Afghanistan

"Alle sind angewidert von den Taliban"

Adil ist führendes Mitglied einer kleinen linken Organisation in Afghanistan, der Afghanistan Labour Revolutionary Organization. Er selbst lebt im Exil. Vom 16. bis 19. September war er in Jilalabad, um die Stimmung zu spüren und mit den Mitgliedern seiner Partei die künftige Strategie zu beraten. Wir sprachen mit ihm nach seiner Rückkehr.

Interview mit Adil

Wie ist die Lage in Afghanistan?

Am 16. September bin ich nach Afghanistan gereist und kam in Jilalabad an. Die Stadt war in einem erschütternden Zustand. Alle sprachen nur davon, Afghanistan so schnell wie möglich zu verlassen. Um nach Peshawar zu kommen, braucht man mindestens 200.000 Afghanis (4 DM). Dann braucht man noch mal 500.000 Afghanis, um die pakistanischen Grenzer zu bestechen, dass sie einen durchlassen. Jeder, der diesen Betrag aufbringen kann, verschwindet. Das Durchschnittsgehalt eines afghanischen Regierungsangestellten beispielsweise beträgt derzeit etwa 300.000 Afghanis pro Monat. Ein Tagelöhner in Jilalabad bekommt ungefähr 10.000 bis 20.000 Afghanis am Tag (20 bis 40 Pfennig). Es herrscht also fürchterliche Armut in allen Teilen Afghanistans. Sechs Monate Lohnrückstand sind ganz normal. Die Leute haben das Taliban-Regime restlos satt. Sie können es nicht offen sagen, aber sie sind sich sehr sicher, dass das Regime abtreten wird. Die meisten Läden und Handelsgesellschaften in Jilalabad waren geschlossen. Niemand will mehr irgendwelche Geschäfte in der Stadt machen. Sie liegt wie verlassen da.

Wie stark sind die Taliban militärisch?

Die Taliban verfügen über etwa 20.000 Bewaffnete. Sie haben ihren besten Freund Pakistan verloren, und darum steckt ihre Streitmacht jetzt in Problemen. Über 25.000 Bewaffnete unterstützen hingegen Ussama. Außer aus Pakistan kommen sie aus China, Algerien, Nigeria und vielen anderen arabischen Ländern. Wenn die Taliban sagen, dass sie Ussama nicht an die Amerikaner ausliefern wollen, dann hat das nichts mit ihrem Mut oder ihrer Treue zum Islam zu tun - sie können ihn gar nicht ausliefern, weil er mehr islamische Kämpfer hat als die Taliban.

Wie steht das Volk zu den Taliban?

Absolut gesehen haben sie Unterstützung verloren. Die Menschen, mit denen ich in Jilalabad gesprochen habe, waren offen gegen die Taliban. Ich denke, es sind nur noch die Talibs (die radikalen Koranschüler), die sie unterstützen. Niemand sonst unterstützt sie noch in Afghanistan. Sie sind das unpopulärste Regime, das Afghanistan je in seiner Geschichte hatte. Sie werden, wenn die Amerikaner kommen, ihre Macht nicht so sehr wegen des Militärangriffs verlieren, sondern weil sie keine soziale Basis haben. Es ist anders als die Lage, als die Russen nach Afghanistan kamen. Viele Menschen in Afghanistan waren damals gegen sie. Auch die Amerikaner und die Pakistani waren gegen sie. Heute ist das ganz anders. Sie können sich nicht lange verstecken. Sie sind dazu verdammt, ihre Macht zu verlieren. Die Taliban sind die bösartigste und brutalste Regierung aller Zeiten. Wir waren gegen sie von Anfang an. Aber die Amerikaner und Pakistani haben sie von Anfang an unterstützt. Heute sagen sie, dass die Taliban-Regierung nicht gut ist, wir haben das vom ersten Tag an gesagt.

Gibt es Differenzen innerhalb der Taliban?

Innerhalb der Führung des Taliban-Regimes gibt es drei Richtungen. Eine ist die fundamentalistischste von allen; sie ist absolut dagegen, Ussama an die Amerikaner auszuliefern. Eine zweite große Gruppe ist für die Auslieferung. Die dritte schwankt zwischen den anderen beiden Gruppen. Es war diese dritte Gruppe, die sich kürzlich mit der Entscheidung durchgesetzt hat, Ussama solle das Land freiwillig verlassen. Das Problem ist, dass alle drei Gruppen kleiner als die Armee von Ussama sind. Ussama ist der wahre Herrscher von Afghanistan, nicht die Taliban.

Aus welchen Kräften besteht die Nordallianz?

