LATEINAMERIKA

Die neoliberale Unordnung

Das Gleichgewicht der politischen Kräfte Lateinamerikas verändert sich. Politische, ökonomische und soziale Faktoren führen zu allgemeinen Regierungskrisen. Nach Jahren des Neoliberalismus ändert sich die politische Landschaft neuerlich. Die USA haben ihre Rolle als "unentbehrliche Nation" in der ganzen Welt gefestigt. Aber in ihrem eigenen "Hinterhof" fehlt ihnen, was der US-Außenpolitiker Zbigniew Brezinski einen "geopolitischen Angelpunkt" nennt, ein Staat wie Israel, der bereit wäre, die ökonomische, politische und militärische Herrschaft im Sinne der Weltmacht auszuüben.

Ernesto Herrera

Für "Unordnung" gibt es deutliche Anzeichen in Kolumbien, Venezuela und Ecuador. Außerdem werden im kommenden Jahr eine Reihe von Ereignissen stattfinden, die ebenfalls destabilisierendes Potenzial haben:

Die Krise der bürgerlichen Führungen in der Region ist in erster Linie eine Auswirkung der internationalen ökonomischen Krise. Außerdem finden in ganz Lateinamerika massive Widerstandsbewegungen - mit völlig isolierten Zielen - statt. Das lässt die meisten linken Parteien ihre politischen Strategien und Programme ändern. In den vergangenen Monaten fanden eine ganze Reihe sozialer "Explosionen" statt, Streiks, Landbesetzungen, Protestmärsche und gewaltsame Auseinandersetzungen.

WIDERSTAND

Kolumbien befindet sich in einer vorrevolutionären Situation. Der Staat steckt in einer tiefen Krise, er ist gefangen zwischen einer mächtigen Guerillabewegung, starken Gewerkschaften und einer militanten Bauernbewegung einerseits und einer Reihe von rechtsextremen paramilitärischen Organisationen und den Drogenbaronen auf der anderen Seite. Die Auseinandersetzungen finden vor dem Hintergrund der schwersten ökonomischen Erschütterungen der letzten Jahrzehnte statt.

In Venezuela brechen sämtlich Institutionen der alten politischen Ordnung zusammen und werden vom neuen Regime, das von der Bevölkerung enthusiastisch unterstützt wird, ersetzt. Die Popularität des neuen Präsidenten Hugo Chavez hat zwei Seiten: einerseits zerstört er das Klientelsystem des Staates und der traditionellen Parteien und verändert die Beziehungen Venezuelas zu den USA; auf der anderen Seite setzte er eine Austeritätspolitik um, die es dem internationalen Kapital erleichtert, in die Ölindustrie und andere strategische Sektoren der venezolanischen Wirtschaft einzudringen.

In anderen Staaten gibt es ebenfalls Konflikte, die allerdings nicht so zugespitzt sind. Zehntausende ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen forderten etwa in Brasilien den Rücktritt von Präsident Enrique Cardoso. Ecuador wurde von aufstandsähnlichen Unruhen erschüttert. Die Regierung sah sich gezwungen, alle Schuldenrückzahlungen einzustellen - erstmalig in Lateinamerika. Die Schuldenfrage wird auch noch in anderen lateinamerikanischen Staaten zu einem Streitpunkt werden.

Noch gibt es keine Anzeichen für ein Erlahmen des Streiks an Mexikos größter Universität, der UNAM. Auch die indigene Bevölkerung und die ZapatistInnen in Chiapas führen ihre Proteste weiter. Die chilenische Führung prahlt mit der "Aussöhnung", aber die Bäuerinnen und Bauern von Mapuche und eine ganze Reihe von Gewerkschaften schlossen sich mit Menschenrechtsorganisationen zusammen, um den Ex-Diktator Augusto Pinochet vor ein Gericht zu bringen. Die PeruanerInnen haben Versuche Präsident Fujimoris, seine Amtszeit auszudehnen, massiv zurückgewiesen. Auch hier nahmen die Proteste von Bauern und Gewerkschaften zu.

In allen diesen Ländern zieht sich ein roter Faden durch die Oppositionsbewegungen: der Kampf gegen Strukturprogramme des Internationalen Währungsfonds, gegen die Privatisierungen, die der IWF, die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank fordern, gegen die Einschränkung von Rechten, die durch eine Flexibilisierung noch verstärkt wird, gegen zunehmende Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse und niedrige Löhne. In Argentinien, Bolivien, Panama, Nicaragua und Uruguay gibt es Kämpfe gegen den Neoliberalismus, die sich überhaupt gegen den Kapitalismus richten.

In Lateinamerika drückt sich die "Klassenidentität" heute anders aus als in früheren Jahrzehnten. Die aktuellen Kämpfe werden von einer breiten Schicht "sozialer Subjekte" getragen. Bei genauerer Analyse stellen sich allerdings die ArbeiterInnen in den Städten und am Land als das zentrale Element dieser neuen Form des Widerstandes heraus.

