Exklusivinterview mit Joao Pedro Stedile, Generalsekretär des MST (Movimiento de los sin tierra, Bewegung der Landlosen), Brasilien
Maria do Fetal Almeida: Welcher Art sind die Zusammenhänge zwischen der MST, der Via Campesina ["Bauernweg", internationaler Zusammenschluss von Bauernorganisationen, Anm.d.Ü.] und der Globalisierung?
Joao Pedro Stedile: Die MST arbeitet mit anderen Organisationen aus Lateinamerika und Europa zusammen, insbesondere mit der CPE. Seit 1990 unternehmen wir Anstrengungen, um auf Weltebene den Bauernorganisationen Gehör zu verschaffen. Das war eine Notwendigkeit, die sich in den ersten zehn Jahren im Rahmen der bilateralen Kontakte, des Erfahrungsaustauschs, verschiedener Seminare zur Landwirtschaft, zum Handel mit Landwirtschaftsprodukten und zur Struktur des Landbesitzes ergeben hatte. Wir haben dabei gelernt, dass die Probleme der Landarbeiter, der Landbevölkerung, wie auch immer man sie nennt: Campesinos, Bauernfamilien, indigene Völker, Kleinproduzenten, die gleichen sind. Es fehlt an Land, es gibt keinen Markt für unsere Produkte, die Einkommen sind zu niedrig, es herrscht ein technokratisches Modell der Agrarproduktion vor, das von den großen transnationalen Unternehmen durchgesetzt wurde, die dadurch einen falschen Weg vorgeben. Demgegenüber ist "Via Campesina" der Versuch, mit aller Kraft die Stimme der Bauern zu erheben in der Absicht, gegen unsere gemeinsamen Probleme anzutreten und Mechanismen der gemeinsamen Mobilisierung zu entwickeln. Wir sind sehr froh darüber, dass wir bereits jetzt sehen können, dass unsere Anstrengungen schon Früchte zu tragen beginnen. Wir haben eine ausgezeichnete Verbindung zwischen den wesentlichen Bauernorganisationen auf Weltebene hergestellt, mit unseren Freunden aus Frankreich, den indigenen Völkern, den Mexikanern und Filipinos.
MdFA: Wie kämpft ihr gegen die Globalisierung in Eurer täglichen Arbeit?
JPS: Unsere strategische Ausrichtung ist es, den Kampf nicht ausschließlich auf den Kampf um Land zu beschränken. Wir müssen gleichzeitig gegen das wirtschaftliche und agrarwirtschaftliche Modell kämpfen, durch die alle Bauern ausgebeutet werden, ebenso alle Landlosen und auch alle, die durch das MST (Bewegung der Landlosen) zu Land gekommen sind. In unserem täglichen Kampf stellen wir das gesamte agrarwirtschaftliche Konzept in Frage.
Wir sind beispielsweise strikt gegen die transgenen, also genetisch veränderten Sojapflanzen und brennen sie ab, wenn wir können. Wir sind gegen das Oligopol, das die großen multinationalen Unternehmen in Brasilien errichten, etwa im Bereich der Milchprodukte, beim Tabak, Mais und so weiter. Wir versuchen dagegen Widerstand zu leisten. Wir wenden uns dagegen, dass Produkte importiert werden, die wir hier selbst produzieren können und die uns die multinationalen Unternehmen zweifellos nur deshalb verkaufen, um ihre sowieso schon horrenden Gewinne noch weiter zu steigern. Außerdem versuchen wir das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer neuen Produktionsweise zu entwickeln, die sich gegen das Konzept der sogenannten grünen Revolution wendet und die die alte Tradition des organischen Anbaus wieder aufgreift.
MdFA: Warum wird die MST als die bedeutendste Widerstandsgruppe gegen die Globalisierung in Lateinamerika betrachtet?
JPS: Wir haben uns von Beginn an nicht als die wichtigste Gruppe begriffen. An der CLOC, der Koordination der lateinamerikanischen Bauernorganisationen, nehmen 57 Organisationen aus 23 Ländern teil. Sie alle stehen auf der gleichen politischen Position. Möglicherweise gibt uns einfach die Tatsache ein größeres Gewicht, dass Brasilien ein Land mit kontinentalen Dimensionen ist und allein 40 Millionen Einwohner auf dem Land leben, davon 4 Millionen landlose Familien, wodurch unsere Probleme rein quantitativ eine ganz andere Größenordnung haben.
