Nach Genua

Die Schlacht von Genua wird in die Sozialgeschichte eingehen. Ihre Schockwelle hat alle politischen Sphären durchdrungen; dank des Fernsehens haben die Ereignisse noch die bescheidensten und entferntesten Haushalte des Planeten erreicht. Ein wahrer "Schub an Globalisierung"!

François Vercammen

Beim vorläufigen Ergebnis gibt es keinen Zweifel: Die versammelten Regierungen des Imperialismus haben eine schwere moralische und symbolische Niederlage erlitten. Die Regierung Berlusconi wollte die Bewegung matt setzen und ist nun in der Defensive, da sie eine neuerliche Mobilisierung der Arbeitenden und der Jugendlichen in Gang gebracht hat. Vor allem hat eine "neue politische Generation" auf internationaler Ebene "das System herausgefordert". Das politisch-ideologische Klima hat sich geändert: Nun beginnt eine neue Epoche des Aufbaus der Bewegung der Unterdrückten und Ausgebeuteten, wohingegen die kapitalistische Offensive mit aller Macht weitergeht, da sie unter dem Druck der in eine Rezession eintretenden Weltwirtschaft steht.

Die Hoffnung befindet sich nun auf der Seite der Bewegung. Sie ging aus der Kraftprobe auf allen Ebenen gestärkt hervor, sie hat sich geographisch ausgedehnt, ihren Einfluss in die Gesellschaft hinein ausgeweitet und hat nun im politischen Diskurs erhebliches Gewicht. Doch es ist eine Sache, ein Treffen imperialistischer Institutionen durcheinander zu bringen, eine andere, sie am Funktionieren zu hindern, ja gar die kapitalistische Globalisierung aufzuhalten. Schneller und stärker als wir es je gedacht hätten beginnt die strategische, programmatische und taktische Debatte in der Bewegung. Nachdem das Klima der Resignation durchbrochen wurde und die Hoffnung "auf eine bessere Welt" wieder erwacht ist, der Kampf des Proletariats wieder Leben enthält, befindet sich die neue Bewegung nun in einer komplexen Dialektik mit der "realen" ArbeiterInnenbewegung und den anderen sozialen Bewegungen. Sie ist nun zum Objekt aller konservativen Kräfte des Kapitalismus geworden: der Unternehmer, der Regierungen und der sozialdemokratischen bürokratischen Apparate. Wegen der neuen Verantwortlichkeiten muss sie ihre Analysen verbreitern und ihre Aktionsvorschläge präzisieren. Der Sieg in Genua hat eine neue Phase des Klassenkampfes eröffnet.

EIN HÖCHST SYMBOLISCHER SIEG

Es war die herrschende Klasse, besonders der USA, die die Rolle der G 7 auf die Spitze getrieben hat. Anfänglich (1975, nach Ausbruch der Wirtschaftskrise) handelte es sich um eine diskrete und praktische Angelegenheit; sie hat sich inzwischen in den Versuch verwandelt, eine mächtige internationale Führung als Wächter über den Planeten durchzusetzen. Genua war ein herausragendes Beispiel für diesen "Machtwillen".

Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Herausbildung von weltweiten "staatlichen" Institutionen für die herrschenden Klassen eine gigantische Aufgabe ist, die auf enorme Hindernisse stößt. Die untereinander bestehenden Widersprüche sind zu stark und den "neuen Institutionen" gebricht es an jeder Legitimität von Seiten der Völker.

Um diese Schwierigkeiten zu umgehen, handelte man zunächst im Verborgenen und versuchte ein so weitreichendes Projekt wie das MAI (multilaterales Investitionsabkommen) durchzusetzen: Insgeheim wollte man die Investitionen "im Ausland" so schützen, dass ihre Rechte über den nationalen Gesetzen gestanden hätten. Die verhassten Strukturanpassungspläne des IWF haben in den Ländern, die sich in Zahlungschwierigkeiten befinden, Illusionen über ihre Effizienz erzeugt. Seit den Krisen in Asien, in Russland, in Brasilien und nun in Argentinien befindet sich die politische Orientierung des IWF in einer völligen Sackgasse. Der solideste Anker jener Institution war - da es ja keine "Weltregierung" gibt - die G 7, die Regierungen der wichtigsten imperialistischen Länder unter Führung der USA. Doch in Genua ging alles drunter und drüber. In letzter Minute hatte man noch einige afrikanische und asiatische Staatschefs eingeladen, angeblich um "der Dritten Welt zu helfen".

