Fischers pseudodemokratischer Betrug

Joschka Fischer war derjenige, der die Entscheidung forciert hatte, die deutsche Armee zum ersten Mal seit 1945 aus ihren Kasernen und Landesgrenzen ausrücken zu lassen. Ihm kommt die Ehre zu, die Debatte über die Zukunft der EU erneut in Gang gesetzt zu haben. Was er gesagt hat, ist weder neu noch spektakulär, aber ganz sicher steckt dahinter ein präzises Ziel.

Von François Vercammen

Die EU müsse sich parlamentarische Institutionen schaffen und ein für allemal das Verhältnis zwischen den Nationalstaaten und der übernationalen Struktur regeln. Und er selbst, Fischer, optiert für eine Föderation von Nationalstaaten auf Grundlage eines Parlaments mit zwei Kammern: die eine wäre aus Abgeordneten der nationalen Parlamente zusammengesetzt (wann gewählt oder ernannt?), die zweite (mit Funktionen ähnlich dem US-amerikanischen Senat oder dem deutschen Bundesrat) aus Abgeordneten, die in ihren jeweiligen Ländern "direkt gewählt" werden.

Weiterhin schlägt Fischer vor, die "horizontalen" Beziehungen zwischen den heutigen gemeinschaftlichen Institutionen in Ordnung zu bringen. Fischer führt die Idee einer (künftigen) europäischen Regierung ein, ohne sich auf deren genaue Form festzulegen: Eine solche EU-Regierung soll entweder durch die Weiterentwicklung des Europäischen Rats (aus Regierungsvertretern der Mitgliedsstaaten) entstehen, oder durch Direktwahl eines Präsidenten mit weitgehenden exekutiven Befugnissen auf Grundlage der aktuellen Struktur der EU-Kommission.

Indem Fischer die Frage des "politischen Europa" "von oben" wiederbelebt, mit Hilfe einer Rede, die von seinen Kompagnons des EU-Gipfels von Lissabon, die seinen Vorstoß unterstützten, ins rechte Licht gerückt wurde, versucht er auf drei dringende Fragen eine Antwort zu finden:

  1. Die riskante Wendung hin zu einem Europa als politischer Macht (nach der Einführung des Euro, der Osterweiterung und der europäischen Verteidigung) macht eine neue Etappe beim Aufbau europäischer staatlicher Institutionen notwendig.
  2. Der Erfolg der französischen EU-Präsidentschaft (von Juli bis Dezember 2000) muss gesichert werden. Doch die Tagesordnung der Regierungskonferenz beschränkt sich (zumindest offiziell und bislang) auf einige institutionelle Reformen, die angesichts des genannten Problems lächerlich geringfügig angelegt sind: Größe der Kommission, Gewicht der Stimmen der verschiedenen Mitgliedsstaaten im Rat und Einschränkung des Vetorechts durch Ausweitung der Fragestellungen, über die mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden kann.
  3. Gerade in diesem Augenblick mangelt es der EU weiterhin an Legitimität in breiten Bevölkerungskreisen, wofür es historische (keine europäische Nation, keine europäisch integrierte Bourgeoisie, Vielzahl von Nationalstaaten und große Unterschiede der Wirtschaften und Gesellschaften der verschiedenen Länder) und aktuelle Gründe (die institutionellen Fortschritte der EU der letzten 15 Jahre fallen mit dem stärksten sozialen Rückschritt seit 40 Jahren zusammen) gibt. Das ist ein zentrales Hindernis für das Ausräumen der Widersprüche zwischen den EU-Mitgliedsstaaten.
Demgegenüber hat Fischer auf eine bewährte Methode zurückgegriffen: ein starkes Instrumentarium schaffen um innerhalb der damit vorprogrammierten institutionellen Krise einen neuen Anlauf zu machen, wobei ideologischer Diskurs und politisch-institutionelle Perspektive vermengt werden - damit in der geschaffenen allgemeinen Verwirrung dann ein Maximum an effizienten Maßnahmen durchgeht. Danach sieht man weiter.

EIN EUROPA DER NATIONALEN ELITEN?

