TÜRKEI:

"Es gibt keine andere Lösung als eine radikale Demokratisierung"

Die Özgürlük Dayanisma Partisi (ÖDP - Partei der Freiheit und Solidarität) in der Türkei ist eine der bemerkenswertesten Neugründungen innerhalb der europäischen Linken. Vor drei Jahren erst als Zusammenschluss verschiedener linker Strömungen und Gruppierungen entstanden, ist sie heute ein Faktor auf der politischen Ebene der Türkei. Inprekorr führte über die Partei und aktuelle Fragen der türkischen Politik ein Interview mit dem Parteivorsitzenden Ufuk Uras.

Ufuk Uras (Interview)

 

Wie erklären Sie die nationalistische Welle gegen Kurden, Italiener und Europäer in der Türkei nach der Festnahme vom PKK-Führer Apo Öcalan?

Es ist natürlich sehr negativ, es ist eine Wiederholung der vorherigen Politik. Durch das Aufhetzen der Menschen dieses Landes werden wir höchstens das vorhandene Problem noch vertiefen. Das Problem wird nicht durch gesellschaftliche Aufregung gelöst. Dadurch, dass Abdullah Öcalan jetzt in Italien ist, fängt in der Türkei eine neue Periode an, und das ist im Hinblick auf die Herstellung des Friedens eine positive Zeit. Wir wissen, welche Politik nicht dafür geeignet ist. Es ist offensichtlich, dass die Politik der Generäle oder eines Saddams nicht geeignet ist. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder werden alle KämpferInnen in den Bergen umgebracht, oder sie werden zurückkommen. Da wir nicht eine politische Macht haben, die die notwendigen radikalen Maßnahmen zur Waffenruhe, zur Herstellung des Friedens, zur freien Meinungsäußerung einleitet, verschärft sich die Krise. Wie wir auch in unserem offenen Brief an alle Parteien im Parlament geäußert haben, müssen all diese radikalen Änderungen mit Unterstützung des Volkes gemacht werden. Die Hysterie der Straße ist aber auch zum Teil von der zentralen Regierung manipuliert. Es sind nicht, so wie vermutet, spontane Reaktionen, sondern ein Zeichen der zentralen politischen Ratlosigkeit. Als sie dann bemerkten, dass dies keinen bzw. schlechten Anklang auf der internationalen Bühne hatte, haben sie ja auch aufgehört.

Aber die Bilder im Fernsehen zeigen eine starke nationalistische Welle und keine Gegenwehr!

Das stimmt. Die Gegenwehr, die Reaktionen gegen diese nationalistische Welle sind in den Medien nicht vorhanden. Die sogenannte nationalistische Reaktion auf der Straße wiederum ist unter Kontrolle der faschistischen und rassistischen Organisationen wie MHP oder BP. Im Endeffekt wird die Politik über 30.000 Tote, die ihr Leben im Bürgerkrieg verloren haben, gemacht. Wir müssen, um diese Wunden zu heilen, gegen diese zentral koordinierte nationalistische Hetze der rechtsradikalen Parteien eine Friedensinitiative auch mit Unterstützung der internationalen Öffentlichkeit durchsetzen. Die letzte Erfahrung hat gezeigt, dass es dazu keine Alternative gibt.

Sie haben eben gesagt, dass die militanten Kurden auf den Bergen entweder umgebracht werden oder zurückkehren. Aber was schlägt die ÖDP zur Lösung der kurdischen Frage vor?

Seit unserer Gründung sind wir dabei, alle möglichen Aktivitäten zur Herstellung des Friedens zu organisieren. Wir sind bei allen Friedensinitiativen direkt oder indirekt beteiligt gewesen. Ein Beispiel ist die Kampagne "Eine Million Unterschriften für den Frieden". Natürlich wissen wir, dass das nicht ausreichend ist. Die aktuelle Situation zeigt es ja auch. Unser letztes Projekt, die Regenbogen-Initiative, ist auch eine Initiative für den Frieden. Wir müssen mit allen Kräften die Arbeiter darauf orientieren, für Frieden, Demokratie und saubere Politik zusammenzukommen. Die Kampagne der ÖDP gegen die Susurluk-Banden ist auch ein Teil davon. Diese Banden sind nicht Al-Capone-Gangs wie in USA, sondern sie sind die Contra-Guerilla. Diese Kampagne gegen den schmutzigen Krieg in der Türkei ist gleichzeitig eine Kampagne gegen Faschismus und Krieg. Aber diese Aktivitäten müssen mit Unterstützung der zivilen Organisationen wie Berufsverbänden und Gewerkschaften noch vertieft werden. Es gibt keine andere Lösung.

