Ein soziales Europa erfordert dringend Veränderungen

Dieser Text wird von Gewerkschaftern aus der Europäischen Union vorgelegt, um Überlegungen anzustellen. Er folgt auf eine europäische Versammlung, die im Mai 1998 in Paris stattgefunden hat.

Die Wirtschafts- und Währungsunion ist Leitmotiv am Ende dieses Jahrhunderts. Aber das soziale Europa muß erst noch errichtet werden ... Europäische Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen, die davon überzeugt sind, daß ein solches anderes Europa errichtet werden muß, haben sich versammelt, um eine Bewegung zu initiieren, die Überlegungen anstellen und Initiativen ergreifen soll. Sie legen den im folgenden wiedergegebenen Text vor. Sie wollen ihn verbreiten. Sie richten sich an alle europäischen Gewerkschafter, denen an einer sozialen Entwicklung Europas gelegen ist, und laden sie ein, sich an den im Gang befindlichen Überlegungen zu beteiligen. Sie schlagen vor, am 24. Oktober 1998 in Paris ein europäisches Gewerkschaftertreffen abzuhalten.*

Am Anfang dieses Textes steht eine doppelte Feststellung:

Die anhaltende Prekarisierung der ArbeitnehmerInnen führt dazu, daß die Lebensführung nach dem 15. jeden Monats immer schwerer wird, wegen der niedrigen Löhne und erzwungener Teilzeitarbeit, der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, der Sorgen in bezug auf die Zukunft der Kinder. 50 Millionen Arme und 20 Millionen Arbeitslose erleichtern auch die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und bilden den Boden, auf dem rassistische Parolen und rechtsradikale Organisationen gedeihen.

Die Schließung des Renault-Werkes in Vilvoorde ist ein Zeichen dafür, daß ein soziales Europa noch nicht existiert. 1997 haben mehrere Demonstrationen stattgefunden, in Amsterdam und Luxemburg. Während das Bewußtsein zugunsten eines wahrhaft sozialen Europas sprunghaft zugenommen hat, bleibt die EU im wesentlichen eine Freihandelszone.

Durch die Aktivität der Arbeitslosen in Frankreich und Deutschland haben die Zahlen, die Armut und Arbeitslosigkeit anzeigen, endlich ein menschliches Gesicht erhalten. Weil das, was unannehmbar ist, nicht mehr ertragen wird, zeichnet sich ein Bündnis ab, das die Welt der Arbeit für ein klares und einfaches Ziel vereint: eine neue Vollbeschäftigung und Mitteln für ein würdiges Leben.

Es bleibt nach wie vor notwendig zu mobilisieren. Das Beschäftigungskapitel im Amsterdamer Vertrag weist den Beschäftigungsbedürfnissen eine untergeordnete Rolle zu. Das Beschäftigungskomitee mit beratender Funktion (Art. 109 S) ist nicht mit ähnlich weitreichenden Kompetenzen ausgestattet worden wie das Währungskomitee. Das neue Kapitel zur Sozialpolitik bleibt weiter an einer Arbeitsmarktpolitik orientiert, die die Zwänge des Wettbewerbs respektiert und einer neoliberalen Ausrichtung den Vorzug gibt (Beschäftigungsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit). Die allgemeine Orientierung der Wirtschaftspolitik (Stabilitätspakt) muß keinerlei Rechenschaft über ihre Auswirkungen auf die Beschäftigung ablegen. Der Luxemburger Gipfel hat diesen Charakter der europäischen Einigung logischerweise nicht verändert.

Die wirtschaftliche Konkurrenz und die Politik der Senkung von Lohnkosten fallen auf die Sozialkassen zurück (Rückgang der Unternehmerbeiträge, Subventionierung von Beschäftigung), während die Umstrukturierung der sozialen Sicherung den Zugang zu sozialen Rechten und Sozialleistungen einschränkt. Ohne soziales Europa wird die Ausweitung der EU Wettbewerbsunterschiede verschärfen und das Sozial- und Steuerdumping fortdauern lassen.

Zu einem Zeitpunkt, da der wirtschaftliche Aufschwung Hunderttausende Arbeitslose und verarmte ArbeitnehmerInnen am Rand liegen läßt, wird es offenkundig, daß der Euro als solcher an dieser Situation nichts ändern wird. In den Vereinigten Staaten bringen die stärkste Währung der Welt und die "unsichtbare Hand des Marktes" den 30% der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze leben, auch keinen Wohlstand. Dies belegt, daß die (Um-) Verteilung gesellschaftlichen Reichtums und soziale Gerechtigkeit stets und vor allen Dingen politische Fragen sind.

Als GewerkschafterInnen können wir die Entwicklung eines antisozialen Europas nicht hinnnehmen, das Millionen von Menschen zu Armut und Elend verurteilt; ein Europa, das das Leben dieser Menschen auf ein Dasein als "Überzählige" verkürzt; ein Europa, das die Frauen in die Teilzeitarbeit oder in den Haushalt abdrängt und somit die Gleichheit zwischen Männern und Frauen verhindert; ein Europa, das die Weiterentwicklung der sozialen Spaltung zuläßt. Diese Situation ist um so unerträglicher, als die Bedingungen für einen Aufschwung gegeben sind, der von einer Anhebung der Einkommen und der massiven Schaffung von Arbeitsplätzen nur noch weiter angeregt werden kann.

