Aus Anlass des Parteitages der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) scheint die Presse entdeckt zu haben, dass sich die chinesische Parteiführung dem Kapitalismus verschrieben hat. Prof. Roland Lew geht im Folgenden auf die gesellschaftliche und politische Lage in diesem Land ein.
Roland Lew
Der 16. Parteitag der KPCh, der Mitte November zu Ende ging, ist den Zeitungen im Westen einige große Schlagzeilen wert gewesen. "Der Parteitag der chinesischen Partei wendet sich dem Kapitalismus zu", konnte man z.B. in der New York Times vom 18. November 2002 lesen. Eine offen pro-kapitalistische Partei, die vor allem die neuen Wirtschaftseliten und die Privatunternehmer als Mitglieder aufnimmt -- solches hätte vor zwei Jahrzehnten noch Verwunderung hervorgerufen. Doch heute, was ist heute daran so überraschend?
Die einzig bedeutsame Neuheit war die weitgehende Erneuerung der oberen Parteispitze, des permanenten Komitees des Politbüros. So hat die Partei nun offiziell einen neuen Generalsekretär, Hu Jintao, nach chinesischen Normen ein junger Führer, denn er wird Ende des Jahres erst 60 Jahre alt. Doch es handelt sich um die Anwendung von Regeln, die seit langem gelten: Schließlich hat Deng Xiaoping (der 1997 verstarb) Hu Jintao zum Nachfolger seines Nachfolgers Jiang Zemin ausgesucht.
Es scheint eine vollständige Erneuerung gegeben zu haben, was in Wirklichkeit nicht stimmt. Jiang Zemin versucht genau das zu tun, was Deng Xiaoping vor ihm gemacht hatte: Er zog sich von der Macht zurück -- um sie zu behalten. Zemin tut dies auf ähnliche Weise wie sein Vorgänger, indem er die eigentlichen Hebel der Macht im Griff behält. Sechs der neun Mitglieder des neuen permanenten Komitees und des Politbüros gehören zu seinen Vertrauten. Er behält die wichtige Funktion des Vorsitzenden der Militärkommission, die eine wichtige Quelle der Macht von Mao und von Deng Xiaoping gewesen war.
Doch die wichtigste Kontinuität liegt in der Macht der Einheitspartei. Sie bleibt der Ort der Herausbildung der alten und neuen Eliten. Der KPCh ist es gelungen, ihre Hegemonie über die Gesellschaft zu bewahren und sogar deren Entwicklungen zu bestimmen. In gewisser Weise hat sich die KPCh -- die aufgrund der Leiden, die während der Kulturrevolution (1966-1969) dem Volk beigefügt wurden, und dann durch die verallgemeinerte Korruption, zu der ihre Politik und ihre Beutezüge geführt hatten, erheblich diskreditiert war -- ziemlich gut aus der Affäre gezogen. Jedenfalls weit besser als man denken konnte in Anbetracht der schwierigen Lage und der Untaten, die auf ihr Konto gingen, von der Kulturrevolution zur Repression von 1989 (Tien-Anmen), ohne in neuerer Zeit den Druck auf die Gesellschaft zu vergessen. Die Bevölkerung bleibt auch weiterhin den autoritären Anwandlungen eines Regimes unterworfen, das gleichzeitig korrupt und von einer Zunahme seiner Privilegien charakterisiert und das für die unaufhörlich wachsende soziale Ungleichheit verantwortlich ist. Wenn man das Vierteljahrhundert nach Mao betrachtet, dann kann man zu einer einfachen und schwerwiegenden Schlussfolgerung kommen: Die Partei hat gewonnen, was weder zwangsläufig noch einfach war.
Natürlich stehen hinter diesem Sieg der Kommunistischen Partei, die China selbst und zu ihrem eigenen Nutzen aus dem realen "Kommunismus" herausgeführt hat, zwei Jahrzehnte unglaublicher Umwälzungen. Vom maoistischen China ist nichts übrig geblieben, und auch wenig vom "realen (besser: irrealen) Sozialismus" des chinesischen Weges. Der unter dem Druck von Notwendigkeiten oder der sozialen Begehrlichkeit der "kommunistischen" Eliten empirisch beschrittene Weg hat zu einer Zunahme neuer Privilegien und dem -- häufig beschwerlichen -- Entstehen neuer gesellschaftlicher Eliten geführt und ist nun dabei, dem chinesischen Kapitalismus den Weg zu bereiten.