MdFA: Was denkt die MST über die Ereignisse in Seattle und Washington?
JPS: Wir haben das mit viel Sympathie beobachtet. Leider hat uns die enorme Entfernung daran gehindert, mehr als die drei Genossen zu schicken, die an den Veranstaltungen und Protesten teilgenommen haben. Seattle war ein Aufschrei des sozialen Gewissens breiter Teile der internationalen Gemeinschaft und unserer Meinung nach war das interessanteste der Bereich der Arbeiterschaft der nördlichen Hemisphäre, die uns bisher viel zu angepasst erschien. Das nährt die Hoffnung bei den Arbeitern und der gesamten Bevölkerung der südlichen Hemisphäre, denn es zeigt, dass der bewusste Teil der Nordbevölkerung sich ebenfalls gegen die Dominanz des Weltwährungsfonds, der Weltbank, der multinationalen Konzerne und der Banken wendet.
Ich glaube, dass wir da eine sehr wichtige Saat säen, die eine Allianz zwischen allen Völkern, allen sozialen Sektoren der Welt begründen könnte, gegen das Finanzkapital, gegen die Ausbeutung, gegen jede Form von Handel, die nur auf leichtverdienten Profit aus ist und nicht auf menschenwürdiges Überleben. Wir müssen lernen, wenn auch sehr spät, was ein Journalist in der spanischen Revolution formulierte: "Kein Mensch ist Ausländer" und deswegen müssen wir uns gegen die Ausbeuter zusammenschließen.
MdFA: In Europa hat es eine harte Debatte gegeben über "vor und nach Seattle". Kann es sein, dass dieses 21. Jahrhundert mit der Globalisierung des Kampfes gegen die Welthandelsorganisation begonnen hat?
JPS: Es ist sehr schwierig, historische Perioden einzuschätzen, wenn man selbst inmitten der Geschehnisse steht. Erst in der Zukunft werden wir beurteilen können, welche Dimension das hat, was da geschehen ist. Aber ich persönlich bin davon überzeugt, dass dieser Zuwachs an Bewusstsein sich immer mehr ausbreitet, intensiviert und beschleunigt, und zwar innerhalb der Organisationen, in den Bewegungen, in den sozialen Bereichen und in den Parteien. Was wir brauchen, ist eine neue Weltordnung. Es muss Schluss sein mit Weltwährungsfonds, Weltbank, NATO, mit Finanzkapital und letztendlich auch mit der UNO. Denn da die Herrschaft unserer Regierungen von der Hegemonie der USA abhängt, haben erstere sich in simple Instrumente der nordamerikanischen Dominanz verwandelt.
Wir schlagen vor, in eine immer konkretere Diskussion darüber einzutreten, alle sozialen Bewegungen zu einigen, zu organisieren und ihnen eine Stimme zu geben. Das bedeutet, alle Organisationen und Gruppen des Planeten zu vereinigen, um gemeinsam wirklich repräsentative Institutionen der Völker, der Arbeiter auf Weltebene zu begründen und nicht nur solche der Regierungen oder Staaten.
Weiterhin fehlt uns eine große gemeinsame Anstrengung, gegen das Finanzkapital anzutreten, das mit seinen fast unbegrenzten Ressourcen die Völker des ganzen Planeten ausbeutet. Die letzte Veröffentlichung der Weltbank weist aus, dass zwischen 1980 und 1996 die Schulden der Länder der sogenannten Dritten Welt dank der Hegemonialpolitik der USA und dem neoliberalen Kurs von 600 Milliarden Dollar auf 2 Billionen gestiegen sind. Im gleichen Zeitraum stiegen die ausländischen Investitionen in diese Länder von 23 Milliarden auf 118 Milliarden, von denen China allein 75 Milliarden erhielt. Das allein illustriert ausreichend das extreme Maß an Ausbeutung und die Größe, die der Transfer von Reichtum aus den Ländern der Peripherie in die internationalen Banken über den Weg der Auslandsverschuldung erreicht hat.
Die Fragen stellte Maria do Fetal Almeida (Mitglied
von ATTTAC in El Grano de Arena)
Übersetzung aus dem Spanischen: Klaus Engert