Auch wenn Fortschritte auf der Ebene eines EU-Mitgliedsstaats weiterhin möglich sind, hat die europäische Integration ein solches Ausmaß angenommen, daß diese unbedingt auf andere Länder ausgeweitet werden müssen. Gleichzeitig beunruhigen uns die bisherigen Ansätze zur europäischen Beschäftigungspolitik, denn weder Pflichtausbildungen noch die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts noch die Beschränkung des Zugangs zu Sozialleistungen durch Zwangsarbeitsprogramme (workfare) werden etwas am Grundproblem der Arbeitslosigkeit ändern. Ganz im Gegenteil.

Deshalb meinen wir, daß jede/r Gewerkschafter/in in Europa über die Mittel diskutieren muß, um folgendes zu erreichen:

Damit diese soziale Neuorientierung der EU für die Zukunft festgeschrieben wird, verlangen wir auch institutionelle Reformen.

Wir lehnen die Beibehaltung der Arbeitslosigkeit als Preis für den Euro ab. Die Einheitswährung darf nicht fortschreitende Arbeitslosigkeit und demokratischen Rückschritt bedeuten.

Deshalb meinen wir, daß diese sozialen Notmaßnahmen angenommen werden müssen.

Da die wesentlichen Beschlüsse zur europäischen Einigung sehr wohl zwischen den Regierungen vereinbart werden, muß unsere Aktion im Sinne dieser Forderungen sowohl die nationalen Regierungen der jeweiligen Mitgliedsstaaten unter Druck setzen als auch ihre gemeinsamen Zusammenkünfte anläßlich der europäischen Gipfel.

Etienne Adam (URI Basse Normandie CFDT, Frankreich), Paola Agbello (nationaler Sekretär CGIL funzione publica, Italien), Hervé Alexandre (Fédération Générale Transports et Equipement CFDT, Frankreich), Alessio Ammannati (Sekretär CGIL, Firenze , Italien), Anne-Marie Appelmans (Generalsekretärin Interrégionale Bruxelles FGTB, Belgien), Michel Angot (Interco 94 CFDT, Frankreich), Chantal Aumeran (Syndicat unifié des impôts, Frankreich), Gérard Balbastre (FGTE-CFDT, Frankreich), Claudio Ballistreri (Fiat Torino, direttivo nazionale CGIL, Italien), André Beauvois (Regionalsekretär, CGSP- FGTB, Belgien), Paolo Belloni (nationaler Sekretär, FILCEA CGIL, Chemie, Italien), Wilma Casavecchia (Regionalsekretär, CGIL Umbrien, Italien), Henri Celié (SUD-Rail, Frankreich), Jean- Christophe Chaumeron (Fédération Finances CGT, Frankreich), Annick Coupé (SUD-PTT, Frankreich), Giogio Cremaschi (Generalsekretär FIOM CGIL Piemont, Italien), Bruno Dalberto (Cheminots CFDT en Lutte, Frankreich), Ferruccio Danini (prez. dir. naz. CGIL, Italien), Claude Debons (FGTE-CFDT, Frankreich), René Defroment (CFDT Auvergne, Frankreich), Giuseppe Di Iorio (CGIL Napoli, Italien), Angela Di Tommaso (Vorstand CGIL, Italien), Bernard Dufil (Fédération Banques CFDT, Frankreich), Jean-Claude Gagna (UGICT CGT, Frankreich), Joaquín Garcia Sinde (Comisiones Obreras, Metall-Föderation, Galizien, Spanischer Staat), Gérard Gourguechon (Union syndicale Groupe des 10, Frankreich), Pino Greco (nationaler Sekretär, S.in.Cobas Metallindustrie, Italien), Jean-Paul Halgand (CFDT Caisses d'Épargne, Frankreich), Jörg Jungmann (Sekretär IG Medien Wiesbaden, Deutschland), Pierre Khalfa (SUD-PTT, Frankreich), Angelo Leo (Sekretär FILCAMS CGIL Brindisi, Handel, Italien), Piero Leonesio (nationaler Sekretär SLC CGIL, Kommunikation, Italien), Gigi Malabarba (nationale Koordination S.in.Cobas, Italien), Rino Malinconico (nationaler Sekretär S.in.Cobas scuola, Italien), Freddy Mathieu (Generalsekretär FGTB Mons, Belgien), Jean-Claude Missonnier (Syndicat unifié des Caisses d'Épargne, Frankreich), Andrea Montagni (Regionalsekretär CGIL Toscana, Italien), Lluis Perarnau (FETE-UGT, Espagne), Luigia Pasi (nationaler Sekretär S.in.Cobas enti locali, Italien), Fulvio Perini (Vorstand CGIL Torino, Italien), Jean-Marie Piersotte (Sekretär Centrale Nationale Employés CSC, Belgien), Alain Placidet (UFICT-CGT transports, Frankreich), Maurizio Poletto (Sekretär CGIL Torino, Italien), Raffaello Renzacci (Sekretär CGIL du Piémont, Italien), Rosa Rinaldi (nationale Sekretärin CGIL Piemont, Italien), Augusto Rocchi (Vizesekretär CGIL Milano, Italien), Horst Schmitthenner (Mitglied des Hauptvorstands der IG Metall, Deutschland), Marc Sonnet (CFDT Provence-Alpes-Côte d'Azur, Frankreich), Guy Tordeur (Föderalsekretär ACV-CSC Fédération Bruxelles-Hal-Vilvorde, Belgien), Philippe Vandenabeele (Centrale générale des syndicats libéraux, Bruxelles, Belgien), Claire Villiers (CFDT-ANPE, Frankreich).


* Für organisatorische Fragen: Fax 0033 1 / 53 35 00 31.


Aus: Inprecor Nr. 428 (Oktober 1998)
Aus dem Französischen übersetzt von Angela Klein und Friedrich Dorn

Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 325