Die Vierte Internationale, die kubanische Revolution und Che Guevara

Zu Lebzeiten war Che Guevara alles andere als ein Mythos und höchst umstritten. Im nachfolgenden Artikel beschreiben wir den Standpunkt, den die Vierte Internationale gegenüber Che Guevara und der kubanischen Revolution in ihren Publikationen und Aktivitäten eingenommen hat.

Von Livio Maitan

Wie zu erwarten, war der dreißigste Todestag von Ernesto Che Guevara Gegenstand einer wahren Flut von Büchern und Publikationen aller Art, grenzenloser Vermarktung sowie der Wiederbelebung eines Mythos. Zu seinen Lebzeiten hingegen war Guevara eine in der internationalen Arbeiter- und antiimperialistischen Bewegung umstrittene Persönlichkeit, was entweder offen zum Ausdruck kam oder sich im Totschweigen äußerte. So fungierte er z.B. für die meisten lateinamerikanischen Kommunistischen Parteien als Zielscheibe ihrer Polemiken gegen die Orientierung und Auffassungen der kubanischen Revolutionäre. Die Führer der wichtigsten kommunistischen Parteien sahen in ihm einen Linksabweichler oder einen bloßen Abenteurer, und die chinesische Führung ging sogar soweit, sein Engagement in Bolivien und selbst seinen Tod totzuschweigen.

Die facettenreiche Persönlichkeit und das Werk des Che haben wir bereits in einem Dossier der Septemberausgabe (Nr. 311) von Inprekorr analysiert. Nunmehr soll eine Gesamtsicht der Positionen, die die Vierte Internationale in ihren Publikationen und Aktivitäten zu Che Guevara und der kubanischen Revolution eingenommen hat, dargelegt werden.

PERMANENTE REVOLUTION

Unmittelbar nach dem Sturz des Batistaregimes schrieben wir in der ersten Ausgabe unserer Zeitung Quatrième Internationale (QI) von 1959, dass der Sieg der Bewegung um Fidel Castro eines der wichtigsten Ereignisse der derzeitigen Kolonialrevolution darstelle. Im Editorial der Ausgabe vom September 1959 der gleichen Zeitschrift erschien eine Analyse der ersten Monate des neuen Regimes, die besonders die kontinuierliche Entwicklung der Revolution und die Radikalität der getroffenen Maßnahmen wie z.B. der Agrarreform hervorhob. In einer weiteren Analyse im Juli des darauffolgenden Jahres schrieben wir: "Nach den bereits erzielten Fortschritten . hat die kubanische Revolution die bürgerlich demokratischen Grenzen weit hinter sich gelassen und greift zu Maßnahmen, die das kapitalistische Regime an sich antasten". Nichtsdestotrotz spiegelten unsere Artikel einerseits unzureichende Kenntnisse der Geschehnisse wider - besonders in Hinblick auf die Rolle des Che in der Guerilla -, während sie andererseits den spezifischen Charakter und die Dynamik der castristischen Führung nicht hinreichend erfassten. Besonders aufgrund der im Oktober beschlossenen Enteignungsmaßnahmen vervollständigten wir unsere Analyse und erarbeiteten für den bereits auf Januar 1961 festgesetzten Weltkongress einen Resolutionsentwurf, in dem ohne Umschweife erklärt wurde, dass "Kuba kein kapitalistischer Staat mehr ist, sondern tatsächlich zum Arbeiterstaat geworden ist". In Bezug auf die Entwicklung der Führungsgruppe der Revolution hieß es:

"Die fidelistische Führung ist ihrem Ursprung nach eine Jakobinergruppe, kleinbürgerlich aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung und nichtproletarischen Ideologie, wobei sie sich von Anfang an mit der Bauernmassen und nach und nach - besonders nach der Machtergreifung - mit den proletarischen Massen zusammengeschlossen hat. Aufgrund der Verhältnisse in Kuba und der internationalen Lage geriet sie zwangsläufig zunehmend unter den Einfluss dieser Massen und musste sich von den konservativen kleinbürgerlichen und auch bürgerlichen Elementen, mit denen sie sich zeitweise arrangiert hatte, befreien. Zwar empirisch, aber dennoch entschlossen passte sie sich der Logik der permanenten Revolution an und ging weit über die ursprünglichen Ziele hinaus." [1]

Einige Monate zuvor hatten, trotz des Widerstands der kommunistischen Parteien und der kubanischen Stalinisten, trotzkistische Aktivisten aus fünf Ländern (Argentinien, Chile, Mexiko, Peru und Uruguay) am ersten Kongress der lateinamerikanischen Jugend in Havanna teilgenommen und ihre "bedingungslose Unterstützung der kubanischen Revolution" erklärt.