Auf den ersten Blick scheint die Rede, die das haarige Problem des übernationalen politischen Europa zur Diskussion stellte, deplaziert. Sie riskiert eine Wiederbelebung der Kontroverse zwischen "EU-Patrioten" und "National-Patrioten" in den Führungen der etablierten politischen Parteien. In Wirklichkeit sollte die von Fischer (und seinen Komplizen) vorgeschlagene Lösung den Pro-

EU-Regierungen helfen, die sich mit einer rechten oder linken "nationalistischen" Opposition herumschlagen müssen. Nicht nur in Frankreich und in Deutschland, sondern auch in Blairs Großbritannien und in der Londoner City. Denn Fischer trägt ausdrücklich den europäischen Föderalismus zu Grabe, der auf dem EU-Gipfel die offizielle Gründerideologie war. Und er begräbt zugleich das institutionelle Modell, das dazu passte: In Zukunft werden die europäischen Institutionen nicht mehr die Berufung haben, sich die Nationalstaaten einzuverleiben, indem sie sie Zug um Zug durch einen übernationalen Föderalstaat ersetzen. Man wird also nicht nur das europäische Ziel von Monnet aufgeben, sondern auch die zugehörige Methode der schrittweisen Übertragung von Teilen der nationalen Souveränität auf europäische Institutionen. Für Fischer wird die EU ein Staatenbund auf Grundlage von Nationalstaaten. Sein Projekt schließt auch eine europäische Staatsbürgerschaft auf der Ebene der politischen Entscheidungen aus: "dieses Parlament würde die verschiedenen nationalen politischen Eliten(!) versammeln und dann die verschiedenen nationalen öffentlichen Meinungen". Dies bedeutet zwei Kammern aus Mitgliedern, die in den jeweiligen Nationalstaaten gewählt werden und scheint die Möglichkeit auszuschließen, dass die europäischen Bürgerinnen und Bürger insgesamt andere europäische Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrer Nationalität wählen könnten. Ebenso ausgeschlossen scheint die Präsentation vereinigter europäischer Listen in allen Mitgliedsländern.

Das Projekt schlägt eine starke demokratische aber nur teilweise Wendung vor: endlich ein parlamentarisches Regime für die EU! Eine großartige Innovation zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts!

So würde die gegenwärtige institutionelle Allmacht des Europäischen Rates gebrochen, der heute fast die ganze exekutive, legislative und konstitutionelle Macht in seinen Händen konzentriert. Die legislative Gewalt käme einem Parlament zu (aber mit welchen Befugnissen genau?). Fischer verkündet außerdem eine neue Verfassung, also ein neues EU-Vertragswerk, das (im Unterschied zur laufenden Gesetzgebung) ein EU-Grundgesetz festlegen und "die Grundrechte, die Menschen- und Staatsbürgerrechte" enthalten würde.

Es ist nicht sicher, ob Fischers Vorstoß bis zum Ende des Jahrs 2000 Bestand haben und, wie er sicherlich hofft, politische Debatte und Medienberichterstattung weiterhin prägen wird. Doch handelt es sich um einen ernsthaften Vorstoß, der von weit oben kommt und präzise Ziele hat.

"VERSTÄRKTE ZUSAMMENARBEIT" AUF DEM RÜCKEN DER BÜRGERINNEN UND BÜRGER

Der Fischer-Vorschlag ist aus zwei Gründen inakzeptabel und sogar unerträglich.

Zum ersten ist er nur partiell demokratisch. Wenn das für die zukünftige EU vorgeschlagene Modell auch demokratisch-parlamentarisch wäre, der Weg, der dahin führen soll, ist es sicher nicht. Denn wer wird über diese konstitutionelle Neubegründung Europas entscheiden, wer diese neue Verfassung verabschieden, wie wird die Entscheidung getroffen und wann? Aus dem Text Fischers kann man herauslesen, dass dies den Regierungen zukommen soll. Und zwar "lange nach dem nächsten Jahrzehnt"!

