In Frankreich erklären die Unternehmerverbände samt ihren politischen und publizistischen Transmissionsriemen, der Regierungsbeschluß zur 35-Stunden-Woche sei eine "linke Verirrung", eine rein französische Angelegenheit. Regierungschef Lionel Jospin (PS) sei schließlich auf der Europakonferenz der sozialdemokratischen Parteien in Malmö im Juni 1997 völlig isoliert gewesen, und auch das Europaparlament habe sich dank "verantwortungsbewußter" sozialdemokratischer Stimmen gegen die 35- Stunden-Woche ausgesprochen. Und in Italien hätten die Gewerkschaftsverbände den Beschluß der Regierung Prodi zur Einführung der 35-Stunden-Woche abgelehnt. Doch in allen europäischen Ländern steht die Frage der Arbeitszeitverkürzung in der einen oder anderen Form auf der Tagesordnung. Es drängt sich auf, vereinheitlichende Forderungen zu entwickeln, die einen Kampf auf europäischer Ebene ermöglichen.
Von Michel Dupont
Das Europa von Maastricht ist ein rein kapitalistisches Projekt, dem es nur darum geht, alle Hindernisse für den freien Verkehr von Kapital und Waren zu beseitigen. Das bereits in den Römischen Verträgen bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verankerte Vorhaben einer sozialen Angleichung wurde nie ernsthaft betrieben. Heute wird die "Sozialunion" endgültig dem sog. "Sparzwang" der öffentlichen Haushalte geopfert.
Trotz alledem gab es über einen längeren Zeitraum - von Anfang der 60er bis zum Anfang der 80er Jahre - eine europaweite Tendenz zur Verkürzung der Arbeitszeit. Sie ergab sich nicht aus europaweiten Initiativen, sondern aus der Mobilisierung der Gewerkschaften und Lohnabhängigen in den einzelnen Ländern.
Das war keine sich irgendwie harmonisch vollziehende "Gesetzmäßigkeit". Ab Mitte der 80er Jahre wurde diese Tendenz durch die Offensive des Kapitals in den einzelnen Ländern mehr oder weniger gestoppt. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohneinbußen kann jetzt nur noch im Konflikt mit der Kapitalseite erkämpft werden.
Schematisch lassen sich drei "Fälle" unterscheiden. Einen Sonderfall stellt Britannien dar. Die neoliberale Offensive war dort besonders heftig und früh erfolgreich. Zu ihren Folgen gehörte eine empfindliche Ausdehnung der Arbeitszeit und eine besonders tiefgreifende Spaltung der Lohnabhängigen. In einer Reihe von Ländern (Frankreich, Italien, Spanien, Belgien und Irland) stagnierten die Verhältnisse mehr oder weniger und die Arbeitszeit wurde geringfügig gesenkt. In einer dritten Gruppe von Ländern (Deutschland, Niederlande, Dänemark und Norwegen) gelang es der Arbeiterbewegung in den 80er Jahren, gegen den Widerstand der Kapitalseite eine Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen.
In Großbritannien gab es 1979 im Metallbereich eine Reihe von Streiks für die 35-Stunden-Woche. Das führte dort zur tariflichen Einführung der 39-Stunden-Woche - andere Branchen folgten. Doch gleich zu Beginn der Ära Thatcher schnellte die Zahl der Überstunden nach oben, so daß 1992 mehr als ein Viertel der Arbeiter über 48 Stunden in der Woche arbeitete. Gleichzeitig entwickelte sich die Teilzeitarbeit so rasch, daß ein Viertel aller Arbeitskräfte und die Hälfte (!) aller beschäftigten Frauen davon betroffen wurde. Für Arbeitsverträge unter 16 Wochenstunden gab es nicht den geringsten sozialen Schutz. 1989 gab es - wieder im Metallbereich - abermals eine Reihe von Streiks für die Arbeitszeitverkürzung. Es gelang der Unternehmerseite aber, Verhandlungen von Betrieb zu Betrieb durchzusetzen und den Flächentarif faktisch auszuhebeln. Während in einigen Großbetrieben die 37-Stunden-Woche eingeführt wurde, diktierte in den meisten Betrieben wieder die Willkür der Unternehmer bzw. der Geschäftsleitungen den Inhalt der Vereinbarungen.
In der zweiten Ländergruppe wurde die Arbeitszeitverkürzung mit Beginn der 90er Jahre hauptsächlich zu einem Mittel der innerbetrieblichen Lohnsenkung, gestützt auf die Angst um die Arbeitsplätze.