Zunächst wollte man die Bewegung "verführen": Der italienische Außenminister Ruggiero, ein FIAT-Mann, erklärte vor der Demonstration, "man teile dieselben Ziele". Doch dann kam der Umschwung: Berlusconi erklärte in der Art eines "alten Faschisten": "Wer gegen die G 7 demonstriert, demonstriert gegen den Westen!" Am Tag nach der Ermordung von Carlo Giuliano waren den Staatschefs die Lefzen heruntergefallen und Chirac stellte sich sogar auf die Seite der DemonstrantInnen; dann reisten die Regierungsmitglieder überstürzt ab, während die Brutalitäten und Folterungen der Übergriffe der Polizei auf den Sitz des Genua Social Forum (GSF) von den Fernsehanstalten weltweit verbreitet wurden.

Der Gipfel des Zynismus war erreicht, als man die Einrichtung eines Hilfsfonds gegen AIDS bekanntgab, dessen Ausstattung nicht nur lächerlich gering ist, sondern für den gar keine neuen Gelder ausgegeben werden. Es handelt sich nur um eine Umorganisierung bestehender Töpfe.

Welche Bedeutung wird Genua bekommen? Natürlich fällt sie je nach Zeit und Land unterschiedlich aus, doch was bleiben wird (außer den Gewalttätigkeiten) ist das Bild jener Bande von mächtigen Staatschefs, die auf einem Schiff isoliert sind, von Stacheldraht und einer hohen Stahlmauer umgeben, belagert von Hunderttausenden vor allem jungen DemonstrantInnen, aus zahlreichen Ländern der Erde, aus vielerlei unterschiedlichen fortschrittlichen Organisationen, ein beeindruckendes Bild von Bewegungen, Vereinigungen und Komitees, eine riesige kämpferische und internationalistische Bewegung, die eine "andere Welt" fordert.

Die Herren der Welt wollten den Kampf, um die öffentliche Meinung zu gewinnen - sie haben verloren. Der Versuch, eine Art Weltregierung zu installieren, ist in die Hosen gegangen. Aber natürlich haben wir die "kapitalistische Globalisierung" nicht aufgehalten, ja nicht einmal das Funktionieren der Treffen von Politikern, Technokraten und Finanzleuten. Daher drängt sich die strategische Diskussion geradezu auf.

ERSCHÜTTERUNG IN ITALIEN

In Italien beurteilte die ganze politische Gesellschaft Berlusconi nach seiner Fähigkeit, das G-7-Treffen zu leiten; 1994 war er aus der Regierung vertrieben worden, weil es ihm nicht gelungen war, den inneren Frieden zu bewahren. Die Auswirkungen "von Genua" machten sich schon zu Beginn der Demonstration bemerkbar. Auch heute sind die Folgen dieses Ereignisses nicht aus den Medien verschwunden: die Brutalitäten der Polizei, die parlamentarische Untersuchungskommission, die Misstrauensanträge gegen verschiedene Minister, die gespannten Beziehungen der italienischen Regierung zu anderen EU-Regierungen aus Ländern, deren junge StaatsbürgerInnen willkürlich festgenommen worden waren. Seitdem ist der Kampf und die Solidarität weitergegangen. Auf politischer Ebene ist die in die Defensive gedrängte Regierung zum Angriff gegen die frühere Regierung übergegangen, was möglich wurde, weil jene sich feige gebärdet hat (Rutelli, DS etc.). Sie möchte die Bewegung kriminalisieren und insgesamt in die radikale Ecke abdrängen, wobei sie versucht, den "Olivenbaum" für eine Art nationaler Einheit zu gewinnen. Ganz zufällig explodierten Bomben und die "Roten Brigaden" reklamierten die Urheberschaft. Berlusconi spielt mit den Ängsten der Menschen und der Staatstreue der Sozialdemokratie, wobei es sein Ziel ist, die für Herbst angekündigten Mobilisierungen der Gewerkschaften zu verhindern.