Die neue Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung hat einen Vorschlag gemacht, dass in der Türkei für die Herstellung des Friedens Wahrheitsfindungskommissonen gegründet werden sollten. Was sagen Sie zu diesen Vorschlag? Andererseits gibt es Vorschläge vom PKK-Chef Öcalan für die Herstellung des Friedens. Sind diese relevant?

Es gibt keine andere Lösungsmöglichkeit in der Türkei außer einem radikalen Demokratisierungsprogramm.

Das ist sehr langfristig, kann man nicht konkretere Lösungsvorschläge machen, damit das Töten ein Ende hat?

Friedenskampf ist überall in der Welt ein langfristiger Kampf. Und leider fängt man erst mit den Fehlern an, und nachdem diese ausgeschlossen sind, findet man die richtige Lösung. Überall in der Welt, wo bewaffneter Kampf stattfindet, ist die Herstellung des Friedens nicht einfach. Vor allem, wenn die Seiten nicht dieselbe politische Macht haben. Die Demokratisierung heißt in der Türkei eine Abrechnung mit dem Grundgesetz, dem juristischen Verständnis und den Gesetzen des 12. Septembers. Das heißt für uns Abschaffung des Ausnahmezustands sowie der Dorfwächter und Erlassen einer Generalamnestie. Das sind sehr konkrete Vorschläge. Das sind Aufgaben, die, sagen wir mal, wenn wir die Macht hätten, in der ersten Woche erledigt werden könnten. Da hinter diesem Demokratisierungsprojekt noch keine politische Macht steht, kann es utopisch erscheinen, aber wenn wir andersrum denken, ist es vielleicht viel utopischer zu meinen, dass solche Verhältnisse durch die realen Politiker von heute hergestellt werden können, zumindest nach diesen blutigen Krieg.

Machen sie in diesen Zusammenhang gemeinsame Aktionen mit den Kurden?

Ja, unsere Unterschriftenkampagne für den Frieden war gemeinsam. Außerdem unterstützen wir jedes Projekt für Frieden ohne politische Ausgrenzung und solidarisieren uns mit den Organisatoren.

Wie organisiert sich die ÖDP unter den Kurden? Gibt es zum Beispiel die Möglichkeit von zweisprachigen Versammlungen, zweisprachige Zeitungsprojekte oder so wie bei den Frauen autonome Organisationsformen?

Wir haben so eine Forderung noch nicht gehabt. Wie gesagt, wir haben sehr dringende Probleme, wie freie Meinungsäußerung. In einer Situation, in der nicht mal minimale Forderungen der Demokratisierung verwirklicht werden können, werden solche Themen nicht diskutiert. Unser Vorhaben ist sowieso, in einem multikulturellen, multiethnischen und multireligiösen Land wie der Türkei für alle diese Gegebenheiten passende politische und administrative Institutionen zu schaffen.

Organisieren sie sich in den Kurdengebieten?

Nein, aufgrund der Kriegssituation können wir uns da nicht organisieren.

Ist das dann nicht eine politische Entscheidung, weil sie sich in kurdischen Gebieten prinzipiell nicht organisieren wollen?

Nein, die Partei hat nur wegen der konjunkturellen Lage diese Frage nicht behandelt. Wenn der Frieden hergestellt ist, werden wir das noch mal diskutieren.

Wie und wo ist die ÖDP heute organisiert?

