Interview mit Tikva Honig-Parnass, Mitherausgeberin der Zeitschrift Between the Lines, Jerusalem
Frage: Was ist das Ziel der gegenwärtigen Militäroffensive gegen die PalästinenserInnen?
Tikva Honig-Parnass: Die brutale aktuelle Militäroffensive der israelischen Armee gegen die PalästinenserInnen mit dem Namen "Operation Schutzwall" - ein typisches Beispiel für Israels Orwell'sche Doppelzüngigkeit - markiert den Beginn einer neuen Phase in einem langen Prozess, der auf die Zerschlagung der palästinensischen Nationalbewegung abzielt, die von den Intifada-KämpferInnen verkörpert wird, und der "Auslöschung der Existenz der palästinensischen Bevölkerung im Land Palästina" (Haidar Abdel Shafi in einem Interview mit Yossi Algazi in der israelischen Tageszeitung Ha'aretz vom 2. April). Das strategische Ziel des jüdisch-zionistischen Staates stimmt mit den US-imperialistischen Interessen überein, jede unabhängige nationalistische Regierung oder politische Bewegung im Nahen Osten (und ganz allgemein in der Dritten Welt) auszuschalten, die die Pläne zur kapitalistischen Globalisierung der Region behindern könnten. Das Oslo-Abkommen [1993], das unter der Regierung der Arbeitspartei, die die israelische Kapitalistenklasse vertritt, vorbereitet und unterzeichnet wurde, war ein Versuch, diese US- israelischen Ziele durchzusetzen.
Die vor zwei Wochen begonnene israelische Militäroperation signalisiert jedoch auch das Ende der bisherigen Phase des Oslo-Prozesses. Die zentrale Annahme, auf der das Bantustan-Konzept von Oslo begründet war, bestand darin, dass die Palästinensische Behörde (PA) unter Vorsitz von Jassir Arafat die Aufgabe erfüllen würde, jede Opposition zu diesem Plan zu unterdrücken. Damit sollte die palästinensische Nationalbewegung abgeschafft und eine "Kurdisierung der Palästinenserfrage" erreicht werden, um den von Azmi Bishara geprägten Begriff zu zitieren. Diese Annahme hat sich als falsch erwiesen.
Die Intifada ist gerade deshalb ausgebrochen, weil es die PalästinenserInnen ablehnen, die ihnen mit Oslo zugewiesene Rolle zu spielen und die demütigenden Vorschläge Clintons und Baraks in Camp David und Taba zu akzeptieren. Sie zeigt das Erwachen der Kräfte der nationalen Volksbewegung, die während der sieben Jahre seit Oslo zu schlummern schienen. In dieser Zeit wurden die gesamten seit 1967 besetzten Gebiete mit Siedlungen übersät und von Umgehungsstraßen durchzogen, die eine zentrale Voraussetzung für die Durchsetzung des zukünftigen zerstückelten Bantustan-Staates sind. Doch die Intifada, die von allen politischen Organisationen der PalästinenserInnen einschließlich der Fatah getragen und fast von der ganzen Bevölkerung unterstützt wird, markiert einen Ausbruch aus dem Rahmen von Oslo und den Versuch, eine Alternative zu den "Friedensverhandlungen" zu entwickeln, die sich als bloßer Deckmantel für die Fortsetzung der israelischen Besatzung entpuppt hatten. Die gesamte Bevölkerung mit ihren populären, im Land selbst aufgewachsenen Führern, die gegen die Besatzung kämpften, sind nun zum Weg des Widerstands zurückgekehrt, der gleichzeitig eine kritische Haltung gegenüber der bürgerlichen, aus Tunis zurückgekehrten bürokratischen Führung und der autoritären Regierung, die unter ihrer Herrschaft entstanden ist, bedeutet.
Diesen Befreiungskampf will die Regierung Sharon mit ihrer gegenwärtigen Offensive um jeden Preis zerstören. Das erklärte Ziel der "Zerschlagung der terroristischen Infrastruktur" hat nichts zu tun mit der vorausgeplanten systematischen Zerstörung der bescheidensten Infrastruktur, die für den Alltag nötig ist, wie die Ministerien und Institutionen der Palästinensischen Behörde (PA), Straßen, Krankenhäuser, Schulen, Strom- und Wasserversorgung sowie Häuser der Zivilbevölkerung. Israel hat in Wirklichkeit den PalästinenserInnen als ziviler, nationaler Einheit den Krieg erklärt und beschlossen, mit Arafat, einem Symbol der nun angegriffenen Nationalbewegung, sowie der PA, die ein Produkt des Oslo-Abkommens ist, abzuschließen.