Das Erdbeben von Genua ist in der ganzen italienischen Gesellschaft zu spüren und hat die politischen Bedingungen im Land verändert. Weniger wegen der Gewalt und den Folgen, sondern wegen der außergewöhnlichen politischen Stärke, die das Genua Social Forum aufzubauen und zusammenzuführen vermocht hat. Daher wurde aus dem Kampf gegen die G 7 auch ein Kampf gegen Berlusconi und seine Politik. Er hat es selbst gewollt, denn er hat diese Konferenz zum Symbol seiner "politischen Meisterschaft" erhoben.

Die Opposition bestand nicht aus der früheren Regierungslinken noch aus der CGIL (Gewerkschaftsbund, Mitglied im BEG), sondern aus einem weitreichenden "Bündnis gegen die kapitalistische Globalisierung", an dem sich auch kämpfende Teile der Gewerkschaften beteiligt haben, was eine außergewöhnliche Mobilisierung von SchülerInnen und StudentInnen, Arbeitslosen und Ausgegrenzten ermöglicht hat. Das GSF hat große politische Reife bewiesen, weil es die verschiedenen Tendenzen zusammenschweißen konnte, ohne die Unterschiede in den Forderungen und Aktionsformen zu verwischen; die Bewegung reichte von bedeutenden Teilen der Kirche über die von Linken geführte Metallergewerkschaft FIOM bis hin zu sehr radikalen politischen Gruppen. Am spektakulärsten war die Mobilisierung der "Roten", der nationalen und internationalen radikalen Linken; dies war vor allem wegen der aktiven Rolle von Rifondazione Comunista (PRC) möglich. Der Zug ihrer Jugendorganisation war von beeindruckendem Kampfeswillen und die PRC stellte ihre ganze Infrastruktur der Mobilisierung zur Verfügung. Sie stellte mindestens ein Drittel der auf 200.000 bis 250.000 geschätzten TeilnehmerInnen. Der Führer der PRC, Fausto Bertinotti, entwickelte eine politische Linie, die einer radikalen und pluralistischen Linken "würdig" war: Er respektierte als Teil der Bewegung völlig deren Autonomie; er gab dem äußerst starken Druck des bürgerlichen Staates nicht nach, er begriff die Radikalisierung der Jugend mit ihrer eigenen politischen Kultur und ihren Aktionsweisen. Die PRC konnte sich als antikapitalistische und antiimperialistische Partei vorstellen.

DIE "ANTIGLOBALISIERUNGSBEWEGUNG" ALS ZÜNDER

Der nicht zu unterschätzende, ja historische Beitrag der Antiglobalisierungsbewegung liegt darin, das Gefühl der Resignation und der Ohnmacht aufgebrochen zu haben, das sich in der Bevölkerung und bei den Parteimitgliedern weithin breit gemacht hatte, und den Widerstandshandlungen, die nie abgerissen waren, einen Zusammenhalt und eine Perspektive gegeben zu haben. Nach der Niederlage des Proletariats auf internationaler Ebene schien die Sackgasse total und von Dauer zu sein: Es kam zu einer historischen Krise der ArbeiterInnenbewegung und den sie dominierenden Strömungen (Sozialdemokratie, Stalinismus, antiimperialistischer Populismus), zu tiefen Zweifeln an der Möglichkeit des Sozialismus, zu einem beinahe Verschwinden der revolutionären Linken. Man konnte sich die Frage stellen, wohin die neoliberale Flutwelle noch gehen würde. Und vor allem, woher sollte der Funke kommen, das grundlegende Ereignis von universaler Reichweite, das den zwei bleiernen Jahrzehnten ein Ende setzen würde. Die Antwort war die Antiglobalisierungsbewegung!