In 64 Städten sind wir organisiert, von Edirne bis Ardahan (vom Westen bis Osten, d. Üb.) und wir haben etwa 35.000 Mitglieder. Wir schätzen, dass wir als Partei eine Million Menschen in der Türkei ansprechen. 35% der Stimmberechtigten kennen uns, und nach den Wahlumfragen sind wir jetzt in der Position wie die Türkische Arbeiterpartei (TIP) 1965, das heißt 3,5% der WählerInnen geben an, dass sie uns wählen würden. Wenn die Grenze zum Einzug in das Parlament noch runter gesetzt wird (z.Z. 10%), könnten wir bestimmt eine 5%-Hürde überwinden. Aber seit wir gegen Militarismus und religiöse Herrschaft und für Demokratisierung eintreten, haben die Medien uns verschwinden lassen, und das hat unsere Möglichkeiten die Öffentlichkeit zu erreichen beschnitten. So dass wir uns deshalb, aber nicht nur deswegen, auch wegen unseres Organisationsverständnisses, auf die direkte Mitgliederorganisierung konzentrieren, und ich kann jetzt sagen, dass die türkische Linke in ihrer Geschichte in den ländlichen Gebieten noch nie so organisiert war wie jetzt. Das ist natürlich nicht ausreichend. Aber es gibt in der Politik einen Machteffekt. Wenn wir bei den Kommunalwahlen 20 bis 25 Ämter erobert haben oder bei den Parlamentswahlen eine feste Prozentzahl erreicht haben, das heißt, wenn wir zeigen, dass wir eine relevante Macht sind, wird das kumulativ auf die Partei wirken. Wir versuchen, bei der ÖDP etwas Neues. In der linken Bewegung der Türkei kommen zum ersten mal Sozialdemokraten, Sozialisten, Trotzkisten, Stalinisten, Maoisten, Feministen, Grüne zusammen und versuchen ein mehrheitliches Parteiprojekt. Und das ist erfolgreich, weil wir Lösungen zu wichtigen Fragen der Türkei mit Einstimmigkeit erzielen.

Sind all diese Fraktionen zu einer Partei verschmolzen, oder existieren sie nur nebeneinander?

Wie ich sagte, wenn wir bei den wichtigen Fragen der Türkei einstimmige Lösungen erzielt haben, zeigt das, wie absurd es ist, noch getrennt zu bleiben. Außerdem sind wir nicht für eine einheitliche Partei. Die verschiedenen Fraktionen in unserer Partei existieren auch nach unseren Statuten und können ihre unterschiedlichen Positionen als Reichtum präsentieren. Ein Masis Kürkçügil, der seit Ewigkeiten ein Trotzkist ist, soll auch nicht seine Identität abgeben. Wir sehen ihn als einen Gewinn. Niemand will, dass andere ihre politische Identität preisgeben. So ist das erwünscht, aber natürlich nicht wie Glieder einer Kette nebeneinander, sondern integrativ im Rahmen des Programms, der Statuten und der Beschlüsse des Kongresses.

Zurück zum Kurdenthema: Wollen sie nicht eine internationale Initiative für die Lösung der kurdischen Frage ergreifen, z.B. mit den Parteien in anderen Ländern, die ihnen nahe sind, gemeinsame Aktionen planen, wie seinerzeit für die FNL im Vietnamkrieg?

Das können wir machen. Wir werden demnächst in den Frühlingsmonaten eine Konferenz über die kurdische Frage im Nahen Osten organisieren. Aber eines muss ich sagen: Die kurdische Frage wird in der Türkei gelöst, nicht in London, Washington, Rom oder in Bonn.

Aber es gibt eine Initiative der Herrschenden in der Türkei, warum soll nicht eine solche auch von der Opposition kommen?

Wir müssen zuerst in der Türkei mit den Kräften für den Frieden zusammenkommen und in der Solidarität eine Menge Erfahrung gesammelt haben. Die Nahost-Konferenz zur Lösung der kurdischen Frage kann dafür ein Anfang sein. Wir haben vorher über Zypern so eine Konferenz mit den griechischen und zypriotischen Linken vorbereitet, und in eineinhalb Stunden waren wir uns über die Lösung einig. Bei der Nahost-Konferenz wird es wahrscheinlich nicht so leicht werden. Wir haben das Problem, mit uns vergleichbare Partner in diesen Ländern zu finden. Wir haben das Problem natürlich auch in der Türkei, wenn wir überlegen, was Hadep in diesem Prozess erlebt hat. Das heißt, wir können nicht einmal diese Frage offen und ohne Hetze diskutieren. Deswegen rufen wir die im Parlament vertretenen Parteien zusammen, um diese Frage nicht den Soldaten zu überlassen, sondern sie als eine politische Frage zu diskutieren. Wir sagen, lasst uns trotz unterschiedlicher Meinungen diese Frage offen diskutieren, danach wird es bestimmt leichter. Wir sind noch nicht so weit, das von Ihnen Gefragte zu diskutieren.