Sharon hat es abgelehnt, der Aufforderung von US-Präsident Bush zur sofortigen Einstellung der Operation nachzukommen und sich auf die Gebiete zurückzuziehen, in denen die israelischen Truppen vor der "Operation Schutzwall" stationiert waren. Es scheint, dass selbst der Versuch von US-Außenminister Colin Powell, einen Waffenstillstand auszuhandeln, zum Scheitern verurteilt ist und dass er Sharon seine "Operation vollenden" lassen wird, bis dieser "die Infrastruktur des Terrors" zerschlagen hat. Das deutet darauf hin, dass Israel innerhalb der Grenzen, die die Vereinigten Staaten seiner Politik setzen, relativ freie Hand hat, den Zeitpunkt und die Methoden zu wählen, um die gemeinsamen strategischen Ziele beider Staaten durchzusetzen.
Mit der Nach-Oslo-Ära kehrt Israel zu einer neuen Form von direkter Kolonialherrschaft zurück. Dieses Mal versucht Israel allerdings klugerweise, "in der A-Zone nur die Verantwortung für die Sicherheit zu übernehmen" (nachdem die B- und C-Zonen, die 82 Prozent der Westbank umfassen, bereits unter israelischer Sicherheitskontrolle stehen) und den PalästinenserInnen - offensichtlich unter den erdrückenden Bedingungen, die Israel ihnen auferlegt - die Verantwortung für die Sicherung der täglichen Bedürfnisse zu überlassen, wie der renommierte politische Kommentator der Zeitung Ha'aretz, Akiva Eldar, am 11. April schreibt. Wie Sharon betont, wird diese Situation andauern, bis "eine verantwortungsbewusste alternative palästinensische Führung" gefunden ist, die offenbar nur auftauchen kann, wenn die palästinensische Nationalbewegung ausgelöscht ist. Die Öffnung von Sharons Regierung zur extrem rechten Nationalreligiösen Partei - deren Vorsitzender inzwischen der fanatisch-messianische (Reserve-) Brigadier Efi Eitam ist, der offen für den "Transfer" eintritt - und zu David Levi ("Gesher"), zusammen mit dem bevorstehenden Wiedereintritt des rechten Extremisten Avigdor Liberman soll in der Regierung unabhängig von der Haltung der Arbeitspartei die Mehrheit für die Durchsetzung des Wiedereroberungsplans sichern.
? Wird es der israelischen Regierung gelingen, alle palästinensischen AktivistInnen festzunehmen oder zu töten?
THP: Wir müssen aufpassen, den Israelis nicht in die Hände zu spielen, indem wir den brutalen Angriff auf die Zivilbevölkerung und Infrastruktur so darstellen, als hätte sie nur zum Ziel, vermutete "Terroristen" zu fangen, die die Armee entsprechend einer ihr vorliegenden Namensliste identifizieren kann. Wie die Israelis selbst betonen, geht es ihnen um die "Infrastruktur des Terrors", was ein sehr unscharfer Begriff ist, der politische Führer ebenso einschließt wie militärische Befehlshaber wie Marwan Barguti (Fatah) [der kurz nach Beendigung dieses Interviews verhaftet wurde] und Ahmed Sa'adat, Generalsekretär der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), der sich zur Zeit im belagerten Hauptquartier von Jassir Arafat versteckt hält. Die israelischen Medien bemühen sich beispielsweise, wenn sie von getöteten Palästinensern sprechen - was selten genug geschieht -, zu betonen, dass diese "bewaffnet" waren, als rechtfertige die Beteiligung von Zivilpersonen an der Verteidigung ihres Lagers oder ihrer Nachbarschaft, sie als "Terroristen" zu bezeichnen.