Diese Feststellung mag erstaunen, denn wie 1968 kam der Zünder von außerhalb der traditionellen ArbeiterInnenbewegung. Und neuerlich ist er mit einer Radikalisierung der Jugend verbunden. Damals war es der massive Aufbruch der studentischen Kampfesbereitschaft unter Bedingungen der Prosperität und des Optimismus, die auf die Arbeitenden einwirkte, deren Zusammenhalt und Kampfesbereitschaft noch von den mächtigen Apparaten der Gewerkschaften und sozialistischen oder kommunistischen Parteien gelähmt werden konnte. In einigen Ländern kam es damals zu Generalstreiks und Mobilisierungen der Bevölkerung, ja zu revolutionären bzw. vor-revolutionären Situationen. Die sozialistische Revolution stand auf der Tagesordnung. Die radikalisierte Jugend zog die Schlussfolgerung, sich mit der ArbeiterInnenklasse verbinden und neue marxistische und revolutionäre Parteien aufbauen zu müssen.

Heute ist alles viel schwieriger, komplizierter, zerbrechlicher. Zunächst sind wir weiterhin der allgemeinen Offensive des Kapitals ausgesetzt. Sodann hat die traditionelle ArbeiterInnenbewegung, dreißig Jahre nach 1968, weitere Etappen in ihrem Niedergang durchlaufen. Sie hat mittlerweile jeden Anspruch auf Selbstemanzipation und globale Infragestellung des Kapitalismus, jede Entschlossenheit, über Tagesforderungen hinauszugehen und verbreitete Erwartungen in der Gesellschaft aufzunehmen (Frauen, Dritte Welt, Krieg und Frieden, Ökologie, Internationalismus) aufgegeben. Ihre Anziehungskraft auf die Jugend liegt fast bei Null. Schließlich haben seit 1980 zwei Generationen von jungen Leuten die neoliberale "Kultur" des Individualismus, der Entpolitisierung, des Konsumdenkens, des Karrierismus usw. durchlaufen, die Faszination neuer Technologien und ihre Versprechungen auf eine glänzende Zukunft erlebt. Die Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung entstand aus der Verneinung, aus dem Schmerz, unter der Peitsche schreckliche Rückschritte auf allen Ebenen.

DER DURCHBRUCH VON SEATTLE...

Der eigentliche Auslöser war die "Entdeckung", dass eine "entschlossene" Massenbewegung, die gegen internationale Institutionen vorging, das "Funktionieren" des globalisierten Kapitalismus in Schwierigkeiten bringen konnte. Darin liegt die Bedeutung von Seattle. Es gab Vorläufer; so mobilisierten die "Euromärsche" im Juni 1997 50.000 Menschen gegen den EU-Gipfel nach Amsterdam. Der Fehlschlag jenes Gipfels und die Brutalität der Polizei sowie die Untätigkeit des Europäischen Gewerkschaftsbundes machten daraus ein Weltereignis, das CNN überallhin verbreitete. Der erste "symbolische Sieg" über die Instanzen der Globalisierung war die Menschenkette um den Pariser OECD-Sitz, die die französische Regierung zwang, das MAI-Abkommen abzublasen.

Seit der Schlacht um Seattle hat das neue Bewusstsein, auf den globalisierten politischen Rahmen einwirken zu können, zu Offensivgeist und politischer Entschlossenheit geführt, was wiederum eine Zunahme von Erfahrungen und von AktivistInnen bewirkt hat. Über das Internet hat sich dieser neue Geist schnell über die ganze Welt verbreitet. Er hat einerseits zu einer Stärkung und Vermehrung von lokalen und nationalen Initiativen geführt, aber auch, anlässlich "globaler" Ereignisse, zu einem Zusammentreffen der Kader der noch fragmentierten und zerstreuten Bewegung.

In den USA kam es zu einem Zusammenfluten zwischen einer sich radikalisierenden Jugend und einer massiv an Einfluss verlierenden Gewerkschaftsbewegung, die sich 1995 mit der Bitte an die StudentInnen gewandt hatte, ihr bei der Neuorganisierung zu helfen.

...UND SEINE QUELLEN

Seattle fiel nicht vom Himmel; es gab auch ein vor-Seattle. Diese Bewegung musste "von unten" in vielen kleinen Aktionen aufgebaut werden, bis die Macht der kapitalistischen Globalisierung eine Dynamik des Zusammenführens dieser Ansätze bewirkte. Nun hatten bereits wagemutige Initiativen die Aufmerksamkeit eines größeren Publikums auf internationaler Ebene auf sich gezogen: Genannt seien die spektakuläre Erinnerung an den Sturm auf die Bastille 1989 in Paris, wo die Streichung der Schulden der Dritten Welt verlangt wurde, was in Belgien zur Gründung des CADTM (Komitee zur Schuldenstreichung) führte; die Zapatistische Bewegung und ihre internationalen Konferenzen seit 1994; die Initiative von Le Monde Diplomatique für die Einführung der Tobin-Steuer, die schließlich zur Gründung einer wichtigen Organisation, ATTAC-Frankreich geführt hat.