In den Folgejahren würdigten unsere Organisationen und Publikationen die wichtigsten Entscheidungen der kubanischen Revolutionäre. Im April 1962 veröffentlichte Quatrième Internationale den vollständigen Text der zweiten Erklärung von Havanna. Im Vorwort stand, "dass seit den Anfangsjahren der Dritten Internationale niemand in der revolutionären Bewegung seine Stimme so laut und leidenschaftlich erhoben hat." Ein weiteres Editorial, drei Monate später, ist der "Kaltstellung" von Anibal Escalante gewidmet, der von Castro als Vertreter bürokratischer Auffassungen und Verhaltensweisen angegriffen wurde.

AUSWEITUNG AUF LATEINAMERIKA

Dies war auch der Anlass, dass sich die Zeitschrift erstmals mit der Rolle Ches befasste. Besondere Erwähnung fand eine Rede von Che Ende April, in der er einerseits die Bedeutung Kubas für ganz Lateinamerika betont hatte, andererseits nicht davor zurückgeschreckt war, die sich abzeichnende Kluft zwischen der Führung und den Massen anzugreifen ("wir sprechen anscheinend zwei verschiedene Sprachen").

Im gleichen Jahr rief die Vierte Internationale anlässlich der Karibikkrise zur Solidarität mit Kuba auf und kritisierte das Verhalten Chruschtschows, der den Raketenabzug ohne Konsultation der Kubaner verfügt hatte. Sie warf den sowjetischen Führern nicht so sehr vor, "dass sie das Spiel nicht auf die Spitze getrieben hat, was notabene einen Moment lang kurz bevor stand (...). Der Ausbruch eines Atomkriegs entspricht nicht den Interessen der Arbeiterstaaten und der internationalen Arbeiterbewegung (...). Er entsprach auch nicht den Interessen des sozialistischen Kuba" (QI vom Dezember 1962).

1963 war die Rolle Kubas als Motor des revolutionären Aufschwungs in Lateinamerika ausdrücklicher Gegenstand eines neuerlichen Weltkongresses. In dem Text "Die theoretischen und politischen Grundlagen der Wiedervereinigung [2]" heißt es unter anderem: "Die Entstehung eines Arbeiterstaates in Kuba, dessen Form noch nicht endgültig feststeht, ist insofern von ganz besonderem Interesse, als die Revolution dort unter einer von der stalinistischen Doktrin völlig unabhängigen Führung vonstatten ging. Die Entwicklung der Bewegung des 26. Juli hin zum revolutionären Marxismus liefert ein Exempel, das nun einer Reihe anderer Länder zum Vorbild gereicht". Übrigens war gerade die übereinstimmende Haltung zur kubanischen Revolution seitens der Organisationen des Internationalen Sekretariats und der mit der US-amerikanischen SWP verbundenen Organisationen eine der Vorbedingungen für die auf dem Kongress beschlossene Wiedervereinigung (QI, 3. Quartal 1963).

WIRTSCHAFTSDEBATTE

Vor allem aber in der Zeit von 1964 bis 1967 sollten sich die Vierte Internationale und ihre Sektionen sehr weitgehend mit der kubanischen Revolution und besonders mit dem Kampf von Che Guevara identifizieren. 1964 entwickelte sich auf Anregung Guevaras, der zu der Zeit Industrieminister war, eine äußerst wichtige Wirtschaftsdebatte. Ernest Mandel beteiligte sich anlässlich einer Reise vor Ort daran und lieferte einen Beitrag, der in der Zeitschrift Nuestra Industria erschienen ist. Seine Kommentare und Ansichten waren auch in einem Artikel in der QI zu lesen, dessen Titel "Wertgesetz, Selbstverwaltung und Investitionen in der Ökonomie der Arbeiterstaaten" allein bezeichnend für die Bedeutung der Debatte ist.

