US-amerikanische und russische Interessen im Mittleren Osten decken sich nur zum Teil. Daneben versucht jede Großmacht, ihre eigenen geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen in dieser rohstoffreichen Region zu wahren. Der folgende Beitrag beleuchtet, was für welche Seite auf dem Spiel steht.
Jean-Marie Chauvier
Seit August 2002 bombardieren die amerikanische und britische Luftwaffe intensiv den Irak und seine Kommando- sowie Kommunikationszentren. Die Diskussionen rund um die UNO-"Inspektionen", die vom Irak zuerst abgelehnt und dann akzeptiert, von den USA zuerst gefordert und dann als nebensächlich behandelt wurden, waren also nur eine Ablenkung angesichts des Krieges, der hinter dem Rücken der Öffentlichkeit bereits begonnen hatte. Ebenso dienen vermutlich auch die "Verbrechen" von Saddam Hussein wie zuvor jene von Milosevic im ehemaligen Jugoslawien oder von Bin Laden und den Taliban als moralischer Deckmantel für die umfassenden politisch-militärischen Manöver. Dieser Deckmantel ist allerdings unverzichtbar, um die öffentliche Meinung zu "präparieren". Dass es um die Verteidigung von Menschenrechten und Demokratie gehe, mag glauben, wer will -- jeder Mensch hat schließlich ein Recht auf dichterische Fiktion und Träume.
Hält man sich nicht mehr an die Moralisten, sondern an Geschäftskreise oder geostrategische Einschätzungen, gibt es verschiedene Vermutungen über die Ziele und "profanen" Absichten dieses Krieges, die sich zum Teil widersprechen oder zum Teil ergänzen:
1. Am Anfang der großen Umgestaltung der Weltordnung steht natürlich das Ende der UdSSR und des Sowjetblocks als Zeichen einer wahrhaftigen kapitalistischen "Globalisierung" der Welt, der Öffnung neuer Märkte für Kapital und Waren und damit verbunden die Notwendigkeit, die Ziele und "Feinde" des westlichen militärisch-industriellen Systems neu zu definieren. Insbesondere die USA müssen ihre Führungsrolle erneut bestätigen, die unbestritten war, solange es "die sowjetische Bedrohung" gab, nun aber von den anderen Mächten Europa und Japan in Frage gestellt werden kann. Zusätzlich erlangte eine Bewegung wie der radikale Islamismus, der in den 1980er Jahren zur Bekämpfung der UdSSR in Afghanistan benutzt wurde, eine beängstigende Autonomie und wandte sich gegen "den anderen Satan", verkörpert durch die USA. Der Golfkrieg von Januar 1991 gab das Startzeichen für die umfassende Neuordnung, zu der selbst die auseinanderbrechende UdSSR und deren Außenminister Eduard Schewardnadse grünes Licht gegeben hatte. Schewardnadse war zu diesem Zeitpunkt der wichtigste Verbündeten der USA in der Sowjetführung und ist heute Präsident von Georgien, wo er erneut die amerikanische Karte gegen Russland spielt.
2. Die erste Etappe der zweiten Offensive, die unter dem Vorwand der Attentate vom 11. September eröffnet wurde, war Ende 2001 Afghanistan. Neben der Kontrolle dieses strategisch wichtigen Landes gab es einen weiteren bedeutenden Beweggrund für diesen Krieg: das amerikanische Vordringen nach Zentralasien, einer Erdgas- und Erdölregion, die bisher unter russischem (ehemals sowjetischem) Einfluss stand. Der Schritt in den Irak wurde seit Ende 2001 als logische Fortsetzung der Operation am westlichen Ende derselben "Krisenachse" ins Auge gefasst.