Zahlreiche weniger spektakuläre Bemühungen haben das Terrain bereitet. Zunächst gab es da die Arbeit von Intellektuellen, die der Bewegung eine solide Grundlage und den AktivistInnen großes Selbstvertrauen und Autorität in den Medien verschafft haben und die sie schließlich gegenüber den Ideologen des Neoliberalismus in die Offensive brachten. Vergessen wir nicht, dass diese Ideologen die Universitäten, die Medien, die Schulen und sogar die Studien- und Bildungseinrichtungen der traditionellen ArbeiterInnenbewegung massiv dominierten. Schon vor Seattle konnte sich die Bewegung wegen der Anzahl, der Pluralität und der Qualität dieser Arbeiten als recht starke Diskursposition konstituieren und damit die Neoliberalen zu einer Diskussion zwingen, die eigentlich nicht sein sollte. Besonders außergewöhnlich ist bis heute, dass es sich um eine Polarisierung handelt: Bis jetzt ist keine ausgearbeitete (etwa sozialdemokratische) Zwischenposition aufgetaucht. Die Sozialdemokraten (wie auch die regierenden KPen) konnten bislang den Rückstand nicht aufholen, der sie an den Rand, ja aus der Bewegung hinausdrängt. Diesen "kulturellen" Sieg darf man bei der Entwicklung einer kämpferischen Dynamik nicht gering achten. Vor allem in Frankreich hat dieses neuerliche Engagement von Intellektuellen "auf der Linken" stattgefunden. Dem lag die Klassenkampfbewegung der Arbeitswelt zugrunde, nämlich die Streikbewegung vom Winter 1995 gegen die Regierung Juppé.

Sodann gab es einen "mikrosoziologischen" Generationenfaktor. Zwanzig Jahre Entpolitisierung, Entideologisierung und Demobilisierung haben die Jugend entmutigt, sich mit politischen Dingen zu beschäftigen; sie haben ihre Energie in die Markt- oder Privatsphäre umgelenkt. So begann die Bewegung dank der sehr dünnen Schicht von "Übriggebliebenen" aus der 68-Generation, die damals ja stark und zahlreich gewesen war. Diese Leute haben sich wieder engagiert, doch diesmal in einem "lockeren" organisatorischen Rahmen im Vergleich zu den revolutionären Organisationen von damals. Sie ergriffen jene "zweite Chance" und brachten ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihr Können ein. In diesem geselligeren und offeneren Rahmen und mit der Orientierung auf einige Überlebensbedingungen der Menschheit, verbanden sie einige zugespitzte Vorschläge mit theoretischen und analytischen Debatten und kamen so mit den ersten "Engagierten" aus den jüngeren Generationen in Kontakt, die die Vorläufer einer neuen Jugendradikalisierung auf dem ganzen Planeten waren. Man kann diese außergewöhnliche Dynamik und den Erfolg der recht schwächlichen Einheitsbestrebungen der Bewegung, die in den Augen von übelwollenden Medien "ohne Zusammenhalt und chaotisch" war, gar nicht anders erklären. Das Genua Social Forum stellt das fortgeschrittenste Beispiel für diese Entwicklung dar.

