USA

Von Afghanistan nach Zentralasien

Jetzt, wo die zentralen Achsen der imperialistischen Reorganisierung amerikanischer Politik auf Weltebene seit dem Golfkrieg und der Vorherrschaft der USA klar erkennbar geworden sind -- begleitet von den tiefen Widersprüchen in Zusammenhang mit der Durchsetzung der Globalisierung -- drängt sich eine Frage auf: Sind das "Al-Qaida-Netzwerk" und Usama bin Laden wie auch seine Unterstützer unter den afghanischen Taliban wirklich das Hauptziel der amerikanischen Militäraktion?

Charles-André Udry

Etappe Kabul?

Sicherlich, das erklärte Ziel ist ziemlich weit gesteckt: "der internationale Terrorismus". Genauer lässt sich das nur schwer eingrenzen. Auf Seiten der breiten "Koalition", die jetzt zustande gebracht wurde, wird es nicht leicht sein, Übereinstimmung darüber zu erzielen, schon gar nicht dauerhaft. Derzeit umgeht die Regierung Bush diese Problematik, indem sie eine Erklärung der Rechte der PalästinenserInnen auf einen eigenen Staat abgibt, indem sie schweigt über die in Saudi-Arabien verwurzelten hyperfundamentalistischen Netzwerke, die die Macht des mit den USA verbündeten Herrscherhauses herausfordern, und indem sie sich auf andere diplomatische Mittel verlegt, deren sich eine Großmacht üblicherweise bedient, die es gewohnt ist, ein Recht auf Einmischung auszuüben, das -- oft völlig zu Recht -- als Staatsterrorismus bezeichnet wird.

Einstimmig erklären die amerikanischen und britischen Wortführer, dass dieser "Krieg gegen den Terrorismus" lang und kompliziert sein werde. Dies gibt ihnen die Möglichkeit, die Pläne weiter auszuarbeiten, die noch den Status von Szenarien haben, und, vor allem, die imperialen Absichten zu präzisieren in einem Kontext, in dem Bush eine bis dahin kaum vorstellbare Unterstützung genießt. Wenn das erste und oberste Ziel darin besteht, Usama bin Laden "zu ergreifen" und die Taliban zu entmachten -- wobei vielleicht ein Teil von ihnen wieder mit ins Boot genommen wird --, dann scheinen die militärischen und diplomatischen Anstrengungen der USA ein wenig falsch bemessen. Oder handelt es sich vielmehr um eine Machtdemonstration zu innenpolitischen Zwecken, die der "internationalen Öffentlichkeit" einige deutliche Beweise der US- amerikanischen Handlungsfähigkeit liefert? Dies würde das genaue Timing erklären. Dieser Hypothese zufolge, die das Interventionsgebiet auf Afghanistan beschränken würde, führen die USA eine Repressionsmaßnahme durch, um sich, wenn einige Ziele erreicht sind, wieder teilweise zurückzuziehen.

Erdgas und Erdöl aus Zentralasien

Ganz im Einklang mit dieser sozusagen unmittelbaren Option könnte das Betätigungsfeld des US- amerikanischen Generalstabs weitaus vielschichtiger sein. Untersuchen wir ein erstes Teil dieses Puzzles.

Die Implosion der UdSSR hat die zentralasiatischen Republiken (Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kasachstan, Kirgisien) in eine deutlicher sichtbare Position gerückt. In seinem Buch The Grand Chessboard: American Primacy and its Geostrategic Imperatives betont Zbigniew Brzezinski in einem ganzen Kapitel, wie wichtig es sei, dass man die Kontrolle über Erdöl- und Erdgasreserven aus dem Kaspischen Meer und aus Zentralasien nicht allein den Russen und Chinesen überlässt. Die Literatur über dieses Thema -- einschließlich ihrer fiktionalen Dimension -- umfasst sicherlich Tausende von Seiten.

In verschiedenen Artikeln, die sich nach dem 11. September mit der Unterstützung der Taliban durch die USA, Pakistan und Saudi-Arabien auseinander setzen, wird immer wieder an die Pläne des amerikanischen Erdöl-Konsortiums Unocal erinnert, in denen es um den Bau einer Erdöl- bzw. Erdgasleitung von Turkmenistan durch Afghanistan bis an den Indischen Ozean geht. Dieses Projekt wird neben anderen Gründen an der prekären Lage in Afghanistan scheitern.