3. Im Irak, dem wichtigsten Erdöl-Lieferanten nach Saudi-Arabien, dessen Produktionskapazitäten bei weitem nicht ausgeschöpft werden und der durch die auf den Golfkrieg von 1991 folgende Blockade äußerst geschwächt ist, geht es nunmehr darum, die Kontrolle über die Erdöl- Produktion und deren Ausweitung zu erlangen, so dass die Preise gesenkt oder die Abhängigkeit Europas und der USA gegenüber den Exporten der OPEC (Organisation der ölexportierenden Länder) verringert werden können. Dafür muss das Regime von Saddam Hussein, das einst vom Westen (und auch von der UdSSR) unterstützt worden war, dann aber unkontrollierbar wurde, beseitigt werden.
4. Insgesamt geht es im Mittleren Osten angesichts der Schwierigkeiten der USA, Saudi-Arabien als traditionelle Stütze des Erdölimperiums im arabisch-persischen Raum zu kontrollieren, und des "palästinensischen Geschwürs", dessen Behandlung üblicherweise Israel überlassen wird, um eine Wiedererlangung der Macht. Was Palästina betrifft, so werden in Israel Mutmaßungen über die Schaffung von "Bantustans" oder kleinen arabischen Fürstentümern unter israelischer Kontrolle oder eine Massendeportation der PalästinenserInnen nach Jordanien diskutiert. Die letztgenannte Option wird von den äußersten Rechten und insbesondere von den "russischen Parteien" gefordert, die von EmigrantInnen aus der ehemaligen Sowjetunion gegründet wurden.
5. Die nächste militärische Expedition müsste sich aller Logik nach gegen den Iran richten, einen weiteren "Schurkenstaat", dessen islamisches Regime sowohl für die Kontrolle des Mittleren Ostens als auch für das Vordringen in das Kaspische Becken im Norden ein Hindernis darstellt. Gleichzeitig ist der Iran der billigste Verbindungsweg, um Erdöl und Erdgas aus der Kaspischen Meer in den Süden auszuführen.
6. Auf längere Sicht erfordert die "große Gefahr" eines Erstarkens Chinas, gegen das sich der amerikanische Aufmarsch hauptsächlich richtet, eine Kontrolle der Entwicklung in Korea und damit die Beseitigung eines weiteren "Schurkenstaats", Nordkorea. Gleichzeitig müsste die Kontrolle über Zentralasien weiter ausgebaut und Russland neutralisiert werden. Dies alles schließt nicht aus, dass die USA auch auf die Rivalitäten zwischen Russland und China setzen, indem sie bald Moskau gegen Peking, bald Peking gegen Moskau ausspielen.
7. Aus den selben geostrategischen Gründen und Interessen am Erdöl muss mit oder ohne Mitwirkung Russlands das Kaspische Becken (vom Kaukasus bis nach Zentralasien) umschlossen werden, das zur Zeit über die wichtigsten Exportwege für Erdöl und über wichtige Vorkommen in Sibirien verfügt.
8. Grundsätzlich soll der militärische Aufmarsch auch dazu dienen, die amerikanische Wirtschaft wieder anzukurbeln und die Ausdehnung der so genannten Globalisierung der Wirtschaft zu begleiten, indem die amerikanische Vormachtstellung in diesem Prozess, der auch stark von Europa und Japan beeinflusst wird, gesichert wird.
Es ist wichtig zu verstehen, dass dieser Prozess nicht "amerikanisch" ist, sondern aus der Dynamik des globalen Kapitalismus und seiner transnationalen Konzerne hervorgegangen ist, auch wenn dieser von Staaten und internationalen Institutionen flankiert wird. Das "Amerikanische" daran liegt im Bestreben des wichtigsten dieser Staaten, seine Hegemonie aufrecht zu erhalten, und zweifellos auch im dominanten kulturellen Einfluss des "american way on life". In diesem Zusammenhang ist es pikant festzustellen, dass viele der Argumente gegen Nationalismus, Souveränitätsbestrebungen und andere "überkommene" Besonderheiten selbst von einem Supermacht-"Nationalismus" inspiriert sind. Der durch protektionistische Maßnahmen abgestützte amerikanische Nationalismus trägt seine liberalen Überzeugungen und den Wunsch nach "offenen Grenzen" zur Schau und überlässt es anderen, die sich in einer schwachen Position befinden, sich als nationalistisch auszugeben und an den Grenzen festzuhalten.
