Die Tagung der Welthandelsorganisation (WTO) wurde von aufsehenerregenden Protesten überschattet und zeitweise verhindert. Doch was genau ist die WTO und welche (bzw. wessen) Ziele will (bzw. wollte) sie durchsetzen?
Pierre Rousset
Die Dinge haben sich entschieden geändert. Fünf Jahre ist es her, da ratifizierten die nationalen Parlamente unter größter Geheimhaltung die Verfassung der Welthandelsorganisation (WTO). Die Öffentlichkeit wurde dabei ganz bewusst im Unklaren gehalten. Zu Demonstrationen konnten, bis auf wenige Ausnahmen, nur die engsten Kreise schon politisch Aktiver mobilisiert werden.
Heute dagegen ist die Eröffnung der sogenannten Millenniumsrunde [der WTO] eines der wichtigsten Medienereignisse der Welt. Doch nicht die Regierungschefs spielen die Hauptrolle, sondern die Zehntausende von AktivistInnen und die Hunderte von Organisationen, die nach Seattle gekommen sind, um ihren Widerspruch gegen die durch die WTO repräsentierte Handelsordnung kund zu tun. Für mehrere Stunden blockierten sie die Innenstadt und legten sie jeden Verkehr lahm. Die offiziellen Delegierten konnten ihre Hotels nicht verlassen, um zur Eröffnungsveranstaltung des Gipfels zu gelangen, die dann schlussendlich abgesagt werden musste. Die Behörden verhängten eine Ausgangssperre und den Ausnahmezustand, um der Lage wieder Herr zu werden.
Schließlich musste die Ministerkonferenz der WTO gewissermaßen in einer durch die Polizei abgesicherten Festung tagen.
Und auch in vielen anderen Ländern fanden z.T. machtvolle Demonstrationen und Protestaktionen gegen die WTO statt, die eine bemerkenswerte Breite und Vielfalt erreichten. 1.449 Organisationen aus über 90 Ländern unterzeichneten einen Appell, der ein Aussetzen der Millenniumsrunde forderte. Dieses Moratorium sollte verhindern, dass die WTO einen weiteren Machtzuwachs erhielte, bevor nicht die Bilanz des Freihandels gezogen sei - und zwar auf demokratische Weise.
Einem Großteil der Menschen gefällt offensichtlich nicht, wie die WTO sich die Welt ein- und zurichten will! Wann haben wir zuletzt eine solche internationale Dynamik gesehen, eine solche Konvergenz der unterschiedlichsten Kräfte, die gegen die herrschende Ordnung Widerstand leisten? Wohl nicht seit den großen Mobilisierungen gegen den Vietnamkrieg der USA, also seit 25 Jahren.
Angesichts der massiven Ablehnung gelang es den in der WTO führenden Regierungen vor Seattle nicht einmal, sich auf eine Tagesordnung für die Millenniumsrunde zu einigen. Die Widersprüche zwischen den drei Blöcken der imperialistischen Triade, der USA, der EU und Japans, haben sich als zu scharf erwiesen. Diese Situation nutzten die Länder des Südens, um sich Gehör zu verschaffen. Unter diesen Bedingungen haben es all die vorbereitenden Verhandlungen, die über Wochen in Genf, dem Sitz der WTO, stattfanden, nicht vermocht, aus der Sackgasse heraus zu führen. Ja, es gelang nicht einmal, eine gemeinsame Erklärung zu verabschieden, um wenigstens den Schein zu wahren.
Zu dem Zeitpunkt, als die Millenniumsrunde eröffnet werden sollte, erhöhten sich die Spannungen zwischen den großen Wirtschaftsmächten. Die Ablehnung wächst, und die mangelnde demokratische Legitimation der WTO wird mehr und mehr kritisiert und attackiert. Widersprüche auf dem Gipfel, Widerstand an der Basis: das ist genau die Kombination von Umständen, die es uns 1998 erlaubte, einen ersten und sehr wichtigen Sieg zu erringen. Damals war die OECD gezwungen, ihr geliebtes MAI, das Multilaterale Abkommen über Investitionsschutz, zu begraben.