Zu dieser Zeit wäre niemand in Kuba oder sonstwo auf den Gedanken gekommen, dass Guevaras Tage auf Kuba gezählt sein könnten und er 1965 mit - damals noch - unbekanntem Ziel aufbrechen würde. Wir hatten auch keine zusätzlichen Informationen und beschränkten uns daher auf Hypothesen. In einem nüchternen und scharfsinnigen Artikel (" Ein neues Schlachtfeld für Che Guevara", QI vom November 1965) umreißt Joe Hansen die lateinamerikanischen und internationalen Zusammenhänge, die damals besonders durch den konterrevolutionären Staatsstreich in Brasilien und die beginnende Eskalation in Vietnam gekennzeichnet waren. Er stellte daraufhin eine Hypothese auf, die sich in der Folge bewahrheiten sollte: "Die Vermutung liegt nahe, dass die Breschnew-Kossygin-Clique in Havanna massiven Protest gegen die öffentlichen Erklärungen Che Guevaras in Afrika und die an sie gerichtete Kritik erhoben hat."

Weiter schrieb er: "Natürlich wissen wir nicht, was sich zwischen Castro und Guevara abgespielt hat. Die kubanischen Revolutionsführer haben seit Beginn ihrer Zusammenarbeit offen und ehrlich über alle Probleme gesprochen. Höchstwahrscheinlich war dies auch diesmal der Fall (mittlerweile weiß man, dass in der Tat ein langes Treffen zwischen den beiden Führern nach Ches Rückkehr nach Havanna stattgefunden hat). Es ist möglich, dass der Zwischenfall das grundlegende Dilemma, vor dem die kubanischen Revolutionäre stehen, noch mal klarer vor Augen geführt hat. Sie haben sich dafür entschieden, alles erdenkliche - auch schmerzliche Zugeständnisse - zu machen, um die engen Beziehungen zur UdSSR aufrechtzuerhalten. Andererseits wissen sie sehr wohl, dass Moskaus Politik der friedlichen Koexistenz eine permanente und große Gefahr für ihre Revolution darstellt. Die kubanische Revolution ist um den Preis einer eventuellen Niederlage auf die Unterstützung durch weitere Revolutionen vor allem in der westlichen Welt angewiesen, um für bestimmte Zeit enge Beziehungen aufbauen zu können. Auf dieser fundamentalen Erfordernis basiert die kubanische Politik gegenüber Lateinamerika. (...) Offensichtlich ist dies zuerst Che Guevara bewusst geworden, dass alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Rückschläge zu überwinden, die negativen Auswirkungen der Niederlage in Brasilien wieder umzukehren, mehr Energie als je zuvor zu mobilisieren, einen neuen Sieg zu erringen und um die Verteidigung der kubanischen Revolution zu gewährleisten, indem man die sozialistische Weltrevolution an jedwedem Ort, wo günstige Bedingungen bestehen oder geschaffen werden können, forciert. Ist der Gedanke so abwegig, dass ein Revolutionär wie Che Guevara eine persönliche Verantwortung in dieser Zielsetzung übernimmt? Dies hat nicht im geringsten mit revolutionärer Romantik zu tun. Eben diese Art, sich einer großen Sache zu widmen, hat ihn zu einem Sozialisten par excellence gemacht und ist überhaupt die raison d'être jedes revolutionären Sozialisten in der heutigen Welt. (...) Das politische Hauptproblem, das die kubanischen Revolutionäre zu lösen haben, und die Rolle Guevaras dabei, liegen auf der Hand. Als Anhänger ihrer Revolution können wir die Kubaner nur unterstützen in ihrem heroischen Bemühen, ihre Errungenschaften zu bewahren und der Belagerung zu widerstehen."