Das Gelingen oder Scheitern der Pläne der USA, die sich explizit das Recht vorbehalten, die Welt zu regieren und, was die Regierung von George Bush Junior betrifft, einen "Präventivkrieg" mit oder ohne Billigung der UNO und der Alliierten zu führen, hängt jedoch offensichtlich von anderen Faktoren als vom amerikanischen Willen ab: von den Reaktionen der arabisch-muslimischen Welt, der wichtigsten Verbündeten und Konkurrenten in Europa, der unfreiwilligen Verbündeten Russland, Transkaukasien und Zentralasien sowie anderer abhängiger Länder. Diese Faktoren hängen wiederum selbst von der Haltung hunderter Millionen von Menschen ab, die der amerikanische Imperialismus weiterem Elend und Ungleichheiten, Erniedrigungen, Hass und Empörung aussetzt.
Vieles wird von den Kräfteverhältnissen abhängen. Es liegt in Bushs Interesse, schnell und hart zuzuschlagen, denn jede gröbere Entgleisung (z.B. zu viele sichtbare Leichenfelder) und jeder offensichtliche Misserfolg würde von den "Freunden" sofort ausgenützt. Doch wenn er "Erfolg" hat, ist die spätere Niederlage dieses durch die eigene Arroganz und krasse Ignoranz der weltweiten Realitäten zersetzten Imperiums in dem rein militärischen und technologischen Sieg bereits vorprogrammiert. Wie auch immer man die Lage beurteilt, es ist unübersehbar, dass die verschiedenen amerikanisch-britischen Operationen im Zentrum oder in der Nähe der wichtigsten Erdöl- und Erdgasquellen und -lager stattfinden, und zwar sowohl im Mittleren Osten als auch im Kaspischen Becken in der ehemaligen UdSSR von Transkaukasien bis nach Zentralasien und damit in zwei politisch sehr instabilen Regionen. Russland steht also im Zentrum der Geschehnisse. Aufgrund seines riesigen Energiereichtums und seines Einflusses in den Gebieten, um die es geht, ist das Land ein wertvoller Verbündeter der USA, vorausgesetzt, es tritt seine Reichtümer und Territorien nach und nach ab. Doch Russland ist auch ein störrischer und unbequemer Partner angesichts seiner eigenen Interessen in derselben Region, des Rückfalls in sowjetische Großmachtallüren und des Widerstands, der sich in Russland und Zentralasien gegen Bestrebungen regt, die als Bevormundung oder Kolonialisierung erlebt werden. Denn die politisch-militärischen Operationen der USA müssen -- wie gesagt -- im Kontext der Globalisierung von Wirtschaft und Handel gesehen werden, die vor der ehemaligen Sowjetunion nicht halt gemacht hat und diese umgestaltet. Es handelt sich also nicht um einen reinen "Machtkampf", wie man ihn aus der Zeit vor 1914 oder der UdSSR kennt. Vom "Neuen Russland" darf man sich nichts erwarten, was nicht mit der bewaffneten Globalisierung, wie sie sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts abzeichnet, konform ginge: Kult des Geldes und der Macht, Zynismus und zunehmende Verrohung der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Offenbar ist Russland bereit, seinen Verbündeten Saddam Hussein fallen zu lassen, und führt mit den USA intensive Verhandlungen über die Zeit nach dessen Sturz. Ein eng mit dem Krieg verbundener Nebenschauplatz, der das strategische Bündnis zwischen Russland und den USA stark belastet, ist der unterschwellige Krieg um territoriale Interessen und Erdöl, den sich Moskau und Washingtonin Transkaukasien [1] liefern. Gegen die Interessen Russlands wurde im Sommer 2002 unter Federführung der USA, der Türkei, Aserbaidschans und Georgiens in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan, mit dem Bau der Öl-Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan begonnen. Georgien steht am Rande eines bewaffneten Konflikts mit Russland, weil islamisch-tschetschenische Kämpfer vom georgischen Pankisi-Tal aus Angriffe auf tschetschenisches Gebiet (Russland) durchgeführt hatten. Um die russische Haltung zu verstehen, müssen wir auf einige Punkte zurückkommen.