Natürlich war es eines der Ziele des militärischen Angriffs, die "meist gesuchten" Personen zu erwischen. Offiziellen israelischen Berichten zufolge finden sich unter den Hunderten in den ersten zwei Wochen der Invasion Getöteten und viertausend Verhafteten (von denen bisher tausend wieder freigelassen wurden) dreihundert Gesuchte. Doch auch Erfolge bei der Verhaftung dieser Aktivisten und die Zerstörung einiger "Waffenfabriken" kann den Widerstand einschließlich der Militäroperationen und der Selbstmordattentate nicht aufhalten, wie die beiden letzten Selbstmordanschläge in Haifa und Jerusalem und die bewaffneten Angriffe auf SiedlerInnen und Soldaten gezeigt haben. Sie wurden verübt, während die israelische Militäroffensive noch immer im Gang ist. Ein hochrangiger Militärbefehlshaber schätzt, dass die Infrastruktur des "Terrors" in vier Monaten wieder aufgebaut sein kann. Wie israelische Kommentatoren betonen, ist damit absehbar, dass die Armee demnächst wieder in die palästinensischen Städte (aus denen sie sich zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht zurückgezogen hat) und in die gesamte A-Zone zurückkehren und eine noch brutalere Militäroffensive durchziehen könnte als jetzt. Sie könnte Sharon die Möglichkeit bieten, den PalästinenserInnen endlich den "großen Schlag" zu versetzen, der auch den Norden in Brand legen und Israel damit den Vorwand liefern könnte, ein für alle Mal mit dem Palästinenserproblem aufzuräumen.
? Ich nehme an, langfristig will die israelische Regierung den Druck auf die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung erhöhen, um sie zum Verlassen des Landes zu drängen. Ist es das, was die Regierung versucht, nämlich die Politik des Tranfers umzusetzen, ohne sie beim Namen zu nennen?
THP: Die Politik, das Leben der PalästinenserInnen so unerträglich zu machen, dass sie entweder aufgeben oder das Land verlassen, wurde von allen israelischen Regierungen, sowohl vom Likud-Block als auch von der Arbeitspartei, verfolgt. Dennoch hat Sharon seinen Plan, die "stürmischen Umstände" eines bevorstehenden, vorbereiteten "großen Schlags" für seinen Plan einer Massenvertreibung der PalästinenserInnen zu nutzen, nie öffentlich angekündigt. Bis vor rund zwei Jahren wurde der ausdrückliche Ruf nach "Transfer" als "barbarische" Vorstellung betrachtet, die nur in marginalen messianischen Kreisen akzeptiert war. Das ist heute nicht mehr so. Das vereinigte Kabinett Sharon-Peres hat die "Transfer-Partei" Moledet in die Regierung aufgenommen, deren Vorsitzender (Gandi) von Mitgliedern des militärischen Flügels der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) umgebracht worden war. Auch die kürzlich beschlossene Regierungsbeteiligung des bereits erwähnten Reservegenerals Efi Etam, der zum Transfer der PalästinenserInnen aufruft, und sein Eintritt in das "Sicherheitskabinett" reicht der Arbeitspartei noch nicht, um aus dieser extrem rechten Regierung auszutreten.
Der Transfer der PalästinenserInnen ist sogar zu einem legitimen Diskussionsthema der israelischen Medien und verschiedener akademischer Kreise und Forschungszentren geworden. Diese Pläne sehen selbst die Ausweisung der palästinensischen BürgerInnen Israels vor, deren nationale Identität und Solidarität mit dem Befreiungskampf ihrer Brüder und Schwestern in den 1967 besetzten Gebieten sich rasch gefestigt hat. In ihren Forderungen hat sich sogar ein völliger Wandel hinsichtlich der Beziehung zwischen der palästinensischen Minderheit und dem jüdisch-zionistischen Staat vollzogen. Sie stehen unter dem Einfluss der Bewegung des Nationaldemokratischen Bündnisses (Tajamu) und begnügen sich nicht mehr damit, nur ihre staatsbürgerliche Gleichstellung zu fordern, sondern fordern auch die Anerkennung ihrer kollektiven Rechte als eine nationale palästinensische Minderheit.
Diese Forderung bedeutet eine echte Herausforderung für das Selbstverständnis Israels als "jüdischer Staat", den fast die gesamte jüdische Bevölkerung Israels als das Wesen des Zionismus versteht und der selbst unter den Kräften, die als "Linke" bezeichnet werden, wohlwollende AnhängerInnen findet, die sich mit diesem Konzept identifizieren. Die vorherrschende Interpretation der Definition des "jüdischen Staates" ist die einer zahlenmäßigen Mehrheit von Juden/Jüdinnen, die als notwendige Voraussetzung für den Erhalt der "jüdischen Identität" Israels angesehen wird und deren Nichtrespektierung die Identität des gesamten jüdischen Volk bedrohe. Diese Interpretation führt ihre AnhängerInnen und selbst jene Kräfte in der zionistischen "Linken", die ernsthaft an eine Zweistaatenlösung glauben, zwangsläufig zur Unterstützung einer Politik, die durch verschiedene Unterdrückungsmaßnahmen die "demographische Gefahr" einer palästinensischen Mehrheit bekämpfen will. Die PalästinenserInnen sollen so weit gebracht werden, das Land zu verlassen. Selbst "unvermeidliche" ethnische Säuberungen werden dabei nicht ausgeschlossen, wie jüngste Artikel des israelischen "Friedensaktivisten" und Schriftstellers Amoz Oz oder des Historikers Benny Morris belegen.