In Frankreich wurde die Arbeitszeit seit 1982 nicht mehr gesenkt, außer durch Zunahme von Teilzeitarbeitsplätze (von 5 auf 15% der Beschäftigten zwischen 1980 und 1997). 1995 erwirkte die Rechtsregierung durch Vergabe öffentlicher Mittel in 1500 vor allem kleineren und mittleren Betrieben den Übergang von 35 zu 32 Stunden in der Woche - was insgesamt 25 000 Arbeitsplätze schuf bzw. "rettete".
In Spanien gilt seit 1983 die 40-Stunden-Woche, wobei sie in den Branchen und Betrieben nur im Jahresdurchschnitt realisiert werden muß. Hier konnten die Unternehmer hauptsächlich Überstundenzuschläge sparen, gestützt auf für sie günstige Kräfteverhältnisse in den einzelnen Betrieben.
In Italien wurde das seit dem Faschismus geltende Gesetz über die Höchstarbeitszeit (48-Stunden-Woche) 1997 durch die 40-Stunden- Woche ersetzt - faktisch hatten die Lohnabhängigen sie durch ihre Kämpfe schon in den 70er Jahren durchgesetzt. In den 90er Jahren experimentierte man - wie in Belgien auch - mit verschiedenen Formen der Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, unterstützt durch öffentliche Fördergelder. Nur Rifondazione Comunista und der linke Flügel der Gewerkschaften forderten eine substantielle allgemeine Arbeitszeitverkürzung.
In der dritten Gruppe von Ländern setzte sich die Arbeitszeitverkürzung in den 80er Jahren fort, aber auch hier v.a. durch Schaffung von Teilzeitjobs.
In Deutschland setzte der Kampf der IG Metall eine wirkliche Arbeitszeitverkürzung durch. Gleichzeitig wurden aber die Weichen für die Flexibilisierung gestellt, so daß heute in Deutschland Lohnsenkung und eine verstärkte Verfügbarkeit der Arbeitskräfte über betriebliche Abkommen (symbolisch dafür steht das "VW-Modell") durchgesetzt werden, die oft "Bündnis für Arbeit" genannt werden. Alles mögliche wird auf diese Weise "geschaffen", nur keine Arbeitsplätze.
In Dänemark führte die Regierung 1985 die 39-Stunden-Woche ein, um die bittere Pille des gleichzeitig verhängten Lohnstopps zu versüßen, aber 1987 wurde die 37-Stunden-Woche tariflich erkämpft. Seit 1996 können die Beschäftigten einen langen Urlaub mit Arbeitslosengeld in Höhe von 70% ihres Lohns vergütet bekommen, wobei dies mit Neueinstellungen kompensiert wird.
Über die Niederlande und ihr "Poldermodell" ist viel geschrieben worden. Die Neoliberalen preisen den massiven Anstieg der Teilzeitarbeit ebenso wie den teilweise empfindlichen Lohnverzicht. Sicher ist die Teilzeitarbeit in den Niederlanden besser sozial abgesichert als anderswo. Dennoch führt sie zur Schwächung der abhängig Beschäftigten. Inzwischen hat die Kapitalseite den Trend zur Arbeitszeitverkürzung gestoppt (Philips hat 1996 ein Lohnerhöhung von 6% über zwei Jahre als Gegenleistung für den Verzicht auf weitere Arbeitszeitverkürzung angeboten!).
Ein besonderes Problem der Teilzeitarbeit wirft der Fall Schweden auf: Dort ist die durchschnittliche Arbeitszeit in den 80er Jahren gestiegen, und zwar hauptsächlich wegen des Anstiegs der Teilzeitarbeit. 42% der Frauen arbeiten dort Teilzeit. Aber 60% der Teilzeitbeschäftigten arbeiten über 20 Stunden in der Woche (im EU-Durchschnitt nur 38%). Daraus ergibt sich eine gewisse Konvergenz mit den Normalarbeitsplätzen, auch hinsichtlich der sozialen Absicherung. Teilzeit wirkt in Schweden weniger diskriminierend als in anderen Ländern. Dies erklärt, warum die Gewerkschaften sich teilweise weigern, für eine kollektive Arbeitszeitverkürzung zu kämpfen. Doch seit Anfang der 90er Jahre nehmen Erwerbslosigkeit und soziale Ungleichheit auch in diesem Land zu.
Die wirkliche Herausforderung liegt darin, durch eine länderübergreifende Offensive für eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverzicht das "Argument" der Konkurrenz und der nationalen Standortlogik auszuhebeln. Die EU-Richtlinie von 1993 ist nichts als eine Karikatur auf das angeblich "soziale" Europa. Eine vereinheitlichende Forderung könnte sein, sie durch eine neue verbindliche Richtlinie zu ersetzen: die gesetzliche Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und der Verpflichtung zu entsprechenden Neueinstellungen in allen Ländern innerhalb von zwei Jahren. Das steht nicht im Widerspruch zur tariflichen Durchsetzung weitergehender Regelungen, wo immer diese möglich sind.