Und weitere Siege sind möglich, in der Gegenwart und der Zukunft, wenn nur die Bürgerbewegungen und die sozialen Bewegungen auf Dauer ihre Dynamik erhalten können. Denn es geht nicht nur um die WTO. In den vergangenen zwei Jahren sind die Widersprüche der kapitalistischen Globalisierung offen zutage getreten. Die neoliberale Ordnung zeigt ihre Achillesferse.
Die WTO wurde explizit dazu ins Leben gerufen, das GATT weiterzuführen und den Freihandel noch effizienter durchzusetzen. Um den Freihandel besser durchzusetzen, soll die WTO entsprechende Regelwerke und Gesetze erzwingen. Dazu wird ein Recht definiert, das den Vorrang der Handelsbeziehungen begründet und sich auf angebliche universelle Werte stützt. Um dies durchzusetzen, hat man der WTO eine komplexe Organisationsform gegeben, die mit erheblichen Machtbefugnissen ausgestattet ist. In den letzten fünf Jahren ist ein Gutteil davon, insbesondere im Bereich der Legislative, umgesetzt worden. Ihre Macht zieht die WTO aus ihrer aktiven Komplizenschaft mit den westlichen Regierungen und aus dem Gewicht der wirtschaftlichen Interessen, denen sie dient und die ihr dienen.
Aber die Maschine kann auch stocken oder jeden Anschein an demokratischer Legitimität verlieren. Und das ist genau das, was wir gerade erleben.
Die WTO sollte einen verbindlichen juristischen Rahmen darstellen. Doch das von ihr vertretene Recht spiegelt das bestehende politische und ökonomische Kräfteverhältnis wider. Dies lässt sich beispielhaft zeigen an Hand der Differenzen, die zwischen den USA und Westeuropa hinsichtlich der Tagesordnung der Verhandlungen bestanden.
Vom GATT zur WTOGATT: Das GATT ging aus einem Abkommen hervor, das 1947 von 23 Staaten unterzeichnet wurde. Erklärtes Ziel war es, den internationalen Handel stetig zu liberalisieren. Als erste Schritte in diese Richtung wurden die Zollgrenzen abgebaut.Verhandlungsrunde: Im Rahmen des GATT wurden sogenannte Verhandlungsrunden organisiert. Jede Runde konnte mehrere Jahre dauern und trug gewöhnlich den Namen des Ortes oder des Staates, in dem die Runde ins Leben gerufen wurde. Von Mal zu Mal wurden die Runden länger und komplexer. Uruguay-Runde: Name der letzten Verhandlungsrunde, die im Rahmen des GATT stattfand. Sie begann 1986 und endete 1993. Die Uruguay-Runde war, was die Ziele betrifft, mit Abstand die ehrgeizigste. Sie löste eine neue Welle der Liberalisierung von Waren und Dienstleistungen aus, auch wenn die Verhandlungen in manchen Bereichen nicht zum Abschluss gebracht werden konnten (Textilindustrie, Finanzdienstleistungen,...). Marrakesch-Abkommen: Das Schlussabkommen der Uruguay-Runde, mit dem die Gründung der WTO beschlossen wurde. Das Marrakesch-Abkommen wurde am 15. April 1994 von 120 Staaten unterzeichnet; bis Februar 1995 wurden daraus 135 Unterzeichnerstaaten. WTO: Nachfolgerin des GATT. Die WTO hatte im Dezember 1995 112 Mitgliedsstaaten, 40 weitere Staaten besaßen Beobachterstatus. Heute sind es 135 Mitgliedsstaaten und mehr als 30 Beobachter. Seit Gründung der WTO fanden in ihrem Rahmen zwei Ministerkonferenzen statt: 1996 in Singapur, 1998 in Genf. Seattle war die dritte, bzw. hätte sie werden sollen. |
Die europäischen Multis profitieren, vor allem im Bereich der Dienstleistungen, sicherlich von der Globalisierung. Doch angesichts der nächsten Welle von Deregulierungen muss die EU auch Zeit gewinnen, um ihre politische und wirtschaftliche Integration voran zu bringen. Die EU ist die zweitgrößte Macht; dass sie nur Rang zwei belegt, ist vor allem ihrer militärischen Schwäche und der fehlenden internen Einheit geschuldet. Allgemein gesprochen ist es der Wunsch der EU, dass die WTO die Rolle eines gemeinsamen Verhandlungsrahmens für die drei großen Blöcke der imperialistischen Triade, einschließlich Japans, spielt. Folglich hätte sie die Tagesordnung der Millenniumsrunde gerne um verschiedene Punkte erweitert (z.B. um Regeln für die Konkurrenz, für Investitionen, etc.), um so ein umfassendes Regelwerk verabschieden zu können. Zugeständnisse an US-amerikanische Forderungen hätten darin kompensiert werden müssen durch Zugeständnisse der USA an die EU. Die EU lehnt es ab, Vereinbarungen sektorweise abzuschließen und zielt auf ein globales Abkommen, das aber frühestens in drei Jahren unterzeichnet werden könnte.