Ein anerkannter Spezialist für Erdöl-Angelegenheiten im Mittleren Osten, Fareed Mohamedi, hob in einem Artikel für Middle East Report die mittelfristige Wichtigkeit der Erdöl- und Erdgasreserven dieser zentralasiatischen Region hervor. Er betonte, dass die saudischen Familien an Investitionen in die fossilen Brennstoffe in einigen der neuen unabhängigen Republiken beteiligt seien.

Paul Rivlin, ein israelischer Spezialist der Erdöl-Wirtschaft, gab im Oktober 2000 folgende Empfehlung: "Den Ländern der Region muss jede mögliche Hilfestellung gegeben werden, um ihnen bei der wirtschaftlichen Entwicklung zu helfen und um Wege der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen zu finden. Eine solche Unterstützung wird es sehr viel einfacher machen, eine Pipeline für Öl und Gas zu bauen." In Turkmenistan verfolgt eine israelische Ölgesellschaft bedeutende Interessen. Eine Lektüre der seriösen Wochenzeitung Oil & Gas Journal (OGJ) während der letzten drei Monaten genügte, um einzusehen, welche unterschiedlichen Interessen an den Erdöl- und Erdgasressourcen dieser Region bestehen. Am 13. August 2001 war in OGJ zu lesen: "Russland dominiert weiterhin die Belieferung der europäischen Erdgasmärkte." Und am 10. September schrieb dieselbe Zeitung: "Zentralasien ist heute eine der wichtigsten Grenzregionen der Welt für geologische Forschungen und Analysen, die Investitionen in Entdeckung, Transport und Raffinerie enormer Erdöl- und Erdgas-Reserven möglich machen. Diejenigen, die die Lieferwege in Zentralasien kontrollieren, haben auch Einfluss auf die Lieferziele und -bewegungen, wie auch auf die Verteilung der Einkünfte aus diesen neuen Produktionsfeldern."

In diesen "Grenzregionen" geht es also sowohl um Kontrolle und Transport der Bodenschätze als auch um die strategischen Verhältnisse zwischen den USA und Russland, aber auch China -- um nur die wichtigsten Akteure zu nennen. Am 19. September fasst der Moskau-Korrespondent von The Independent, Patrick Cockburn, die Lage wie folgt zusammen: "Verteidigungsminister Sergej Iwanow erklärte kategorisch, dass es Russland nicht einmal im hypothetischsten Fall gerne sähe, wenn die USA Basen in Zentralasien für ihre Aktionen gegen Afghanistan nutzen würden. Vielleicht hat er sich etwas weit aus dem Fenster gelehnt. Denn kurze Zeit später erklärte Abdul Kamilow, der Außenminister Usbekistans, dass sein Land den USA die Nutzung seines Gebietes gestatte." Cockburn fährt fort: "Das bringt Russland in die Zwickmühle. Es könnte den USA den russischen Luftkorridor anbieten, ohne seinen Einfluss zu verlieren. Was aber, wenn die zentralasiatischen Staaten weiterhin Erklärungen verabschieden, die Russland faktisch außen vor lassen? Zum ersten Mal seit dem Kollaps der UdSSR erhalten die zentralasiatischen Staaten eine gewisse Wichtigkeit. Moskau ist ein wenig ungehalten über solche internationalen Interessen in seinem Hinterhof."

Putin hat die Zusammenarbeit mit den USA gewählt. So wird Russland nicht nur seinen Krieg in Tschetschenien mit dem Segen oder wenigstens dem Stillschweigen von allen Seiten weiterführen können, sondern seine Präsenz im Gebiet, oder sogar seine Teilnahme an den Aktionen könnte Russland die Aufgabe der Kontrolle über Zentralasien erleichtern. Doch diese Wahl wirkte ein wenig erzwungen. Die machthabenden Cliquen in den verschiedenen Staaten spielen schon die Karte der Annäherung an die USA aus. Im Falle Usbekistans fügt sich das in eine Politik der Öffnung für Auslandsinvestitionen ins Erdölgeschäft, die sich bereits seit den Beschlüssen vom April 2000 abzeichnete. Dem islamischen Präsidenten Karimow wird dies vergolten durch Unterstützung seiner harten Repression gegen die "Islamisten".