TRIKONTINENTALE

Während der ersten Monate des Jahres 1967 verbreiteten die Organisationen der Vierten Internationale die Botschaft des Che an die Trikontinentale. Michael Löwy bestätigte später exakt unsere damaligen Einschätzungen: "In diesem glänzend geschriebenen und eindringlichen Text entwickelt der Che folgende Thesen:
  1. Der Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus, ist ein Weltsystem, das man in einer weltweiten und langdauernden Auseinandersetzung schlagen muss.
  2. Um gegen den gemeinsamen Feind der menschlichen Gattung, den US-Imperialismus, zu kämpfen, müssen die sozialistischen Länder und ihre Anhänger trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten ihre Kräfte vereinen. Die Form, in der diese Meinungsverschiedenheiten zur Zeit ausgetragen werden, ist eine Schwäche; aber die notwendige Einheit wird sich unter dem Druck des Feindes und der von ihm geführten Schläge schließlich durchsetzen.
  3. In diesem gigantischen Kampf haben die Völker der Dritten Welt die historische Aufgabe, die Existenzgrundlagen des Imperialismus in den unterentwickelten Ländern, aus denen er Profite und Rohstoffe herausholt, die als Märkte für die Produkte der Metropolen dienen und die sich heute im Zustand völliger Abhängigkeit befinden, zu beseitigen.
  4. Wir brauchen heute eine globale Strategie für den Krieg gegen den Imperialismus, die uns in die Lage versetzt, der Avantgarde des internationalen Proletariat - Vietnam - wirksame Hilfe zu leisten. Deshalb gilt es, zwei, drei, viele Vietnams zu schaffen, um den Imperialismus zur Zersplitterung seiner Kräfte zu zwingen." [3]

Unsererseits hieß es in der Juliausgabe von QI: "In Lateinamerika wird die gesamte kämpferische Avantgarde Che Guevaras Appell positiv beantworten. In mehreren Ländern existieren bereits Guerillaherde (...). Zweifellos wird die kämpferische Avantgarde in Lateinamerika Organisations- und Aktionsformen finden, um die bewaffneten Kämpfe auf dem Kontinent zu stärken und auszudehnen."

Seit Bekanntwerden von Ches Guerillatätigkeit in Bolivien sprach die Vierte Internationale ihre unverzügliche Solidarität aus. Dies galt in erster Linie für die bolivianische Sektion, deren Genossen trotz harter Repression keinen Hehl daraus machten, sich dem Unternehmen politisch und organisatorisch anschließen zu wollen. Vor seiner Verhaftung schrieb der Sekretär der POR, Hugo Gonzalez, in einem Aufruf: "Wir grüßen die Guerillagruppen von Nancahuazu (...). Die Guerilla ist ein Aufruf zum Kampf (...). Dies ist kein wahnsinniges Abenteurertum, und schon gar nicht wird der kubanische Guerillakampf mechanisch und künstlich übertragen (...). Die Guerilla in Bolivien ist das Ergebnis und gleichzeitig höchster Ausdruck der hiesigen politischen Entwicklung. Nicht nur, dass sich das bolivianische Volk dem bewaffneten Kampf nicht widersetzt, es begreift ihn im Gegenteil sogar als notwendige Konsequenz aus der jetzigen objektiven Situation" (Juni 1967).

Im Lauf des Sommers fand in Kuba die Konferenz der OLAS (Organisation der lateinamerikanischen Solidarität) statt. Dort wurde ein Text mit zwanzig Punkten verabschiedet, in dem die Prinzipien des Marxismus-Leninismus bekräftigt wurden und der sich nachdrücklich dazu bekannte, dass "der bewaffnete revolutionäre Kampf die Basis für die Revolution in Lateinamerika darstellt". Joe Hansen, damals Mitglied der Leitung nicht nur der US-amerikanischen SWP sondern auch der Vierten Internationale, nahm an dieser Konferenz teil und schrieb später: ". die beiden Schlussfolgerungen - nämlich die internationale Dimension des Befreiungskampfes und die Unabdingbarkeit des bewaffneten Kampfes auf dem Weg zum Sozialismus - wurden in Debatten und Entschließungen bekräftigt, die in der ganzen Welt Aufsehen erregten. Diese Haltung wurde in ergreifender Weise durch zwei riesige, einander sehr ähnliche Porträts illustriert: S¨mon Bolivar, der Freiheitskämpfer, und Che Guevara." (QI, Nov./Dez. 1967). Hansens Ansicht nach wurden auf der Konferenz die Unschlüssigkeiten und Mehrdeutigkeiten, die noch auf der Trikontinentale 1966 existierten, überwunden, und - wichtiger noch - es kam zu keinerlei Ungleichbehandlung.