Die Gewinner sind zahlreich. Man findet sie im neureichen Mittelstand, der sich in den Städten entwickelt, bei den bedeutsamen Vorteilen und Privilegien, die sich die Herren der Partei zuschanzen, und noch offener bei ihren Söhnen und Verwandten. Diese Entwicklung rührt vom wirtschaftlichen Durchbruch Chinas her, das auf dem Weg ist, eine bedeutsame Wirtschaftsmacht zu werden. Das Land stellt nun die zweite Wirtschaftsmacht der Erde dar, oder die dritte, sofern man die Länder der EU zusammenrechnet. Inzwischen ist China weltweit zum wichtigsten Anlageplatz von Kapital geworden, und (wenn man Hongkong einrechnet), auch zum wichtigsten Eigner von Währungsreserven. China ist auf dem Weg, zur "Werkstatt" der Welt zu werden, in der Güter produziert werden, auf die man überall auf der Welt trifft, und deren technische Qualität steigt.
Der Verlierer ist in unterschiedlichem Ausmaß die Mehrheit der Bevölkerung. Zunächst die auf dem Land lebenden Menschen, wobei sich der Abstand zu den Stadtbewohnern massiv vergrößert hat, und die sich zig-millionenfach in die Städte begeben, um -- häufig schlechte -- Arbeit zu finden. Jedoch war es der Strom vom Land, der zum Motor der wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen in der Zeit nach Mao geworden ist.
Die anderen großen VerliererInnen sind die Arbeitenden in den Staatsfirmen, und hier besonders die Arbeiterinnen. Binnen ein paar Jahren wurde der relativ geschützte Status der in den Staatsfirmen Arbeitenden -- trotz zahlreicher gesellschaftlicher Spannungen -- zum Verschwinden gebracht. An seine Stelle ist ein neues Proletariat getreten, das bisweilen besser bezahlt wird, aber ungeschützt beschäftigt und überausgebeutet ist, welches sich im neuen, privaten, staatlichen, halbstaatlichen oder von den Ausländern kontrollierten Kapitalismus herausgebildet hat.
Es geht hier um viele Menschen, die viel leiden müssen. Hinzu kommen noch die ökologischen Wechselfälle, die Probleme bei der Leitung der chinesischen Wirtschaft und die staatliche Lenkung der werdenden Großmacht im Rahmen einer komplizierten und gefährlichen Konjunktur, wie sie die gegenwärtige Periode charakterisiert.
Das Land und die chinesische Gesellschaft befinden sich in voller Bewegung, die reich an Kreativität und Möglichkeiten, aber auch an Gefahren ist, ja angesichts der autoritären Politik der KPCh und der noch hybriden Formen des Kapitalismus (starke Präsenz der staatlichen Oberaufsicht, aber auch Stärken und Schwächen des Staates, ungewisser Durchbruch des Privatkapitalismus vor Ort) durchaus zu Katastrophen führen kann. Das Regime ist angesichts der Verführung, der Angst vor und des Widerstands gegen die von außen kommende kapitalistische Durchdringung auf Ausgleich bedacht. Es muss vielfältigen sozialen Druck aushalten, auch wenn die Staatsmacht nicht bedroht ist, weil die unterschiedlichen Formen des Widerstands sehr zersplittert sind und die offen auftretende Opposition sehr schwach ist. Man darf auch die Schwäche der rechtsstaatlichen Praxis, die Gewalt im gesellschaftlichen Leben und die starke Kriminalisierung des Wirtschaftslebens nicht aus dem Auge lassen.
Die Erfolge in der jüngsten Vergangenheit sind unbestreitbar. Doch der von der Bevölkerungsmehrheit bezahlte Preis fällt hoch aus, die wirtschaftliche, soziale und politische Stabilität des Landes ist weder erreicht noch garantiert. Nun ist für alle Menschen in China und anderswo offensichtlich geworden, und das stellt auch für viele ChinesInnen eine Quelle ihres Stolzes dar: Das China des 21. Jahrhunderts ist auf dem Globus eine Großmacht. Zwar ist es noch weit von der Macht der USA entfernt (vor allem militärisch und geopolitisch betrachtet), doch das Land hat in der Logik der bestehenden Weltordnung ein Gewicht, das zunimmt. Wird es morgen selbstbestimmt sein und die schrecklichen Erniedrigungen, die es in der Moderne erlitten hat, definitiv auslöschen können? Doch bei all dem haben der Sozialismus und die Emanzipation der Bevölkerungsmehrheit keinen Platz... Eine weitreichende Entdeckung!
Übersetzung aus dem Französischen: Paul B. Kleiser |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 374/375 (Januar/Februar 2003).