Zum Verbündeten des Iraks wurde Russland (UdSSR) in erster Linie aus ideologisch-politischen Gründen in der Zeit des "arabischen Sozialismus", der irakischen Revolution von 1958 und aufgrund des Einflusses, den die irakischen KommunistInnen dabei hatten, und später trotz der antikommunistischen Haltung, die das irakische Regime einnahm, aus rein geostrategischen Gründen als "anti-imperialistisches" Gegengewicht zu Großbritannien und den USA in der Region. Auch Frankreich hatte sehr gute Beziehungen zu Saddam Hussein, der seit 1969 an der Macht und seit 1979 Präsident des Irak war. Sein Regime wurden wegen des Laizismus und der Fortschritte in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Frauenförderung bewundert. In dieser Hinsicht bildete der nationalistische arabische Irak einen Gegenpol zu den fundamentalistischen Monarchien am Golf. Doch in der Zeit des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak (1980-1988) waren sich die UdSSR und die USA ebenso wie die anderen westlichen und arabischen Länder einig in ihrer Ablehnung der schiitischen Islamischen Revolution. Das Ende des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak und des sowjetischen Einflusses im Mittleren Osten gab den Auftakt zur Durchsetzung der "Neuen Weltordnung" in der ölreichsten Region der Erde, oder genauer gesagt der Behauptung der hegemonialen Stellung der nunmehr einzigen Supermacht, der Vereinigten Staaten von Amerika, gegenüber Europa und dem Rest der Welt.
Das Bündnis zwischen Moskau und Bagdad ging also mit dem Zusammenbruch des Ostblocks zu Ende. Ein Jahr vor dem Ende der UdSSR gab Moskau grünes Licht für den Golfkrieg. Eine treibende Kraft war dabei der Außenminister Eduard Schewardnadse, der heutige Präsident von Georgien. Im Einvernehmen mit der amerikanischen Regierung spielte er damals eine entscheidende Rolle bei der Beschleunigung des Prozesses, der zum Zerfall des Ostblocks, zur deutschen Wiedervereinigung und schließlich zur Auflösung der UdSSR führte. An der Spitze des neuen Russlands stand eine demokratische und liberale Führung, die daher über Präsident Boris Jelzin und den sehr amerikafreundlichen Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Andrej Kozyrew, eng mit den USA verbunden war. Mit dem Irak unterhielt das Land weiterhin enge Beziehungen, wobei die Erdölinteressen im Vordergrund standen. Doch die Angelegenheit rund um den sogenannten "internationalen Terrorismus", oder genauer gesagt der Entscheid der USA, einem globalen Krieg gegen alles zu führen, was sich ihrer Vormacht widersetzt, änderte die Lage -- auch bezüglich der Beziehungen zwischen Russland und dem Irak. Seit dem 11. September 2001 hat
Präsident Putin auf ein strategisches Bündnis mit den USA gesetzt, um sich in das Lager der "zivilisierten Welt" einzureihen, die sich auf dem Weg der Globalisierung befindet, anstatt sich ausschließen oder marginalisieren zu lassen. Dies geschieht nicht nur beim Antiterrorkampf, an dem sich Moskau an vorderster Front (in Tschetschenien) beteiligt, sondern auch in allen anderen Bereichen der liberalen Globalisierung, die von den USA, der NATO und der Welthandelsorganisation (WTO) vorangetrieben wird. Dieses auch von Washington geschätzte Bündnis bedeutet für den Kreml keineswegs eine Entspannung. Russland ist sich dessen bewusst, dass die Erdölvorkommen, auf die es die USA (und Großbritannien) im Irak und im ganzen Mittleren Osten sowie in den ehemaligen sowjetischen Gebieten des Kaspischen Beckens (Transkaukasien) und Zentralasiens abgesehen haben, russische Einflussbereiche und Interessen tangieren, über die Moskau verhandeln müssen wird. Obwohl die Übereinstimmung zwischen den Interessen Russlands und der USA zur Zeit real und bestimmend ist, hat sie die Rivalitäten nicht beseitigt, ganz im Gegenteil: "Hand in Hand" bemüht sich jeder, den anderen in einem zügellosen Wettlauf um das Schwarze Gold zu Fall zu bringen.