Fuß fassen im russischen Hinterhof

Diese Projektion amerikanischer Interessen auf Zentralasien wurde kürzlich durch Michael T. Klare verdeutlicht. In Zusammenhang mit einer Änderung in der Führungsstruktur der US- amerikanischen Truppen schrieb der anerkannte Spezialist in der Mai/Juni-Ausgabe des Magazins Foreign Affairs unter dem Titel "Die neue Geografie des Konflikts": "Im Oktober 1999 verlegte das Verteidigungsministerium im Rahmen einer außergewöhnlichen Umstrukturierung der bewaffneten amerikanischen Kräfte in Zentralasien das Oberkommando für diese Region vom pazifischen Raum auf das Zentrale Oberkommando. Diese Entscheidung rief keine einzige Schlagzeile in der Presse hervor, niemanden in den USA interessierte es, und doch bedeutet sie einen wichtigen Wechsel der strategischen Orientierung der USA. Lange Zeit war Zentralasien als ein Gebiet betrachtet worden, um das man sich mehr am Rande Gedanken zu machen hatte; für das pazifische Oberkommando waren China, Japan und die koreanische Halbinsel wichtig, Zentralasien war ein angrenzendes Gebiet von sekundärer Bedeutung. Doch diese Region, die sich vom Uralgebirge bis an die Westgrenze Chinas erstreckt, hat aufgrund der großen Reserven an Erdöl und Erdgas unter dem Kaspischen Meer und im Gebiet um dieses Meer herum große strategische Bedeutung erlangt. Zieht man in Betracht, dass das zentrale Oberkommando schon heute die Truppen im Persischen Golf kontrolliert, so wird deutlich, dass die zusätzliche Kontrolle über Zentralasien der Region zukünftig anhaltende Aufmerksamkeit zuteil werden lassen wird von Seiten derjenigen, die es als ihre Hauptaufgabe sehen, den Fluss des Öls in die USA und zu deren Verbündeten sicher zu stellen. Hinter der strategischen Veränderung verbirgt sich, dass dem Schutz und der Ausbeutung der vitalen Ressourcen, vor allem von Erdöl und Erdgas, nun eine deutlich höhere Bedeutung zugemessen wird."

Diese Tatsachen legen nahe, dass das umgehende Eingreifen in Afghanistan einer gestiegenen Bedeutung dieser strategisch wichtigen Region, einem Prioritätenwechsel in der Frage der US-amerikanischen Präsenz geschuldet ist. Neue Zusammenstöße in der Region könnten daraus resultieren, umso mehr, als die nicht vorhersehbaren charakteristisch sind für die Ausbreitung von Kriegen, besonders der Kriege "neuen Typs".

Das Wall Street Journal hat die Angelegenheit genau verfolgt. Vladimir Socor bringt es auf den Punkt: "Der Kreml betonte, dass Zentralasien, bestehend aus fünf ehemals sowjetischen Provinzen, die jetzt unabhängig sind, russische Einfluss-Sphäre bleiben muss. Die USA und viele dieser Länder [in Zentralasien] stimmen ganz und gar nicht überein mit dieser Eigentumserklärung auf eine strategisch wichtige Region. Allen nachdrücklichen Versuchen zum Trotz ist es Russland nicht gelungen, Usbekistan und Kasachstan davon abzuhalten, der von den USA kontrollierten Anti-Terror-Koalition beizutreten. Russland ist es auch nicht gelungen, Turkmenistan von seiner neutralen Haltung abzubringen. Die Stationierung [amerikanischer Truppen] wäre der erste Schritt in Richtung des Aufbaus eines internationalen Sicherheitssystems für die Region unter lang anhaltender Führung durch die USA."

Hier eine Einschätzung, die sich die französische Bank BNP-Parisba im Sommer diesen Jahres noch nicht hätte vorstellen können: "Der Bau neuer Transportwege für fossile Brennstoffe zu den internationalen Märkten wird gestört durch das Spiel der regionalen oder internationalen Mächte (USA, China, Russland, Türkei), welches die Entscheidung zwischen der Logik des Handels und der Geopolitik zu einer delikaten Angelegenheit macht."

Afghanistan steht heute im Mittelpunkt großer militärischer Operationen. Und wieder wird das afghanische Volk, das schon seit vielen Jahren Opfer von Konflikten ist, in denen regionale und internationale Mächten nie gezögert haben, "Freiheitskämpfer" für sich zu nutzen, einen fürchterlichen Preis zahlen. Doch die "antiterroristische" Armada wird mittelfristig ganz anderen Zielen dienen, die sehr wenig zu tun haben mit den Lebensmittelrationen zwischen den Bomben.

Übersetzung aus dem Französischen: Georg Rodenhausen



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 364 (Februar 2002).