? Welche potenziellen Verbündeten gibt es für eine langfristige Politik, die eine wirkliche Alternative anbietet? Gibt es politische Bewegungen oder Organisationen, die für eine solche Perspektive gewonnen werden können?
THP: Gegenwärtig gibt es keine politischen Kräfte unter der jüdischen Bevölkerung in Israel, die den Kampf gegen die US-israelischen imperialistischen Pläne führen könnten. Alle jüdischen politischen Parteien vertreten gegenwärtig die Interessen der Aschkenasim-Bourgeoisie, deren Hegemonie bis heute nie ernsthaft in Frage gestellt wurde. Es gibt nicht nur keinen Unterschied zwischen der neoliberalen Ideologie der Rechten und der sogenannten Linken, sondern gerade die für die Oslo-Politik verantwortliche Arbeitspartei dient ihnen als politische Heimat. Die zionistische Ideologie mit dem Konzept des jüdischen Staats in ihrem Zentrum, die in Israel als Ideologie vorherrschend ist, hat sich als wirksames Instrument erwiesen, die jüdische Bevölkerung einschließlich der ArbeiterInnenklasse hinter dem durchgängig kolonialistischen Projekt des Zionismus zusammenzuschweißen.
Die israelische ArbeiterInnenklasse ist entlang nationaler und ethnischer Grenzen gespalten. Die Mizrahim-Juden/Jüdinnen, die (zusammen mit den palästinensischen BürgerInnen Israels) die Mehrheit der einfachen Schichten des Proletariats ausmachen, haben keine unabhängige Organisation, die ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Unterdrückung Ausdruck verleihen würde. Nachdem sie in der Vergangenheit von der Arbeitspartei vereinnahmt wurden, hat nun die politische Rechte unter der Leitung der angeblichen "Mizrahi-Partei" Shas deren Erbe angetreten. Die gesamte ArbeiterInnenklasse, ob jüdisch oder palästinensisch, kann sich nicht einmal auf Gewerkschaften stützen, die für ihre grundlegenden Werte als ArbeiterInnen eintreten würden. Die ehemals mächtige Histadrut, die traditionellerweise in Zusammenarbeit mit dem jüdischen Kapital die Bedürfnisse des Zionismus erfüllt hat, dient nun vollständig den Interessen der "Großkomitees", das weitgehend mit der Aschkenasim-Elite der organisierten ArbeiterInnenklasse gleichzusetzen ist.
Was in Israel fälschlicherweise "Linke" genannt wird, bezieht sich nur auf den Teil der jüdischen Bevölkerung, der eine politische Lösung des "palästinensisch-israelischen Konflikts" mit "Konzessionen" wie dem "Rückzug zu den Grenzen von 1967" und der Schaffung eines "palästinensischen Staates" anstrebt, wobei es unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, was mit den Siedlungen passieren und wie weit Israel indirekt die Kontrolle über die palästinensische Entität behalten soll. Die meisten von ihnen haben mit ganzem Herzen das Oslo-Abkommen begrüßt und darüber hinweggesehen, dass dieses einer Bantustan-Lösung gleichkam. Selbst die "radikaleren" Teile, die eine Minderheit im Friedenslager darstellen, haben darauf verzichtet, das Wesen des Oslo-Abkommens genauer zu untersuchen. Diese Minderheit ist der Ansicht, dass Oslo gescheitert ist, weil Israel weder zur Erfüllung der Vereinbarungen noch zur Erfüllung des "Grundgedankens" des Oslo-Abkommens bereit war.