Vom GATT erbte die WTO die Regeln der Entscheidungsfindung. Die WTO musste sich also dem Konsensprinzip beugen und wenigstens formal die Gleichheit aller Mitgliedsstaaten (inzwischen 135, wenn man China mitzählt) akzeptieren. Es gilt also die Regel: ein Staat eine Stimme, und nicht, wie etwa im IWF oder der Weltbank, ein Dollar eine Stimme. Die formale Gleichheit der Mitgliedsstaaten ist aber auch schon das einzige demokratische Prinzip, das die WTO aufweisen kann. Und dieser eine demokratische Aspekt kostet: Die Prozeduren sind oft langwierig und schwerfällig. Dies ist der Grund dafür, warum die führenden kapitalistischen Staaten das MAI ursprünglich im Rahmen der OECD (in der sich die 24 mächtigsten Industriestaaten zusammengeschlossen haben) verhandeln wollten und nicht in der WTO.
Die Gleichheit zwischen den Staaten ist aber, wie schon gesagt, nur formal. Tatsächlich ist die Mehrzahl der Staaten, weil ihnen die Mittel fehlen, nicht in der Lage, in all die Entscheidungsprozesse einzugreifen, die in der WTO parallel verhandelt werden. Die Regierungen der G7 haben alles in der Hand: Wenn sie sich einig sind und eine gemeinsame Linie vertreten, dann können sie in der Organisation jederzeit ihren Willen durchsetzen. Nur wenn keine Einigkeit besteht, können die Staaten des Südens und des Ostens hoffen, bestimmte Entscheidungen zu blockieren. Indien und Malaysia sind in diesem Sinne ab und zu erfolgreich, aber auch zahlreiche afrikanische Staaten, die die Patentierung von Leben ablehnen.
Dennoch sollte man sich davor hüten, alles nur unter dem Blickwinkel Nord/Süd zu analysieren. Die Frage der Agrarsubventionen etwa spaltet die Staaten des Norden und die des Südens untereinander. Argentinien gehört der ultraliberalen Cairns-Gruppe an, die die Agrarsubventionen der EU attackiert. Und auch in der Dritten Welt gibt es viele Regierungen, einflussreiche ökonomische Interessen und manche Teile der Eliten, die Globalisierung und Freihandel begrüßen.
Die Verfassung der WTO ist ganz unzweideutig. Aufgabe der Organisation ist es, den internationalen Freihandel in allen Sektoren durchzusetzen, wo es mindestens zwei Konkurrenten gibt. Darin sind eingeschlossen die Kultur, das Gesundheits- und das Schulwesen, öffentliche Märkte, die Patentierung von Leben, etc. Ziel der WTO ist es also, die weltweite Diktatur der Handelsordnung durchzusetzen.
Doch dieses Ziel ist, ganz offensichtlich, nicht so einfach durchzusetzen. In vielen Ländern erlaubt es das gesellschaftliche Kräfteverhältnis heute nicht, das öffentliche Gesundheits- und Schulwesen auseinander zu nehmen. Deshalb ist die WTO mit Befugnissen ausgestattet, mittels derer sie sogar die klassische bürgerliche Demokratie untergraben kann. Indem sie die Verfassung der WTO ratifizierten, gaben die Parlamente, übrigens ohne jede öffentliche Debatte, einige ihrer wichtigsten Vorrechte auf. Die Verfassung der WTO verlangt sogar, dass die nationalen Gesetzgebungen den Regeln angepasst werden müssen, die die WTO beschließt. Damit ist die Organisation zu einem Organ der internationalen Gesetzgebung geworden - ohne gewählt zu werden oder verantwortlich zu sein.
