Von Michel Husson
Es ist als ein Sieg der sozialen Bewegung zu werten, daß die Regierung Jospin ein Gesetz angekündigt hat, das die 35-Stunden-Woche festschreiben soll. Die Arbeitgeberseite hat dies gut verstanden; das ist auch der Grund dafür, daß sich in diesem Lager auf der Beschäftigungskonferenz am 10. Oktober eine tiefe Krise zeigte, die in der Abwahl von Jean Gandois von seinem Posten als Präsident des Arbeitgeberverbandes CNPF gipfelte.
Dieser relativ unerwartete Ausgang erklärt sich vor allem aus dem fortschreitenden Substanzverlust aller neoliberalen Erklärungen für die Arbeitslosigkeit: 15 Jahre steigender Flexibilität und sinkender Lohnkosten haben es nicht geschafft, die Arbeitslosigkeit einzudämmen.
Diese Wendung beweist die politische und vor allem praktische Unhaltbarkeit der traditionellen Arbeitgeberargumente. Das erste ist das der Rentabilität: Verkürzung der Arbeitszeit ohne Senkung der Löhne halte die Unternehmen davon ab zu investieren. Doch im Verlauf der letzten 10 Jahre ist in Frankreich der Lohnanteil am produzierten Wert von 69% auf 60% gesunken. Aber die Investitionsrate ist keineswegs gewachsen; statt dessen kam der Rückgang der Lohnquote den Profiten aus Nichtinvestitionen (besonders den Einkünften aus Geldgeschäften) zugute. Im selben Zeitraum ist die Produktivität gestiegen, was eine fortgesetzte Arbeitsverdichtung zur Folge hatte, ohne daß sich das irgendwie auf die Löhne ausgewirkt hätte: die Löhne blieben seit 1982 blockiert, ebenso die Wochenarbeitszeit. Experten des INSEE (des Nationalen Instituts für Statistik und Wirtschaftsforschung), des Planungsamts und des Arbeitsministeriums ziehen für den 10. Oktober das folgende Resümee, das die Situation gut beschreibt: "Die Gesamtheit der Indikatoren beschreibt die Lage der französischen Gesellschaften unzweideutig. Die finanziellen Beschränkungen sind gelockert worden und die Investitionsentscheidungen der Unternehmen werden hauptsächlich durch die Aussichten auf Absatzmärkte bestimmt." Mit anderen Worten: Es ist gerechtfertigt und ökonomisch sinnvoll, eine Neuverteilung des gesellschaftlichen Produkts anzustreben, die stärker dem Faktor Arbeit zugute kommt. Andernfalls wird die Stagnation der Nachfrage aus Lohneinkünften weiter auf die Investitionen drücken.
Das zweite Argument ist das der Wettbewerbsfähigkeit. Eine Erhöhung der Löhne würde über die dadurch verursachten Verluste an Marktanteilen die Arbeitslosigkeit steigern, heißt es. Das Gegenargument hierzu findet man aus dem vorherigen: Wenn die Konkurrenz so hart ist, könnten die Unternehmen die höheren Lohnkosten durch niedrigere Finanzkosten kompensieren. Wenn man etwa die Lage 1997 mit der Anfang der 80er Jahre vergleicht, als eine Verkürzung der Arbeitszeit auch schon diskutiert wurde und zwar mit fast denselben Argumenten wie heute, so findet man, daß es heute einen Handelsüberschuß gibt, der etwa 2% des BIP entspricht, während es 1982 ein Defizit von annähernd derselben Größenordnung gab. Die französische Wirtschaft besitzt eine Manövrierspielraum, der ihr eine Rückorientierung auf die Binnennachfrage erlauben würde.
Die Verkürzung der Arbeitszeit ohne Lohneinbußen läuft auf eine Ankurbelung des Konsums hinaus, weil sie die Lohnmasse in dem Maße vermehrt, wie Neueinstellungen vorgenommen werden. Wenn sie aus einer Steuer auf Einkünfte aus Finanzgeschäften finanziert wird, so läßt sich dies beschreiben als ein Transfer von den Einkünften der Rentiers (AktienbesitzerInnen, d.Üb.) auf die Löhne. So werden diese Einkünfte eher konsumiert und stehen auch einem Wachstum nicht im Wege. Auf der Konferenz wurde unterstrichen, daß es ein Wachstumspotential gebe, das ohne Inflation mobilisiert werden könne. Indessen würde ein angenommenes Wachstum von 3% in den nächsten fünf Jahren (was einer Verdopplung des Wachstums der letzten fünf Jahre gleichkommt) die Arbeitslosigkeit nur um einen drittel Prozentpunkt pro Jahr senken, also von 12,5% heute auf 11% im Jahr 2002. Eine massive Arbeitszeitverkürzung ist daher notwendig, will man den in einer Generation akkumulierten "Bestand" an Arbeitslosigkeit ernsthaft senken.