Das Friedenslager setzt sich mehrheitlich aus Angehörigen des zionistischen Mittelstands zusammen, deren Kampf für ein "Ende der Besatzung" und die Errichtung eines palästinensischen Staates (mit dem Unterschiedliches verbunden wird) im Allgemeinen losgelöst ist von jedem Kontext. Ihre Sicht ist nicht in eine umfassende antiimperialistische Perspektive eingebunden und sie verstehen und bekämpfen Israel nicht als einen Klientelstaat der USA in der Region und die USA nicht als Hauptunterstützer der israelischen Besatzung. Diese "Linken" sind auch nicht gegen die kapitalistische Globalisierung und die neoliberale israelische Wirtschaftspolitik.
Die antizionistische sozialistische Analyse hat sich zu lange hauptsächlich auf die vorherrschenden Slogans, die deklarierten Werte und das Selbstverständnis des israelischen Friedenslagers als Basis zur Erklärung ihrer politischen Haltung konzentriert und ihre Schlussfolgerungen über mögliche politische Verbündete allein auf diese Kreise gestützt. Wir haben zu oft vergessen, in unserer Analyse die grundlegende marxistische These über den Zusammenhang, der zwischen der Zugehörigkeit dieser Kreise zur dominanten bürgerlichen Aschkenasim-Klasse und ihrem Interesse am Erhalt dieser Hegemonie in Form des "jüdischen Staates" und eines das gesamte historische Palästina regierenden Bantustan-Regimes besteht, zu berücksichtigen. Ihre Klassenzugehörigkeit wie ihre zionistische Ideologie machen sie unfähig, den demokratischen Kampf vor Ort zu führen, der eine Bedingung für die Durchsetzung der nationalen Rechte der PalästinenserInnen ist. Wenn wir aufhören, in ihrem Bewusstsein und in ihren deklarierten Motiven die einzige Erklärung für ihr politisches Verhalten zu sehen, werden wir zudem bemerken, dass ihr europäischer Ursprung und ihre Klassenzugehörigkeit, die sie zu Profiteuren der verschiedenen Versionen der bisher angebotenen Bantustan-Lösungen machen, ein entscheidender Faktor dafür sind, welche Verbündeten sie unter den PalästinenserInnen suchen. So fühlte sich selbst der radikalere Flügel des israelischen Friedenslagers bis zur momentanen Militäroffensive (die das relative Kräfteverhältnis innerhalb der palästinensischen Führung verschieben wird) der bürokratischen Führung der PA (Palästinensischen Verwaltung) verpflichtet, die sich mehrheitlich aus Personen zusammensetzt, die mit Arafat aus dem Exil in Tunis zurückgekehrt sind und wenig Bezug zu den einfachen Bevölkerungsschichten in den Flüchtlingslagern und Dörfern, zu den StudentInnen und ArbeiterInnen haben, die das Rückgrat des Widerstands bilden. Das israelische Friedenslager hat die neu sich herausbildenden lokalen Führungsfiguren ignoriert, die den wiederbelebten Geist der palästinensischen Nationalbewegung repräsentieren und am besten in der Lage sind, die unter der PA entstandene korrupte, autokratische Regierung sozial und politisch zu verändern.
? Welche Rolle spielen die PalästinenserInnen mit israelischer Staatsbürgerschaft? Welchen Platz haben sie im Kampf für eine Alternative?
THP: Die israelischen PalästinenserInnen werden sowohl in nationaler Hinsicht als auch als Klasse unterdrückt und sollen von der in der Ära kapitalistischer Globalisierung des "Neuen Nahen Ostens" erwirtschafteten "Friedensdividende" ausgeschlossen bleiben. Sie haben sich zur einzigen wirklich demokratischen Kraft des politischen Spektrums in Israel entwickelt, die den zionistischen Staat ernsthaft gefährden kann. Unter dem Einfluss der Nationaldemokratischen Versammlung unter Vorsitz des Knesset-Abgeordneten Azmi Bishara haben sie ihre traditionelle Forderung nach "gleichen Bürgerrechten" schrittweise weiterentwickelt zur Forderung nach "kollektiven Rechten als nationale Minderheit". Diese Forderung negiert die Grundfesten des jüdischen Staates, wie der ehemalige Ministerpräsident Ehud Barak im Oktober 2000, als die Polizei während einer militanten Demonstration 13 palästinensische Staatsbürger Israels erschoss, in einer heißen öffentlichen Debatte betonte. Barak sagte: "Als jüdischer Staat können wir der individuellen Gleichberechtigung der Araber zustimmen, die den demokratischen jüdisch- zionistischen Staat nicht gefährdet. Dagegen kann der jüdische Staat das Ansinnen, in seinem Rahmen eine andere kollektive nationale Identität mit dem von Extremisten vertretenen Langzeitziel eines 'Staates aller seiner Bürger', nicht akzeptieren."