Die Beschlüsse der WTO besitzen den Rang internationaler Verträge (die, wohlgemerkt, über den nationalen Gesetzen stehen). Solche Verträge waren bis heute politische Ausnahmen; über sie wurde in den nationalen Parlamenten diskutiert und sie mussten per spezieller Abstimmung ratifiziert werden. Die WTO dagegen hat, mit ihrer Gründung, einen Blankoscheck ausgestellt bekommen; ihre Beschlüsse sind ungefragt zu übernehmen.
Im Streitbeilegungsorgan der WTO, dem Dispute Settlement Body (DS), verschmelzen Legislative, Exekutive und Judikative. Als innere Institution der WTO hat das DS die Macht, in Konflikten zwischen Mitgliedsstaaten zu entscheiden und Sanktionen, insbesondere finanzieller Art, zu verhängen. Beispielsweise legalisierte das DS die "Vergeltungsmaßnahmen" der USA gegen die EU, nachdem diese sich geweigert hatte, hormonbehandeltes Rindfleisch aus den USA zu importieren.
Was hier auf dem Spiel steht ist nicht nur die nationale Souveränität, sondern auch die Rolle der Politik und die Souveränität des Volkes - im Rahmen eines Staates, einer Staatengruppe oder auch im internationalen Rahmen. Die WTO stellt unmittelbar das Recht der Bevölkerung in Frage, auf die Ausrichtung der Regierungspolitik Einfluss zu nehmen gemäß eigener Erwägungen und Prioritäten im politischen, sozialen, gesundheits- und umweltpolitischen, kulturellen und ökonomischen Bereich. Diese verheerenden Auswirkungen der neoliberalen Diktate lassen verstehen, warum der Widerstand gegen die WTO heute so weit und breitgefächert ist.
Neben IWF und Weltbank, neben NATO und G7, ist die WTO sehr schnell zu einer wesentlichen Institution für die Durchsetzung der kapitalistischen Globalisierung geworden. Sie erscheint heute als eine sehr mächtige Organisation, doch sie hat auch große Schwierigkeiten. Der Gipfel von Seattle fand statt zu einem Zeitpunkt, als die neoliberale Ideologie, die lange Zeit unangefochten war, durch die Finanzkrise 1997 - 1998 erschüttert war. Die Herausbildung einer neuen Weltordung stellt sich als weniger natürlich und einfach heraus, als die Apostel des Liberalismus es sich wünschen.
Die neoliberale Globalisierung ist vor allem eine neue Etappe der Internationalisierung des Kapitals und der Umstrukturierung des Weltmarktes. Die Dynamik dieses Prozesses zeigt sich besonders in den immer rascher aufeinander folgenden Megafusionen im Industrie- und Bankenbereich, seine Tiefe in der Umorganisierung des gesamten Planeten: der (ungleichen) Konsolidierung der peripheren Zonen um die drei Blöcke der imperialistischen Triade und der völligen Aufgabe und Desintegration weiter Teile der Welt zum Beispiel in Afrika; die Kontrolle über diese Gebiete ist nicht mehr so wichtig wie früher.
Doch die Globalisierung wirkt sich nicht nur auf die Bereiche Handel, Industrie und Finanzwirtschaft aus. Sie zeigt sich auch in grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen wie der Zusammensetzung der herrschenden Klassen (z. B. der Schwächung oder Marginalisierung einzelner traditioneller Sektoren der Elite) und der beherrschten Klassen (die von einem tiefgehenden Prozess der Prekarisierung und Fragmentierung bedroht sind). Außerdem wird durch die Globalisierung das Gleichgewicht zwischen den ökonomischen, politischen und militärischen Machtzentren neu austariert - national, regional und international. Dabei werden den weltweit operierenden Institutionen, die in der Nachkriegszeit geschaffen wurden, neue Rollen zugewiesen; UN und ihre Institutionen wie die ILO (die Internationale Arbeitsorganisation) werden zunehmend marginalisiert.