Ein Hindernis für die Verkürzung der Arbeitszeit, das es zu beseitigen gilt, besteht in der von Arbeitgeberseite damit verknüpften Lohnsenkung: Wenn eine Verkürzung der Arbeitszeit einhergeht mit einer Senkung des Lohnes, dann wird lediglich Arbeitslosigkeit umverteilt, nicht jedoch Arbeit. Und für angekündigte Lohnsenkungen geht niemand auf die Straße; das wird besonders deutlich, wenn man sich die niederen Einkommensklassen in Frankreich ansieht. Das ist der Grund, weshalb die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich fortschreitend populärer wurde und inzwischen von der Regierung aufgegriffen wurde. Doch die größten Bedenken richten sich gegen die Frage, ob wirklich Arbeitsplätze geschaffen werden. Eine Verkürzung der Arbeitszeit ohne entsprechende Einstellungen führt nur zu einer höheren Arbeitsbelastung. Diese Gefahr, in kürzerer Zeit dieselbe Arbeit verrichten zu müssen, prägt die Erfahrungen der LohnempfängerInnen um so mehr, als sie schon heute fortgesetzter Arbeitsverdichtung ausgesetzt sind. Die Kontrolle über Neueinstellungen gehört deshalb zu den entscheidenden Bedingungen einer erfolgreichen Arbeitszeitverkürzung.
Aus all diesen Gründen ist von der ArbeiterInnenbewegung (aus unterschiedlichen Ansichten) die Idee eines Rahmengesetzes schrittweise wieder aufgegriffen worden. Ein solches Rahmengesetz soll Garantien in allen Punkten geben: die Finanzierung sichern, das Zersplittern der dezentralen Verhandlungen vermeiden, und - das ist der Hauptanspruch der Lohnabhängigen - dem Recht auf Arbeit einen neuen Gehalt geben. Gerade dieser letzte Punkt aber ist für die Arbeitgeberseite unannehmbar, da es deren erklärtes Ziel ist, den Begriff der gesetzlich fixierten Arbeitshöchstdauer schlichtweg verschwinden zu lassen.
Die Vorschläge der Regierung stellen sicherlich einen Schritt vorwärts dar, doch sie sind auch voller Zweideutigkeiten, die beseitigt werden müssen. Zuerst ist der Zeitrahmen zu lang. Die 35 Stunden sind ein Äquivalent für bereits stattgehabte Produktivitätsfortschritte, und in diesem Sinne ein Muß. Die Verkürzung auf 35 Stunden aber in die fernere Zukunft zu verlegen bedeutet, sie durch Lohnsteigerungen, die es noch gar nicht gegeben hat, zu finanzieren, oder durch Produktivitätsgewinne, die erst noch kommen. Es besteht damit die Gefahr, daß die dadurch geschaffene Zahl von Arbeitsplätzen reduziert oder gegen eine zusätzliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen eingetauscht wird. Ein beunruhigendes Indiz hierfür wird durch die staatliche Hilfe für diejenigen Unternehmen geliefert, die die Arbeitszeit in gewünschtem Maße um 10% reduzieren und dabei 6% neuer Arbeitsplätze schaffen. Die Differenz von vier Prozentpunkten beschreibt einen Zuwachs der Produktivität, dem keine Neubeschäftigung entspricht. Diese Regelung ist um so kritikwürdiger, als sie eine Verschlechterung gegenüber dem noch von der Rechten verabschiedeten Robien-Gesetz bedeutet, das einen streng proportionalen Ausgleich vorsah (10% neue Beschäftigung für 10% Arbeitszeitverkürzung). Es geht hier nicht um Rechenspielchen, sondern um einen wichtigen sozialen Grundsatz, der Auswirkungen auf die Schaffung von Arbeitsplätzen hat und die Frage nach der Kontrolle der ArbeiterInnen darüber stellt.