Die Kämpfe werden aber auch von neuen sozialen Gruppierungen getragen, die unter den neoliberalen Gegenreformen litten. Mehr als jemals zuvor beteiligen sich kleine Geschäftsleute, LadenbesitzerInnen, Bäuerinnen und Bauern und verarmte "Mittelschichten" an den Protesten.

REZESSION

Vor der brasilianischen Krise im Jänner 1999, wurde Lateinamerika ein einprozentiges Wirtschaftswachstum prognostiziert. Aber der Zusammenbruch des Plan "Real" [zur Stabilisierung der brasilianischen Währung - d.Red.] verschlechterte das ökonomische Klima in der ganzen Region. Bereits im April sagte die Weltbank eine Reduktion der ökonomischen Aktivitäten um 0,8 Prozent voraus, im Mai erwartete ALADI bereits einen Rückgang um 1,6 Prozent.

Die "Öffnung" der Ökonomie in der Region seit Beginn der 90er Jahre schuf eine Reihe von Ungleichheiten zwischen Ländern mit sehr unterschiedlichem Produktivitätsniveau und divergierenden Auslandsinvestitionen. Kredite und Finanzinvestitionen sind viel wichtiger als direkte Kapitalinvestitionen geworden. Das ausländische Interesse konzentrierte sich auf die Privatisierungswellen. Der viel versprochene Zufluss von Auslandskapital und das Ansteigen der Investitionen hat sich einfach nicht "materialisiert". Geschätzte zwei Drittel der Investitionen entfielen auf den Erwerb bereits bestehender Unternehmen, trugen aber nicht dazu bei, dass neue Produktionsmöglichkeiten geschaffen wurden.

Nach Ansicht brasilianischer Ökonomen konzentrierten sich die Investitionen auf den Dienstleistungssektor, der aber keine Devisen einbringt. Ein massiver Transfer von öffentlichem Eigentum zum privaten Sektor fand statt, und die ImperialistInnen verstärkten die Kontrolle dieses Prozesses. In vielen lateinamerikanischen Staaten werden die strategischen Sektoren der Wirtschaft von einer kleinen Gruppe von Finanzinstitutionen kontrolliert, die in den G7-Staaten zu Hause sind.

Die Einnahmen aus den Privatisierungen wurden zur Bezahlung der Auslandsschulden verwendet. Argentinien etwa wandte 57 Prozent der 39,6 Milliarden US-Dollar aus Privatisierungen in den Jahren 1989 bis 1998 für den Schuldendienst auf.

BRUTALE UMVERTEILUNG DES REICHTUMS

Unter diesen Bedingungen sind den Regierungen in Lateinamerika die Hände gebunden. Wie können sie angesichts solcher imperialistischer Dominanz auch Elemente einer nationalen Souveränität entwickeln? Wenn der Druck von Massenbewegungen allerdings zu groß wird, werden auch unorthodoxe, nationalistische Antworten auf die Krise möglich. In Ecuador war die Mahuad-Regierung gezwungen, Rückzahlungen neu zu verhandeln. Auch die Chavez-Regierung Venezuelas wird vermutlich versuchen, die Bedingungen der Abhängigkeit des Landes neu zu verhandeln.

Doch jeder ernsthafte Versuch würde die organisierte, entschlossene und anhaltende Unterstützung der Bevölkerung benötigen. Und weder die derzeitigen Führer noch die institutionalisierten Parteien sind zu so einer Bewegung bereit.

Der Transfer von Reichtum von den lateinamerikanischen ArbeiterInnen zu den Banken der imperialistischen Staaten nahm eine brutale Form an. Und es überrascht nicht, dass dieselben Mechanismen auch innerhalb der Staaten reproduziert werden. Nach dem neuesten Bericht der Interamerikanischen Entwicklungsbank sind "...Lateinamerika und die Karibikstaaten die Region mit der größten Ungleichheit bei der Einkommensverteilung und die Region, in der die Reichen den größten Anteil am Nationalprodukt haben... 40 Prozent des Nationalprodukts ist in der Hand von einem Prozent der Reichsten."

Die Bank kann noch so viele technische Erklärungen dafür haben, aber sie kann die sozialen Auswirkungen des "Entwicklungsmodells", durch das ein Drittel der Bevölkerung, das sind 150 Millionen Menschen, von weniger als zwei US-Dollar täglich leben muss nicht leugnen. Die Kaufkraft des durchschnittlichen Gehaltes in Lateinamerika ist heute 27 mal niedriger als 1980. Selbst während der "guten" Zeiten von 1990 bis 1998 sank das Einkommen in dem riesigen informellen Sektor um ein Prozent. Und das ist immerhin der Sektor der Wirtschaft, in dem nach einem Bericht der International Labour Organisation (ILO) die meisten Jobs geschaffen wurden.