Die neue Weltordnung führt zu neuen Formen der Klassenherrschaft. Doch auch wenn das Projekt des Neoliberalismus sich in den USA unter R. Reagan und in Britannien unter M. Thatcher durchsetzen konnte, so hat er seine weltumspannende Dimension erst nach der Implosion des Ostblocks - am deutlichsten symbolisiert durch den Fall der Berliner Mauer - erreicht. Das ist nun zehn Jahre her. Ein Jahrzehnt, in dessen Verlauf der IWF seine Macht über die Staaten Osteuropas ausdehnte, die WTO entstand, die NATO ihren Marsch Richtung Osten begann und ihre weltweite Zuständigkeit ausrief und, schließlich, die G7, mit einigen Schwierigkeiten, versuchten, ihre Macht neu zu fundieren. Aber auch ein Jahrzehnt, das mit der ersten größeren Krise dieses Prozesses der kapitalistischen Globalisierung endete. Eine Krise, die wirtschaftliche, soziale und politische Widersprüche zum Ausdruck bringt und aufzeigt, an welchem Punkt die Stabilisierung der neuen bürgerlichen Herrschaftsform unsicher bleibt.
Die Finanzmärkte sind heute wieder euphorisch geworden. Doch die Lehre der Finanzkrisen 1997 - 1998 sollte nicht vergessen werden. Innerhalb von eineinhalb Jahren zerrüttete diese Krise Thailand, einen Gutteil Ostasiens, dann Russland, daraufhin Brasilien und einen Teil von Lateinamerika, um schließlich mit der Affäre der Pensionsfonds auch die USA zu berühren. Die Mechanismen, die ursprünglich geschaffen wurden, um die Finanzmärkte abzusichern, spielten in den Händen des spekulativen Kapitals und der großen Aktienbesitzer eine destabilisierende Rolle. In diesem Bereich wird nichts reguliert.
Mit dem Auslaufen der alten Entwicklungsmodelle, so ließe sich genauer sagen, stellt sich die Frage, ob der heutige Kapitalismus, unter der Diktatur des shareholder-value, überhaupt noch in der Lage ist, seine produktive und soziale Basis zu erhalten.
Im Jahre 1997 betrachteten die BefürworterInnen des Neoliberalismus die asiatische Krise noch als eine Chance: westliche Unternehmen, so die Überlegung, könnten unter diesen Bedingungen rasch in die betroffenen Märkte eindringen (z.B. Südkorea) und zu niedrigen Preisen Firmen und Banken aufkaufen, die nahe am Bankrott stehen.
Aber schon 1998 wurde deutlich, dass der IWF sich als Zauberlehrling erwies, als er mit seinen Auflagen den Sturz Suhartos beschleunigte und damit eine tiefgreifende Staatskrise in einem der Schlüsselländer Asiens hervorrief.
Drei Monate später wurde die Autorität des IWF durch den russischen Mafia-Skandal weiter untergraben.
Diese Ereignisse haben einige Abwehrreaktionen von Seiten der herrschenden Klassen des Südens ausgelöst. Die malaysische Regierung legte sich mit dem IWF an, indem sie eine Kontrolle der Kapitalflüsse durchsetzte. Im November 1998 erklärte sich die APEC, der wirtschaftliche Zusammenschluss von Staaten aus dem asiatisch-pazifischen Raum, nicht in der Lage, eine weitere Welle der Liberalisierung der Wechselkurse durchzusetzen. Und in Brasilien weigern sich einige Bundesstaaten, den Schuldendienst so, wie vom Land vorgesehen, zu bedienen ... Diese Formen des Widerstands von Eliten gegen ultraliberale Diktate zeigen sich heute im Rahmen der WTO.
Allgemeiner gesagt, die neuen Institutionen der Weltordnung schränken den Handlungsspielraum der nationalen Bourgeoisien erheblich ein. Im Namen von Freihandel, freier Konkurrenz und Haushaltssanierung werden traditionelle Formen der Klassenherrschaft in Verruf gebracht: der historische Klassenkompromiss in Westeuropa, der Populismus in Lateinamerika, der Klientelismus in Afrika, die staatlichen Eingriffe in Asien.... WTO und IWF propagieren einzig und allein ein uneingeschränktes Gesetz der Waren- und Finanzmärkte, eine besonders brutale Herrschaftsform, die jedoch nur dann funktionieren kann, wenn es keinen kollektiven Widerstand dagegen gibt.