Zu erwähnen ist auch, dass sich im Unterschied zur Zeit der Sowjetunion in Russland, das sich im Übergang zum Kapitalismus befindet, die Interessen des Staates und einzelner Wirtschaftsgruppen wie die der Erdöl-Oligarchen nicht mehr absolut decken. Letztere konnten Anfang des Jahrzehnts ihre neuen Vermögen dank der vorhandenen Marge zwischen den Einkaufspreisen auf dem nicht liberalisierten Binnenmarkt und den Verkäufen an das Ausland zu Weltmarktpreisen aufbauen. Die Umwidmung großer Mengen an fossilen Brennstoffen, die früher zwischen den Sowjetrepubliken aufgeteilt wurden, für den Verkauf an Länder mit harten Devisen war eines der wichtigsten Motive, warum Russland die Souveränität über die natürlichen Rohstoffe bzw. über mehr als 80 % der Energievorräte der ehemaligen UdSSR proklamiert hat.
Für die liberale Reformgruppe rund um Boris Jelzin und Jegor Gaidar, für den ihnen ergebenen Teil der Nomenklatura und für die neue Bourgeoisie, die ebenfalls vom diesem Geschenk des Himmels profitierte, war dies also der Hauptgrund, sich von der "Last" der Sowjetunion zu befreien. Danach musste sich jede Republik selbst zu helfen wissen: Neben Russland, das den sozio-ökonomischen Zusammenbruch der 90er Jahre Dank seiner Energievorräte einigermaßen abfedern konnte, haben sich auch Kasachstan und Turkmenistan mit ihren reichen Bodenschätzen besser aus der Affäre gezogen als andere wie z.B. die Ukraine, die unter der Last der Schulden für Energieimporte aus Russland ächzt.
Die intensive, für den Import in den Westen bestimmte Erdöl- und Erdgasförderung bedeutete eine weitreichende Plünderung der russischen Ressourcen, wobei die Einkünfte nicht in die übrige Wirtschaft zurückinvestiert wurden. Denn diese wurde selbst durch Privatisierungen und den Abbau der öffentlichen Dienste verschleudert. Genau dieses Programm hatte der IWF damals gewollt und gefordert. Ein großer Teil der Profite wurde bei westlichen Banken angelegt, floss in den Konsum von Luxusgütern oder wurde in Immobilien- und natürlich auch in Öl-Projekte investiert. Im Kaspischen Raum verfolgt der russische Erdölkonzern Lukoil seine eigenes Interessen, die sich nicht vollständig mit jenen von Präsident Putin decken. Die Presse von Lukoil, wie die Tageszeitung Izvestia, tut sich durch ausgesprochen amerika- und israelfreundliche Stellungnahmen und heftige antiarabische und antipalästinensische Haltungen hervor ... Dies ist keineswegs ein Produkt des Zufalls oder der Hetze einiger JournalistInnen.