Bemerkenswert auch, daß nirgends von der Finanzierung des Projekts die Rede ist. Die Vorschläge, die von Seiten der ArbeiterInnenbewegung kommen, sind in gewissem Sinne "verantwortungsbewußter", weil sie alle eine Gegenfinanzierung präsentieren, z.B. aus den gesunkenen Kosten der Arbeitslosigkeit oder aus einer Steuer auf Einkünfte aus Finanzgeschäften. Es können keine Wunder vollbracht werden: Man kann nicht Arbeitsplätze schaffen, das Lohnniveau beibehalten, die Investitionsbedingungen und die Gewinnmöglichkeiten der Rentiers aufrechterhalten. Die Unterstützung für die Unternehmen ist nicht an sich zu kritisieren, aber doch insofern, als sie via Staatshaushalt die Löhne indirekt belastet und nicht die Rentiers. So wie die Sache steht, bleibt die Finanzierung aber ein Geheimnis. Es bleibt nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Entweder werden hinreichend Arbeitsplätze geschaffen, dann aber ist die Finanzierung unklar. Oder es werden sehr wenig Arbeitsplätze geschaffen, dann kann man das Projekt begraben.
Und schließlich begrenzt das zukünftige Gesetz sein Anwendungsgebiet bis zur Unbrauchbarkeit. Es ist keine Maßnahme angekündigt, um die Zahl der Teilzeitbeschäftigungen für Frauen zu beschränken. Tatsächlich sollte das Gesetz jedwede Subvention oder andere Maßnahme verbieten, die Teilzeit begünstigt, weil diese in der Praxis frauendiskriminierend eingesetzt wird. Allgemeiner sollte ein Hindernis gegen prekäre (ungeschützte) Beschäftigung aufgenommen und auf alle Unternehmen erstreckt werden. Die Regierung ihrerseits plant, Unternehmen mit weniger als 20 Beschäftigten bis zum Jahr 2002 von der Wirkung dieses Gesetzes zu befreien. Das wird dem Subunternehmertum neuen Auftrieb geben und im Privatsektor eine "Zweiklassengesellschaft" von Beschäftigten herbeiführen. Gerade in den kleinen Unternehmen ist die Lage der Beschäftigten eher unsicher und tut ein gesetzlicher Schutz not. Ebensowenig ist einzusehen, warum die Beschränkung der [regulären] Wochenarbeitszeit nicht für den öffentlichen Sektor gelten soll. Die größte Unsicherheit jedoch besteht in der Frage zukünftiger Überstunden; über eine maximal erlaubte Wochenarbeitszeit wird im Gesetzestext nichts ausgesagt, sie bleibt bei 48 Stunden.
Schließlich ließe es sich gut an, wenn die Regierung Jospin den Aufbau des sozialen Europa (wieder) in Angriff nähme und feierlich vorschlagen würde, die Arbeitszeitverkürzung auch in den Nachbarstaaten einzuführen. Damit würde das Wettbewerbsargument auf null reduziert und der Weg zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit beschritten, die mit dem Handelskrieg überhaupt nicht zusammenhängt. Arbeitszeitverkürzung ist nämlich eine recht "kooperative" Methode in dem Sinne, daß ihre Wirksamkeit mit ihrer Verbreitung steigt. Die Schließung des Renault-Werkes in Vilvoorde hatte wenigstens erreicht, auf die Möglichkeit der Arbeitszeitverkürzung als Alternative zur Konkurrenz zwischen verschiedenen Niederlassungen aufmerksam zu machen. Und die Art und Weise, in der die Regierung Prodi unter dem Druck von Rifondazione Comunista jüngst gezwungen wurde, die 35-Stunden-Woche wieder auf die Tagesordnung zu setzen, ist ein Beispiel für die Glaubwürdigkeit, die dieses Thema errungen hat.
Das Hauptaufgabe liegt aber nicht auf der gesetzgeberischen Ebene. Sie liegt in den Unternehmen und den Vierteln, dort, wo die Lohnabhängigen, gemeinsam mit den Organisationen der Arbeitslosen, Pläne zur Verkürzung der Arbeitszeit ausarbeiten müssen, wobei sie von der neuen Perspektive, die das Gesetz bietet, profitieren können. Ausgehend vom heute wohl gesicherten Übergang zur 35-Stunden-Woche geht es darum, diesem Übergang einen positiven Gehalt zu geben, den für die Arbeit günstigsten, und daraus einen Kristallisationspunkt für einen Kampf gegen Arbeitslosigkeit auf europäischer Ebene zu machen.
Dieser Artikel erscheint (als Teil des Schwerpunktthemas Arbeitszeitverkürzung) in Inprekorr Nr. 316