EIGENE ANALYSEN

In aller Solidarität mit der kubanischen Revolution und Ches Guerilla versagte sich die Vierte Internationale nicht, ihre eigenen Analysen der Situation in Lateinamerika vorzubringen und ihre eigenen Vorstellungen vom revolutionären Kampf darzulegen. Im Juli veröffentlichte QI eine grundlegende Kritik vom Autor dieses Artikels an Régis Debrays Buch Revolution in der Revolution?, das in Havanna erschienen war, in ganz Lateinamerika weit verbreitet wurde und als Ausdruck der kubanischen Konzeption des bewaffneten Kampfes galt. Auch heute noch, dreißig Jahre später, lassen sich die Gründe schwer nachvollziehen, weswegen die kubanischen Revolutionsführer ausgerechnet eine Person, deren Unkenntnis über viele wesentliche Fakten in Lateinamerika offenkundig war, zu einem solchen politisch-literarischen Unternehmen angeregt haben. Warum haben sie einem Essay zugestimmt, das erwartungsgemäß umgehende und heftige Kritiken im revolutionären Milieu Lateinamerikas selbst hervorrief und das darüber hinaus in mehrerlei Hinsicht im Widerspruch zu einem Text stand, den die kubanische Delegation kurz darauf bei der OLAS- Konferenz vorlegte?

Unseresteils unterstützten wir die Haltung der bolivianischen Trotzkisten, die mit Ches Guerilla sympathisierten. Gleichzeitig schränkten wir ein: "Die gegenwärtige Diskussion in der revolutionären Bewegung Lateinamerikas wird in dem Maß nützlich und schlüssig sein, wie sie auf die Analyse der spezifischen Gegebenheiten in den einzelnen Ländern abzielt und sich allzu vager und verlockender Verallgemeinerungen enthält. Eben wegen dieser Originalität der kubanischen Erfahrung, die in mehrerlei Hinsicht alle Strömungen der internationalen Arbeiterbewegung auf dem falschen Fuß erwischt hat, ist es ratsam, starre Schemata zu vermeiden, besonders was die konkreten Formen und Etappen revolutionärer Prozesse angeht".

Die Nachricht von Ches Ermordung rief bei allen revolutionären Marxisten ungeheure Trauer und Empörung hervor. Genossen aus dem bolivianischen Untergrund schrieben in einem in der QI erschienenen Brief: "Der Mord an Che Guevara ist ein harter Schlag für den Guerillakampf in Bolivien. Dennoch verweisen wir darauf, dass der Guerillakrieg in Bolivien, und in welchem Land auch immer er entsteht, auf wirtschaftlichen, nationalen und internationalen Gegebenheiten basiert (...). Die bolivianische POR meint, dass es die Pflicht aller Revolutionäre in Bolivien und Lateinamerika ist, den gegenwärtigen Kampf der Guerilla zu unterstützen, ihn zu stärken, aus seiner Isolierung zu reißen, ihn mit der Massenbewegung in den Städten und Minen zu verknüpfen und die Bauernschaft als kämpferische Kraft an ihn heranzuführen".

Aus der gleichen Ausgabe zitieren wir die zentrale Passage aus dem Editorial, das eine Stellungnahme des Vereinigten Sekretariats darstellt: "Nach der Machterlangung blieb Guevara seinem kommunistischen Ideal treuer denn je (...) er kämpfte für den neuen Menschen, einen wahrhaft neuen Menschen, der nichts gemein hatte mit den Karikaturen, wie sie die Bürokraten abgeben. In höchstem Maß durchdrungen von dem internationalen Charakter der sozialistischen Revolution erinnerte er die "reichen" Arbeiterstaaten an ihre Pflicht gegenüber den armen".

Die Jeunesses Communistes Révolutionnaires (Revolutionäre Kommunistische Jugend, aus ihr entstand die heutige LCR), die sich gerade gründete, führte in Paris eine Veranstaltung zum Gedenken an Che durch; 1700 Menschen nahmen daran teil.