Damit kommen wir offensichtlich zur Schlüsselfrage. In vielen Ländern sind gewerkschaftliche, soziale und demokratische Bewegungen in den 90er Jahren deutlich geschwächt worden. Doch noch nicht schwach genug für die neue Weltordnung. Der Sieg gegen das MAI ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Die Mobilisierung gegen dieses Abkommen war kurz und fand nur in einer kleinen Anzahl Länder statt (Kanada, die USA, Frankreich ... ). Sie bewirkte keine großen Demonstrationen auf den Straßen, aber sie rief ein breites Spektrum von Gruppen auf den Plan. Unter diesem Druck war die französische Regierung die erste, die aus der Front ausbrach und ihren Rückzug von den Verhandlungen (die innerhalb der OECD stattfanden) erklärte, nicht ohne vorzuschlagen, das Abkommen im Rahmen der WTO weiter zu verhandeln.
Dieser (sicher nur vorläufige) Sieg wurde viel leichter errungen, als wir damals erwartet hatten. Mit beigetragen haben die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Regierungen, die durch die Finanzkrise noch verschärft wurden. Aber auch die Tatsache, dass das MAI die Vorherrschaft der Multis so deutlich zum Ausdruck brachte, dass es kaum öffentlich verteidigt werden konnte. Die fehlende demokratische Legitimation hat sich als Achillesferse der kapitalistischen Globalisierung erwiesen.
Die europäische Sozialdemokratie und (bis zu einem gewissen Grad) auch William Clinton versuchen, ihre Lehren aus diesem Fiasko zu ziehen. Sie sprechen von "Transparenz", "verstehen" das Unbehagen der gegen die WTO Demonstrierenden und laden sie zum "Dialog" ein. In keiner ihrer Reden fehlt die Sorge um die Dritte Welt, die Kultur oder die Umwelt. Doch damit wird die Wahrheit nur kaschiert, nämlich das Festhalten am Prozess der wirtschaftlichen Liberalisierung und der Abschaffung demokratische Rechte.
Der Franzose Pascal Lamy, EU-Kommissar und Leiter der Verhandlungsdelegation in Seattle erhielt demgemäß folgende Richtlinien für die Verhandlung: Ja zur Liberalisierung des Handels in jeder Hinsicht, kleinere Zugeständnisse in Fragen kultureller Vielfalt, des Gesundheitswesens und der Umwelt und ggf. der Einstieg in einen Dialog mit der ILO über gewisse soziale Mindeststandards. Der Freihandel soll also die Regel bleiben, jedwede Störung desselben die Ausnahme.
Die EU, insbesondere Frankreich, fordert mit Nachdruck die Ausweitung von Kompetenzen der WTO - in krassem Widerspruch zu den wichtigsten Forderungen der DemonstrantInnen. In den großen Medien läuft derzeit ein ideologischer Gegenangriff in Richtung "Sozialliberalismus" ("besser eine WTO mit Regeln als gar keine Regeln"). Doch die schändlichen Reaktionen auf die Ereignisse in Seattle (die Protestierenden hätten Verhandlungsangebote ausgeschlagen) scheinen nicht zu überzeugen.
Auf der einen Seite zerreißt die kapitalistische Globalisierung das soziale Band und schwächt das einfache Volk durch die Verallgemeinerung prekärer Verhältnisse; sie versucht, alle erkämpften sozialen Rechte zu zerstören und sie, bestenfalls, durch ein paar individuell zugeschnittene Sicherheiten zu ersetzen. Auf der anderen Seite schafft sie die Bedingungen neuer Solidarität: Dieselben Institutionen entwickeln an jedem Platz der Erde, in jedem Milieu dieselbe neoliberale Politik. Das wird uns die Möglichkeit geben, in einem gemeinsamen Kampf diese weltumspannende Solidarität aufzubauen und einen neuen Internationalismus ins Leben zu rufen.
Aus: Inprecor Nr. 442 (Dezember 1999)
Übers.: Georg Rodenhausen
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 339/340