Schlimmeres liegt vor, denn hier handelt es sich um ein regelrechtes Betrugsmanöver: Während diese "demokratische" EU auf sich warten lässt, wird sie durch "verstärkte Zusammenarbeit" aufgebaut - wobei diese Aufgabe ausschließlich den EU-Regierungen (Europarat) zukommt. Das wirkliche praktisch-politische Ziel Fischers ist der EU-Gipfel im Dezember 2000 in Frankreich: Dass die vorgeschlagene neue konstitutive Zielsetzung in die bestehenden Verträge hineingeschrieben und so die Tagungsordnung der EU-Regierungskonferenzen erweitert wird. Diese "verstärkte Zusammenarbeit" unter solchen Mitgliedsstaaten, die Übereinstimmung erzielen, betrifft Teilfragen, die aber nicht zweitrangig sind: die Währung und die Streitmächte. Die Idee hat es schon immer gegeben. Aber ihre "Rechtfertigung" verstärkt sich in dem Maße sich die EU erweitert und damit diversifiziert. Die Einstimmigkeit einer wachsenden Zahl von Mitgliedsstaaten erwarten, hieße eine institutionelle Lähmung zu riskieren. So würde die Erweiterung der EU auf Kosten ihres (staatlichen) Zusammenhalts gehen. Diese Erwägung scheint rational zu sein. Aber warum muss sie zur Verletzung elementarer demokratischer Grundsätze führen? Denn die Gelegenheit würde genutzt, die despotische Macht des Europarats zu verstärken und zu verlängern - mit Fischers Worten: "Die verstärkte Zusammenarbeit wird zunächst nichts anderes bedeuten als eine verstärkte Zusammenarbeit der Regierungen"!

Mehr noch. Indem die Methode der "verstärkten Zusammenarbeit von Regierungen" systematisch angewendet wird kommt man logisch, über einen Prozess der Auslese, zu einem "Zentrum" oder zu einer "Vorhut" der am meisten engagierten und der mächtigsten Staaten. Diese werden ein neues Vertragswerk schaffen, dem sich die anderen Mitgliedsstaaten fügen müssen. So wird im Namen einer zukünftigen Demokratisierung "provisorisch" (für mindestens 10 Jahre!) der antidemokratische Charakter der EU verstärkt. Und tschüss "Parlamentarisierung der EU", tschüss ihr "demokratischen (und sozialen?) Grundrechte"!

DIE VÖLKER EUROPAS SOLLEN ENTSCHEIDEN!

Die erste Aufgabe besteht darin, die öffentliche Meinung, die Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung und die sozialen Bewegungen zu alarmieren und zu sagen: Stopp! Dieser verstärkt autokratische Prozess muss aufgehalten werden. Und ihm muss eine demokratische Alternative entgegengesetzt werden. Die Bevölkerung soll nicht erst in 10, 15 oder 20 Jahren das Recht haben, ihr Wörtchen mitzureden und zu entscheiden, sondern sofort. Wir brauchen heute eine breite öffentliche Debatte mit Hilfe der modernen Kommunikationsmittel. Es kommt nicht den Regierungen, sondern den Völkern Europas zu, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden. Dafür bedarf es der Anwendung des allgemeinen Wahlrechts und eine dem Votum der Wählerinnen und Wähler entsprechende Repräsentanz - und die Einberufung eines demokratischen Kongresses der Völker Europas.

Der zweite Grund, warum der Fischer-Vorschlag vorbehaltlos zurückgewiesen werden muss, ist der, dass seine bevorzugte Achse eines "Europa der Nationalstaaten" darauf abzielt, jedwede Idee oder Diskussion in Richtung eines sozialen Europa auszugrenzen. Man kann den Text lesen und immer wieder lesen, man findet das Wort "sozial" nicht einmal darin! Innerhalb der EU ist das logisch: Sie fürchtet die Demokratie, weil sie Angst davor hat, dass sich breitere Bevölkerungsmassen in das institutionelle Geschehen einmischen. Aber eine Verfassung behandelt nicht nur staatliche Institutionen und deren jeweilige Kompetenzen. Sie behandelt vor allem die Gesellschaft und ihre sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, kulturellen und individuellen Grundlagen. Die Abwesenheit dieser Fragestellungen beruht nicht auf Vergessen. Das soziale Europa wurde 1989/90 unter dem Druck der Unternehmerschaft mit Hilfe der Komplizenschaft von Jacques Delors vom Tisch gewischt. Die EU ist eine gesetzlich antisoziale Konstruktion.

Bevor ein wirklich demokratischer Kongress der Völker Europas erreicht ist, muss "unseren" Regierungen, das heißt der EU-Regierungskonferenz (dieser "verfassunggebenden Versammlung" der Eliten der herrschenden Klassen hinter verschlossenen Türen) aufgezwungen werden, dass in die heute bestehenden Verträge alle sozialen Rechte und Normen aufgenommen werden, die die Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung in ihren Jahrhundertkämpfen gegen die Bourgeoisien und ihre Staaten durchgesetzt haben.

Das demokratische und soziale Europa ist wohl eine Krise der EU wert.

4. Juni 2000
François Vercammen ist Mitglied es Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale.
Übersetzung aus dem Französischen: Manuel Kellner


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 347