"Von welchem Markt sprechen wir eigentlich, wenn mehr als ein Drittel der lateinamerikanischen Bevölkerung wegen ihrer Armut ausgeschlossen ist?", fragte die mexikanische Ökonomin Diana Alarcon in einem Interview mit der argentinischen Zeitschrift Tres puntos im Juli 1999. "Die große politische Herausforderung besteht darin, die Armen in den Markt zu integrieren. Wenn wir die mittelmäßigen Wachstumsraten der letzten Jahre verbessern wollen, müssen Schritte zu einer neuen Einkommensverteilung gesetzt werden." Alarcon ist eine angesehene Angestellte der Interamerikanischen Entwicklungsbank. Aber ihre Worte könnten auch aus dem IWF oder der Weltbank kommen. Die weltumspannenden Finanzinstitutionen setzen zunehmend auf Präventivmaßnahmen, um soziale Kämpfe, die sie als Resultat ihrer eigenen Politik erwarten, zu kanalisieren und zu vermeiden.

Aber die zentrale Achse ihrer Aktivitäten ist nach wie vor die "strukturelle Anpassung" Lateinamerikas an die Bedürfnisse der imperialistischen Staaten. Enrique Iglesias, Präsident der Interamerikanischen Entwicklungsbank, sagte gegenüber der brasilianischen Zeitung Folha de São Paulo, dass "Privatisierungen auf gesamtstaatlicher und bundesstaatlicher Ebene (Brasilien ist ein Bundesstaat) die Verwaltungsreform, die Reform der Institutionen und der Finanzen unterstützen und vervollständigen können. Sie befreien die Energien des privaten Sektors und ziehen neue Technologien und Management-know-how an. Sie werden dazu beitragen, dass zwischen öffentlichen Institutionen und der Zivilgesellschaft eine ausgeglichenere Beziehung entsteht. Eine effiziente Regierung mit ausreichenden Finanzquellen wäre fähig, steuerliche Autonomie zu erreichen und sich auf die Grundbedürfnisse wie Gesundheit und Bildung zu konzentrieren. Privatisierungen würden die nationale und die Provinzökonomien stärken. Sei wären ein Langzeitinstrument der Entwicklung und der makroökonomischen Stabilisierung. Das sind wesentliche Bedingungen, um unsere Verletzbarkeit einzuschränken, in einem internationalen Markt, der weniger vorausschauend und weniger rational ist als wir dachten."

Diese "zweite Reformwelle" würde von staatlichen Initiativen "in Zusammenarbeit mit dem privaten Sektor" begleitet werden. Der Staat und seine Privatpartner würden durch Programme für soziale Sicherheit zu Gunsten der ärmsten Schichten eingreifen. Sie würden aber auch bei der Anwendung von Regulationssystemen zusammenarbeiten, die während der Privatisierungen "den Wettbewerb sichern. Der Staat soll auch mit den Industriellen zusammenarbeiten, um Bildungsprogramme zu entwickeln, die den technologischen Bedürfnissen der Unternehmen angepasst sind."

Illusionen über die ökonomischen und sozialen Inhalte des neuen Programmes, wie es Josef Stieglitz von Seiten der Weltbank schmackhaft zu machen versucht, sind also nicht angebracht. Breite Widerstandsbewegungen sind wesentlich; allerdings auch eine kontinentale Debatte über die Alternativen. Die "Kapitelüberschriften" eines solchen Alternativprogramms könnten von den Slogans der verschiedenen sozialen Bewegungen, die bereits gegen das Strukturanpassungsprogramm und seine unsozialen Auswirkungen kämpfen, übernommen werden.

Es ist Zeit für einen Blick auf das Verhältnis zwischen Markt und Demokratie, für eine Neudefinition der Rolle des Staates als Antwort auf die Öffnung der nationalen Ökonomien für den internationalen Zugriff. Die verschiedenen Sektoren der Linken haben alle ihre eigenen Forderungen. Was wir heute machen müssen, ist, diese Forderungen zusammenzubringen in einer Debatte über Wachstum, die unterschiedlichen Entwicklungsmodelle, den Kontext mit der kapitalistischen Globalisierung und die unterschiedlichen "alternativen" Sozialprojekte. Viele dieser Projekte beinhalten eine Abkoppelung von der globalen Ökonomie, die Selbstbehauptung der nationalen und regionalen Ökonomien, um lokale Bedürfnisse zu befriedigen, nicht aber einfach der Tagesordnung des internationalen Kapitals zu entsprechen.

10. Oktober 1999
Aus:
Inprecor Nr. 441
Übers.:
Die Linke


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 339/340