Im folgenden Jahr kamen wir in einer Zeitungspublikation zu Bolivien auf die Niederlage der Guerilla und die Gründe dafür zu sprechen. Inzwischen war es legitim, sich unter anderen folgende Fragen zu stellen: "War die nahezu vollständige Isolierung des Guerillakerns unvermeidlich? War die langdauernde Abgeschiedenheit von den Städten unvermeidlich? War es objektiv nicht möglich, beizeiten ein paar Dutzend zusätzlicher Kombattanten zu rekrutieren?" (QI, November 1968). In dem Artikel verwiesen wir darauf, dass die bolivianischen Revolutionäre diese Fragen mit Nein beantwortet hatten. Historiker werden sich damit noch beschäftigen, aber es kann kaum bezweifelt werden, dass, wenn Che zu dieser tragischen Isolierung verurteilt war und sich ihm keine effektiv verfügbaren Kräfte anschließen konnten, eine große Verantwortung hierfür dem von der Moskau-treuen KP, die von Anfang an Ches Engagement feindlich gegenüber stand, kontrollierten Apparat zukommt. [4]

Auf dem 9. Weltkongress der Vierten Internationale im April 1969 wurde eine Resolution zu Lateinamerika verabschiedet, in der versucht wurde, Lehren aus dem bolivianischen Kampf und aus anderen Erfahrungen mit dem bewaffneten Kampf in Lateinamerika zu ziehen. Dort hieß es: "Besonders gedenken wir des Genossen Che Guevara als Symbol der neuen Generation von Revolutionären, die sich überall auf der Welt erheben" (QI, Mai 1969). [5]



[1] Dieser Entwurf wurde mehrheitlich vom Internationalen Sekretariat verabschiedet. Dagegen stimmten die zwei Vertreter der posadistischen Tendenz, Adolfo Gilly und Albert Sendic, die ihre Position im Lauf des Kongresses korrigierten. Sendic schrieb später unter dem Pseudonym A. Ortiz in der Novemberausgabe der QI des folgenden Jahres eine Analyse des kubanischen Arbeiterstaates. Der vom Kongress verabschiedete Text wurde im ersten Quartal 1961 separat in der QI veröffentlicht. Versehentlich wurde in derselben Nummer in der allgemeinen Resolution über die Kolonialrevolution das Kapitel über Kuba, das durch diesen Text eigentlich ersetzt werden sollte, beibehalten.
Es waren ohne Zweifel die Positionen der posadistischen Strömung - so genannt, weil der zentrale Leitungsgenosse Homero Cristali, ein Argentinier italienischer Abstammung, mit Vorliebe das Pseudonym J. Posadas verwandte - nach ihrem Bruch mit der Vierten Internationale 1962 und besonders 1965 und 1966, als er die Behauptung aufstellte, Che sei von Fidel ermordet worden, die Fidel und in geringerem Maß auch Che dazu veranlasst haben, unannehmbare Urteile über unsere Bewegung und den Trotzkismus abzugeben. Wir werden in einer unserer nächsten Ausgaben auf die Positionen Ches zu Leo Trotzki und den Trotzkismus eingehen.

[2] Zwischen 1953 und 1963 war die Vierte Internationale in zwei etwa gleich große Hälften gespalten, vertreten durch ein "Internationales Sekretariat" und ein "Internationales Komitee". Die Strömungen (u.a. die um Healy und Lambert), die der Wiedervereinigung im Juni 1963 fernblieben, meinen noch heute die Vierte Internationale "wiederaufbauen" zu müssen. (Anm. d. Red.)

[3] M. Löwy, Che Guevara, ISP, 1993, S.98-99.

[4] Wir haben diese Fragen in unserem Artikel "Von der Guerilla zum Volkskrieg, die mystifizierte Selbstkritik des Régis Debray" abgehandelt. (QI, Frühjahr 1975)

[5] Die Frage der Guerilla wurde in der obenerwähnten Resolution von 1969 angeschnitten und in Form einer Selbstkritik auf den Kongressen von 1975 und 1979 neu bewertet.


Aus: Inprecor Nr. 417 (Oktober 1997)
Übers.: M. Ws.

Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 318