Der Irak verfügt über bedeutende Erdölvorkommen und nicht ausgelastete Förderkapazitäten. Laut BP liegen die nachgewiesenen Reserven bei 112 und die vermuteten Reserven bei 220 Milliarden Barrel. Vergleichszahlen der OPEC für die nachgewiesenen Reserven anderer Länder -- jeweils in Milliarden Barrel -- lauten: Saudi-Arabien (260), Vereinigte Arabische Emirate (100), Kuwait (100), Iran (90), Venezuela (80), Russland (50), USA (30).
Der Irak hat demnach die zweitgrößten Reserven weltweit. Würden umfassende Investitionen (30 Milliarden Dollar, was in etwa den Kosten des Kriegs entspricht) vorgenommen, könnte die weltweit höchste Rentabilität bei der Förderung erzielt werden. Die Interessen der Erdölkonzerne der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates am irakischen Ölvorkommen liegen auf der Hand. China hat seine Hand auch mit im Spiel, obwohl es als aufstrebende Macht außerhalb der US-amerikanischen Einflusssphäre allen Grund hätte, den andauernden Kriegsplänen der Bush-Administration zu misstrauen. Russlands besonderes Augenmerk für die Ära nach Saddam gilt der Eintreibung der irakischen Schulden in Höhe von 7 Milliarden Dollar und der Erfüllung der Verträge, die die russischen Ölfirmen mit dem Irak abgeschlossen haben. Lukoil hat beispielsweise 1997 einen Vertrag über 4 Milliarden Dollar für die Erschließung der Ölfelder von West Qurna unterzeichnet und Slavneft im Jahr 2001 gar über 52 Milliarden Dollar für die Ausbeutung der Ölfelder von Subba im Süden. Für die Suche nach weiteren Reserven in der westlichen Wüstenregion geben Russland und der Irak 40 Milliarden Dollar aus.
Kurzum geht es Moskau darum, an den Entwicklungsprojekten der irakischen Erdölindustrie beteiligt zu werden. Es wird von der Bereitschaft des Kreml, die USA bei ihrem Krieg zu unterstützen, abhängen, wie die künftige irakische Regierung Russland gegenüber gesonnen sein wird. Andererseits werden die westlichen Investoren kaum mehr an der sehr viel teureren Ölförderung in Sibirien interessiert sein, wenn die äußerst rentable Ölindustrie im Irak in Schwung kommt. Auch die Begeisterung für das Kaspische Meer könnte darunter leiden, wiewohl hierbei noch die geopolitischen Interessen die USA dazu veranlassen, an der Erkundung, Förderung und Ausfuhr der Erdöl- und Gasvorkommen dieser Region festzuhalten. Bereits in der Vergangenheit war das Pipeline- Projekt zur Durchleitung des Erdgases aus Turkmenistan (ehem. UdSSR) via Afghanistan nach Pakistan für die dortigen Aktivitäten der USA und ihre Machenschaften mit dem Taliban-Regime ausschlaggebend.
Die Schätzungen über die Erdölreserven des Kaspischen Meeres sind unterschiedlich und schwanken. Die einzelnen Angaben in den letzten Jahren variieren je nach Quelle zwischen höchstens 200 und mindestens 20 Milliarden Barrel. Nach Schätzung von BP und der Internationalen Energiebehörde handelt es sich um 8 bis 20 Milliarden in Kasachstan (Tenguiz) und 7 bis 12 in Aserbaidschan. Dazu kommen die 50 bis 137 Milliarden in Russland und die 2 bis 5 im übrigen Zentralasien, so dass man für die gesamte ehemalige UdSSR auf einen vorsichtig geschätzten Betrag von 60 bis 174 Milliarden Barrel kommt. Prozentual ausgedrückt heißt dies, dass sich 4,7% der weltweiten Reserven in Russland und 2% am Kaspischen Meer (gegenüber den 2/3 des Weltvorkommens im Mittleren Osten) befinden, wozu noch die Erdgasreserven von 35% für Russland und 5% für das Kaspische Meer (v.a. in Turkmenistan) gerechnet werden müssen.
