Druck von Rifondazione Comunista machte die Regierung Prodi dasselbe. Und die beiden Regierungen veröffentlichten diskret eine gemeinsame Erklärung, in der sie ihr Vorgehen in einen europäischen Rahmen stellen.
Von François Vercammen
Befinden wir uns also am Vorabend eines großen internationalen Kampfes zugunsten einer radikalen Verkürzung der Arbeitszeit? Es gibt eine Chance dafür. Doch die zu überwindenden Hindernisse sind zahlreich.
Vor allem sind die sozialdemokratischen Apparate der Parteien und Gewerkschaften in Europa aus Stein - perplex, ungläubig und feindlich eingestellt. Es gibt überhaupt keinen Willen, diese Gelegenheit zu ergreifen. Sie sind doppelt gelähmt, durch ihre Unterstützung der EU im Namen des vereinten Europas, und ... durch das Gegenteil, die Konkurrenz zwischen den Mitgliedsländern der EU. Schröder, der mögliche Kanzlerkandidat der SPD für die Nachfolge Kohls, hat sich am zynischsten geäußert: "Die 35-Stunden-Woche von Jospin, welche Chance für die deutsche Wirtschaft!" Der Europäische Gewerkschaftsbund, der zuerst aktiv werden müßte, ist abwesend. Auf dem Luxemburger Beschäftigungsgipfel hat er sich wie gewohnt hinter die neoliberale Politik der Kommission und des Ministerrates gestellt. Dafür hat er einen Apfel und ein Ei bekommen: Die Ausweitung des "sozialen Dialogs" mit der UNICE (Unternehmerverband) und der Kommission. Der EGB entschuldigt sich - es läge an der Haltung der nationalen Gewerkschaftsführungen. Jene haben alles unternommen, um eine Ausweitung der französischen Bresche zu verhindern. Denn dies würde die Reste der nationalen "Sozialpartnerschaft" mit den Unternehmern und den Regierungen unterminieren. Aber eine für die Arbeitenden günstige Durchsetzung der 35-Stunden-Woche erfordert einen wirklichen Kampf.
In den aktiven und kämpferischen Teilen der europäischen Gewerkschaftsbewegung hat man die günstige Gelegenheit wahrgenommen: Der Beginn einer alternativen Gewerkschaftslinie taucht auf. Es gab Demonstrationen, Kongresse, Erklärungen, ja sogar Streiks, wenn auch von Minderheiten und verstreut. Um das Ruder herumzureißen, bräuchte es eine Gesamtbewegung für eine radikale und allgemeine Reduzierung der Arbeitszeit, die das Los der Arbeitenden wirklich verbessern würde: ohne Lohnverlust und mit entsprechenden Neueinstellungen, der Aufhebung (nicht gewünschter) Teilzeit, mit Beschränkung von Überstunden (die doppelt bezahlt und gesetzlich eingeschränkt sein müßten), - gegen die Jahresarbeitszeitkonten, die Flexibilisierung und mit Kontrolle bei der Umsetzung in den Unternehmen.
Da aber eine solche Bewegung fehlt, können die Einwände bei Lohnabhängigen schwerwiegende Konsequenzen haben. Denn seit zehn, fünfzehn Jahren hat die Arbeitszeitverkürzung im wesentlichen bedeutet: Reduzierung der Löhne, Frühverrentung für Männer und Teilzeitarbeit für Frauen (was natürlich auch einen scharfen Lohnschnitt bedeutet), sowie eine phantastische Zunahme der Produktivität und der Arbeitsintensität. Da sich das Kräfteverhältnis verschlechtert und der Staat Subventionen gezahlt hat, haben die Unternehmer ihren Reibach gemacht: "Die Reform des Arbeitsmarktes läuft" und die Sozialversicherung ist bedroht.
Paradoxerweise könnte es die wortradikale Reaktion der französischen Unternehmer sein, die der Bewegung Dynamik verschaffen könnte. Während man auf der Linken ein Umbiegen des vielversprechenden Anfangs auch mit Unterstützung von Jospin befürchtet, kündigten die Unternehmer ihren Krieg gegen den doppelten Zwang an, gegen das Gesetz und das genaue Datum. Und indem sie die hilft, die verschiedenen Schichten und Stände in der Arbeitswelt zu einen, und dadurch das Kräfteverhältnis verbessert, stößt die Arbeitszeitverkürzung frontal auf die Unternehmerideologie. Die Vorstellung, daß die Massenarbeitslosigkeit durch eine massive und schnelle Arbeitszeitverkürzung abgebaut werden kann, bringt das neoliberale Konzept zur Lösung der Arbeitslosigkeit in Bedrängnis: der Abbau der Staatsdefizite (und über die Reduzierung der Zinsen die Anregung der Investitionen) und die Senkung der Arbeitskosten (der direkten und vor allem indirekten Löhne). Man darf auch nicht vergessen, daß die Bourgeoisie die "Untätigkeit der kleinen Leute" noch nie gemocht hat, da sie ja ein ungenutztes Ausbeutungspotential darstellt.
Die Arbeitszeitverkürzung ist eine Konfliktstrategie. Das lehren uns 150 Jahre Geschichte. Und dieser Konflikt findet im Zentrum des Klassenkampfes statt.