Was sind die anderen Schwerpunkte der ÖDP, außer der kurdischen Frage?

Eine der wichtigsten Probleme ist die Demokratisierung, das heißt Abrechnung mit dem 12.-September-Regime, vom Wahlsystem bis zum Recht auf Meinungsäußerung. 17 Jahre nach dem Putsch haben wir immer noch dieselben Parteien, die dieses Regime hervorgebracht hat. Das heißt, die gesellschaftliche Opposition muss noch gesteigert werden. Aber die volle Tagesordnung, vom Kampf gegen die Banden bis zur Privatisierung, hat eine Verdrossenheit und Hilflosigkeit geschaffen. Zuerst müssen wir mit dieser Situation kämpfen.

Linke Parteien in der Welt, besonders in Lateinamerika und Europa, werden Regierungsmitglied. Entweder wie in Lateinamerika nach einer gesellschaftlichen Versöhnung oder wie in Europa, nachdem sie gezügelt worden sind. Diese Situation ist in der Türkei noch nicht vorhanden. Trotzdem, wie bewertet die ÖDP die Beteiligung der Linken in den bürgerlichen Regierungen und würde sie gegebenenfalls auch mitmachen?

Ja, wir würden das als eine wichtige Möglichkeit ansehen, um die Forderungen der gesellschaftlichen Opposition zur Sprache zu bringen und unsere Positionen den Massen bekannt zu machen. Die ÖDP beabsichtigt die Überwindung des Kapitalismus. Auf der internationalen Ebene bekennt sie sich zu den Verdiensten der Linken der 1., 3. und 4. Internationale. Das heißt aber nicht, dass wir alle Beispiele in Europa akzeptieren. Man muss das im Einzelnen untersuchen. Das was wir sehen, ist, dass die europäische Linke sich nicht von der Hegemonie des neuen Liberalismus befreit hat. Sie versucht, gegen die Krise des Kapitalismus mit der Behauptung entgegenzuwirken, dass sie bessere Manager als die Mitte- und Rechtspolitiker wären und kommt so an die Macht. Wahrscheinlich ist es der Verdruss der Wähler gegenüber den Rechten, was sie an die Macht bringt. Unser Problem in der Türkei ist, dass nicht mal das Regime von 1960 eine Arbeiterpartei ertragen hat, und wie weit das 90er-Jahre-Regime einer linken Partei erlauben wird, an die Macht zu kommen, wissen wir nicht. Aber wir fordern mit dem Slogan "Das Wort, die Verantwortung und die Entscheidung, alle Macht fürs Volk" die Macht in der kommunalen oder zentralen Verwaltung. Wir leugnen das Parlament nicht, aber bleiben nicht nur auf der parlamentarischen Ebene. Wir sehen die Parlamentsarbeit nicht als eine Abweichung, sondern gehen mit unserem Programm rein. Für uns ist die eben von mir erwähnte Regenbogen-Koalition wichtig. Die sieben Farben des Regenbogens sind unsere sieben Forderungen: Frieden, Demokratisierung, Laizismus, soziale Rechte der Werktätigen, Solidarität, Unabhängigkeit und saubere Politik. Mit jeder Person, die diese Forderungen unterstützt, werden wir zusammenkommen. Wenn die Parteien, die politisch anders sind als wir, unsere Forderungen unterstützen, werden wir mit denen koalieren. Das sind unsere minimalen Forderungen. Aber wir werden niemals Kriegspolitik, anti-demokratische Maßnahmen oder Verständnis für die "Neue Weltordnung" unterstützen.


Das Gespräch wurde Anfang Dezember in Köln geführt.

Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 327/328