Schließlich ging Seattle eine wachsende Aktivität von Kampagnen, Kolloquien und Demonstrationen anlässlich der Treffen der internationalen Institutionen voraus. Die Bewegung dehnte sich auf immer mehr Länder aus und begünstigte jedesmal eine zunehmende Beteiligung von "lokalen" Organisationen; gleichzeitig festigten sich die Bindungen zwischen den "internationalen" aktiven Kernen. Die "Bewegung gegen die (neoliberale oder kapitalistische) Globalisierung" ist auf ihre Art und Weise organisiert, und zwar im Hinblick auf ihre Aktivitäten. Der Beweis wurde in Porto Alegre beim Weltsozialforum (Jan./Febr. 2001) in aller Deutlichkeit geliefert, als das Davoser Weltwirtschaftsforum (also die weltweite Business Class) auf jene Entfernung eine Diskussion führen wollte. Porto Alegre stellte auf der Ebene der Organisationen das Äquivalent zu Seattle dar. Es hätte nie stattfinden können ohne die beschleunigte Abfolge von Gegendemonstrationen in Köln (Juni 1999), Bangkok (Febr. 2000) und Genf (Juni 2000). Im Verlauf der Entwicklung haben sich die ersten wirklichen sozialen Bewegungen und Gewerkschaften angeschlossen (ATTAC, an der auch wichtige Gewerkschaften beteiligt sind, Via Campesina, die koreanische KTCU).

Diese drei Faktoren haben, bei all ihren Schwächen, der Bewegung ausreichende Kraft verschafft, um in Seattle von einer Bewegung einer Meinung zu einer mobilisierungsfähigen Bewegung überzugehen, die für praktische politische Ziele kämpfen kann. Wir dürfen allerdings nicht verbergen, dass unsere Erfolge auch der Schwäche unseres Gegners geschuldet sind, und dies trotz der unerhörten materiellen Mittel, über die er gebietet. Die zunehmenden Widersprüche zwischen den drei Machtblöcken (USA, EU, Japan) entwickeln sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion massiv weiter. Die Globalisierung des Kapitalismus ist in ihrer heutigen Form wegen der zahllosen Deregulierungen und dem steigenden Gewicht wie auch der Volatilität des Finanzkapitals von einer endemischen Instabilität begleitet. In diesem Rahmen verfügen die internationalen Organisationen des Großkapitals um so weniger über Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung, wie sie die Verantwortung für die seit einem halben Jahrhundert unsozialste Politik auf sich nehmen müssen. Seit kurzem traten die nicht mit den "Bündnispartnern" abgesprochene Außenpolitik der neuen Bush-Administration und die aus kapitalistischer Sicht sich ausbreitende Ineffizienz von IWF und Weltbank hinzu.

In Genua passierte etwas völlig Unerwartetes: Die politische Konfrontation wurde jedes konkreten politischen Inhalts entledigt. Die Tagesordnung der G 7 war das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt stand. Es ging einfach um die Abhaltung des Treffens und seine mediale Verwertung, kurzum, sich als internationale Führung zu präsentieren. Dies wurde von den DemonstrantInnen insgesamt angegriffen, wobei sie nun die programmatischen Errungenschaften und konkretisierten Forderungen in die Waagschale werfen konnten. Es ging um ein kolossales Ziel: um die Gewinnung der Gunst der öffentlichen Meinung.

DIE GEGENATTACKE DES IMPERIALISMUS

Seit der Schlacht um Genua ist nun die Gewaltfrage in den Medien und in den Diskussionen in der Bewegung allgegenwärtig. Wir wissen, woher das kommt: In Seattle war die US-amerikanische Regierung mit besonders brutaler Gewalt gegen die Demonstration mit ihrer Taktik des gewaltfreien Widerstandes vorgegangen. Die Taktik der DemonstrantInnen erwies sich als erfolgreich: Die Konferenz konnte lange nicht tagen (und scheiterte an den Widersprüchen zwischen den großen Blöcken). Seither haben die herrschenden Klassen das Ausmaß der Herausforderung begriffen. Sie wissen um die Instabilität des Systems, die geringe politische Legitimation und die Schwächung der sozialen Kontrolle über die arbeitenden Massen und gehen nunmehr von der Möglichkeit aus, dass es zu großen gesellschaftlichen Explosionen, zu Aufständen in den Städten, zu Bauernaufständen usw. kommen könnte. Seattle ließ bei ihnen einen tiefen Schrecken zurück. Sie reagierten, indem sie versuchten, eine Taktik zu entwickeln, um eine kritische Bewegung noch "im Ansatz ersticken" zu können, die man sonst nicht in den Griff bekommen konnte, weil es an den üblichen "vertrauten Vermittlern" fehlte.