Die Nordallianz hat eine sehr gemischte Zusammensetzung. Abdul Rashid Dostum, der Führer der "Junbash Milli Islamia" (Islamische Nationalbewegung) war ein enger Verbündeter von Babrak Karmal und Dr. Najibullah, den früheren Herrschern Afghanistans, die von den Russen unterstützt wurden. Er ist kein Fundamentalist und repräsentiert die Völker der Usbeken und Turkmenen in Afghanistan. Ein anderer Bestandteil der Nordallianz ist die Partei von Professor Siaf, die "s Itehad Islami Afghanistan" (Islamische Einheit Afghanistan). Sie ist die fundamentalistischste Partei in der Allianz. Dann gibt es noch die Partei von Ahmed Shah, die "Shoora Nizaar" (Islamische Vereinigung).

Dieselben Leute, die hinter dem Anschlag vom 11. September stecken, haben ihn am 9. September umgebracht. Ahmed Shah Massud wurde getötet, weil Ussamas Leute wussten, dass er der einzige war, der den Widerstand nach dem 11. September hätte führen können. Er wurde schon von vielen westlichen Mächten unterstützt. Er war ein religiöser Fanatiker, aber hatte sich in letzter Zeit mehr rechts orientierten Positionen zugewandt. "Hizb Wahdat Islami" ist eine weitere Partei, die Bestandteil der Nordallianz ist.

Die Allianz ist mitten in den Vorbereitungen für einen Angriff gegen die Taliban. Nach dem 11. September gab es bereits Kämpfe in Mazar Sharif; 80 Taliban starben, und 200 wurden gefangen genommen. Der Kampf geht weiter, so dass die Taliban schon bald Mazar Sharif verlieren könnten.

Ex-General Doostam hat bereits einige Unterstützung vom Westen und rückt vor.

Welche Rolle spielt der frühere König Zahir Shah?

Der 89-jährige Ex-König scheint die Unterstützung aller Parteien außer der Taliban zu genießen. Die schwarz-rot-grüne Flagge seiner Partei kann man zumindest in Peshawar überall sehen. Unsere Partei unterstützt ihn derzeit für eine Übergangsperiode. Die Amerikaner planen, ihm nach dem Sturz der Taliban die Macht zu übertragen, und dann soll er innerhalb eines Jahres Wahlen ausschreiben. Aber es ist klar, dass er nicht die Probleme der Menschen lösen kann. Ein persisches Sprichwort sagt: "Wenn das 'Schlechte' herrscht und etwas Gutes hervorbringt, dann ist das nicht so schlecht." Deshalb haben wir keine andere Wahl, als ihn für eine Übergangsperiode zu unterstützen.

Wie stehst Du zu einer amerikanischen Militärintervention?

Wir sind absolut gegen eine amerikanische Militärintervention. Aber wir sind für ein sofortiges Ende der Taliban-Regierung. Die Lage ist so, als hätten die Amerikaner uns einen Hund gebracht, der jetzt verrückt geworden ist. Es ist die Sache der Amerikaner, diesen Hund zu kontrollieren oder zu töten. Wir werden unseren Teil tun, diesen verrückten Hund zu jagen, der eine Gefahr für das afghanische Volk ist. Die Taliban wurden direkt oder indirekt von den Amerikanern und Pakistani unterstützt, in der Hoffnung Afghanistan zu stabilisieren; aber die Situation ist ihnen außer Kontrolle geraten.

Welche Rolle spielte Shelter International?

Das ist eine NGO, die über drei Millionen Afghanen mit Brot versorgte. Das Taliban-Regime hat sie ohne jeden Grund festgenommen. Die Lebensmittel sind weg. Jetzt hungern die Menschen. Das hat das Elend der Menschen und den Hass auf die Taliban-Regierung noch mehr verstärkt. Sie wollte die Arbeit der NGO's in Afghanistan kontrollieren. Für die normalen Afghanen ist das nicht gut ausgegangen.

Was erwartest Du von der nächsten Zukunft?

Alle sind angewidert und erschöpft vom Taliban-Regime. Sie sind angewidert vom Krieg. Viele Menschen warten auf das Ende dieser Regierung. Ich sehe keine Möglichkeit, dass sich die Taliban noch länger an der Macht halten könnten. Die Strategie der Amerikaner ist, Zahir Shah an die Macht zu bringen. Er hat bereits die Unterstützung der Nordallianz und anderer linker und rechter Parteien. Wir warten auf den Tag, an dem wir nach Afghanistan zurück können.

Das Gespräch fand am 24. September in Lahore statt. Die Fragen stellte Farooq Tariq.
Quelle: http://www.labourpakistan.org
Übers.: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 361 (November 2001).