Die Stärkung des nationalen Identitätsbewusstseins der PalästinenserInnen in den Grenzen von 1948 und ihre wachsende Solidarität mit dem Widerstand ihrer Brüder und Schwestern in den 1967 besetzten Gebieten kann für den jüdischen Staat, der eine Verkörperung der zionistischen Bewegung ist, tatsächlich zu einer Bedrohung werden. Die Palästina-Frage wurde selbst von der Mehrheit der israelischen "Linken" jahrzehntelang auf die Frage der 1967 besetzten Gebiete reduziert und sollte mit der Zweistaatenlösung angeblich gelöst werden können. Die Zersplitterung und Ausgrenzung der palästinensischen BürgerInnen Israels wurde fälschlicherweise als eine Selbstverständlichkeit angesehen. Dass dem nicht so ist, hat ihr Boykott der letzten Wahlen und ihre Haltung in den letzten 18 Monaten seit Ausbruch der zweiten Intifada gezeigt. Darüber hinaus hat sich auch die Annahme, die schon dem UNO-Teilungsplan von 1947 zugrunde lag, dass die palästinensische Nationalbewegung rasch zerschlagbar wäre, als falsch erwiesen. So sind wir über 50 Jahre nach der Ausrufung des Staates Israel Zeugen einer erneut aufkommenden Sorge des Imperialismus und des Zionismus, dass ein unkontrollierter Aufstand der vereinten palästinensischen Bevölkerung in Israel und in den 1967 besetzten Gebieten die unterdrückten Massen in den arabischen Ländern und im gesamten Nahen Osten aufstacheln könnte.
Der Grund für den Krieg, den das israelische Establishment kürzlich gegen die PalästinenserInnen und ihre Führung losgetreten hat, die als "Zeitbombe" bezeichnet werden, hängt mit dieser falschen Ausgangsvermutung zusammen, der sie sich zunehmend bewusst werden. Zweifellos wurde von den PalästinenserInnen in Israel eine zweite Front gegen die zionistische Durchsetzung eines Apartheidsregimes im gesamten historischen Palästina eröffnet, die sich als genauso wichtig erweisen könnte wie der Kampf der PalästinenserInnen in den 1967 besetzten Gebieten. Daher komme ich zum Schluss, dass antizionistische InternationalistInnen und SozialistInnen in der jüdischen Bevölkerung diese wachsende authentisch-nationalistische Strömung unter den palästinensischen BürgerInnen Israels unterstützen sollten. Ihre Mitglieder vertreten tatsächlich weder eine Klassenpolitik noch ein sozialistisches Programm für ein zukünftiges Palästinas. Doch ihr Nationalismus sollte nach dem einzigen Kriterium betrachtet werden, nach dem wahre InternationalistInnen entscheiden sollten, ob eine Nationalbewegung fortschrittlich ist oder nicht, nämlich ob er den Imperialismus in Frage stellt - was in Israel/Palästina gleichzusetzen ist mit dem Kampf gegen das zionistische Projekt. Aijaz Ahmed schreibt in seinen Buch "Lineages of the Present" auf S. 300: "Ich war lange sehr reserviert gegenüber dem Nationalismus, da mir viele Nationalisten als zumindest sehr chauvinistisch, wenn nicht rundweg faschistisch vorkommen. Doch mit der völligen Missachtung aller Nationalismen wird die Frage des Imperialismus tendenziell übersehen. Ich glaube, dass diejenigen, die gegen den Imperialismus kämpfen, ihren Nationalismus nicht einfach übergehen können ..."
Der tägliche Kampf, den die PalästinenserInnen in Israel gegen den jüdisch- zionistischen Charakter des Staates führen, und der Befreiungskampf der PalästinenserInnen in den 1967 besetzten Gebieten sind gleichzeitig ein Kampf gegen den US- Imperialismus in der Region. Daher ist die fortschrittlichste demokratische Aufgabe für InternationalistInnen, sich ihnen anzuschließen und ihre führende Rolle bei der Festlegung der Prioritäten radikaler jüdischer Kreise in Israel zu akzeptieren.
17. April 2002 Die Fragen stellte Daniel Berger Übersetzung: Birgit Althaler |