Ihr strategisches Schema besteht im Versuch, die Bewegung durch eine Kombination von zwei Elementen zu spalten: die Kriminalisierung aller politisch radikalen Strömungen und die Abtrennung und Gewinnung von allen Strömungen, die zu einer Zusammenarbeit bereit sind, so wie man es schon immer mit den Führern der klassischen Arbeiterbewegung, den Parteien und Gewerkschaften gemacht hat. Damit jedoch die "Klassenzusammenarbeit" funktionieren kann, muss man zunächst der Radikalisierung die Spitze brechen und die antikapitalistischen Strömungen abdrängen, die sich häufig in der Initiative und an der Spitze der Bewegung befinden. Dies ist ohne eine grundlegende Änderung der politischen Ausrichtung schwierig, die von der Vorherrschaft des Neoliberalismus abgehen müsste; außerdem fehlt es an gemäßigten politischen Strömungen. Aus diesen Gründen überwiegt heute die Brutalisierung.

Die Gewalthandlungen in Prag waren offensichtlich ein Sonderfall (weil der Staatsapparat aus einer stalinistischen Bürokratie hervorgegangen ist, die nie gelernt hat, abgestuft zu reagieren und weil die einheimische ArbeiterInnenbewegung sich kaum beteiligt hat). In Nizza war die Regierung Jospin insgesamt vorsichtig, sie hat Schengen aufgehoben und ansonsten der Gewerkschaftsbürokratie vertraut. In Göteborg wurde hingegen der erste Versuch unternommen, der im Rahmen der EU vorbereitet worden war. Die Massendemonstration verhielt sich friedlich, der Vandalismus des "Schwarzen Block" blieb isoliert und toleriert. Doch am Abend begann die Kriminalisierungskampagne der Bewegung mit aller Macht in ganz Europa und hielt über Wochen an. In dieser Kontinuität bereiteten die herrschenden Klassen in Europa Genua vor, zusammen mit der US-Regierung. Die Regierung Berlusconi sollte diese Strategie in die Tat umsetzen. So wurde Genua zu einem wahren und groß angelegten Testfall gemacht, ein Großversuch, die Bewegung mittels staatlicher Gewalt zu bändigen. Dieses Projekt wurde von der europäischen Sozialdemokratie, die insbesondere in Frankreich, Deutschland und in Großbritannien in der Regierung sitzt, vorbereitet, bis die italienischen Kollegen dann nach der Wahlniederlage im Mai Berlusconi Platz machen mussten. Man würde ihm zuviel Ehre erweisen, würde man das Projekt Berlusconi zuschreiben. Es war die "neue" italienische Sozialdemokratie (SD, Linksdemokraten, die ex-PCI), die das taktische Projekt der EU für die Demonstration in Neapel im März 2001 entwickelt hat; dies war die Generalprobe für Genua. Sie hatte sich die "geeigneten Mittel" verschafft, als sie die Chefs der verschiedenen Repressionsapparate absetzte und Vertrauenspersonen in Stellung brachte. Sie hatte sich auch geweigert, vor der Demo mit dem GSF zusammenzukommen. Sie hatte die symbolische Bedeutung des G-7-Treffens über alle Maßen durch einen aufgeblähten Organisationsapparat übertrieben. All dies hat Berlusconi als Geschenk erhalten! Er ist dann zum Manöver einer Annäherung an das GSF übergegangen, um dessen innere Widersprüche auszunützen und zu versuchen, es zu sprengen oder ihm aufzuerlegen, die Bewegung zu disziplinieren. All dies war von einer besänftigenden Rhetorik vor allem von Seiten des Außenministers Ruggiero begleitet, der tönte: "Wir stimmen alle im Ziel, der Dritten Welt zu helfen, überein, nur nicht in den Mitteln"! Das Ergebnis ist bekannt: Berlusconi wandte die von der Europäischen Union ausgearbeitete Gewaltstrategie an, wobei er selektiven Terror und Folterungen hinzufügen ließ. Doch gab es bei einem politischen Kampf zwischen der Führung des Imperialismus und einer aufmüpfigen Massenbewegung niemals eine solche Transparenz und ein so weltweites Echo.

Teil II im nächsten Heft.
Übersetzung und Bearbeitung: Paul B. Kleiser



Dieser Artikel erscheint in Inprekorr Nr. 360 (Oktober 2001).