Der Anteil Russlands und des Kaspischen Meeres ist in puncto Erdöl also eher zweitrangig, während die Erdgasreserven -- besonders für die Versorgung Europas -- schon mehr ins Gewicht fallen. Rechnet man jedoch die anderen Bodenschätze wie Mineralien, Edelmetalle und Diamanten und die geopolitische Lage "Eurasiens", d.h. der ehemaligen UdSSR, hinzu, wird klar, dass es um die Grundlagen für jedwede strategische Kontrolle des eurasischen Kontinents oder einfach um die Energieversorgung des Westens geht. Zumal sich die Beziehungen zur arabisch-islamischen Welt verschlechtert haben und die westlichen Länder daher keine "Alternative" außen vor lassen können. Der entscheidende und strittigste Punkt ist kurzfristig die Kontrolle über die Exportwege des Erdöls aus Aserbaidschan und Kasachstan. In der Vergangenheit lief dies über die russischen Netze, die die weitest entwickelten und kostengünstigsten sind und die sogar noch in großem Umfang ausgebaut werden sollen. Im Süden, wo auf Betreiben der USA in Transkaukasien neue Trassen entstanden sind, bieten sich aber perspektivisch interessante Alternativen an - ganz zu schweigen von diesbezüglichen Angeboten seitens des Iran, zumindest sobald dieses Land ebenfalls zur "Vernunft" gebracht wird, was nicht lang auf sich warten lassen wird, wenn denn die Domestizierung des Irak ohne größere Schwierigkeiten vonstatten geht.
Die russisch-amerikanische Rivalität auf dem Erdölsektor wurde im Sommer 2002 besonders durch den Beginn der Arbeiten an der BTC-Pipeline (Baku-Tiflis-Ceyhan) angeheizt. Bei der 1994 von 12 hauptsächlich englischen und amerikanischen Gesellschaften gegründeten Azerbaidjan International Operating Company (AIOC) ging es darum, einen Teil des Erdöls aus Aserbaidschan zu fördern und es auf herkömmlichem Weg über Nordrussland (via Tschetschenien nach Noworossijsk) und über die neue Westtrasse durch Georgien nach Supsa zu exportieren. Freilich kam es genau in diesem Zeitraum verstärkt zu Anschlägen auf die Pipeline auf tschetschenischem Gebiet, was 1994 den ersten Krieg zur Folge hatte. Darunter litt die Zuverlässigkeit des russischen Exportwegs, was den amerikanisch-türkischen Plänen zupass kam. Eine neue Trasse wurde unter Federführung der USA in Angriff genommen, um das kasachische Öl aus Tenguiz via Aserbaidschan und die Pipeline von Baku über Tiflis in Georgien nach Ceyhan in der Türkei zu exportieren.
Der Beginn der Arbeiten wurde am 1. August 2002 in London feierlich besiegelt. British Petroleum ist dabei eine treibende Kraft. Ziel ist die Belieferung des europäischen, israelischen und amerikanischen Marktes. Zwar hatten einige westliche Firmen Bedenken wegen der mangelnden Rentabilität, aber Clinton und Bush haben sich wegen der politischen Bedeutung des Projekts durchgesetzt. Tatsächlich ist das Kaspische Meer für die USA mittlerweile von "lebenswichtigem Interesse". Die Russen sind überzeugt, dass der Krieg in Tschetschenien unter der Hand geschürt wird, um die nördlichen Transportwege zu diskreditieren oder gar die transkaukasische Route zu versperren, indem der gesamte Nordkaukasus vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer mit Krieg überzogen oder eine islamische Republik installiert wird. Derlei Pläne geisterten wahrscheinlich in Saudi-Arabien und bei Al Qaida umher, als die Wahhabiten unter Bassajew und Khatab im August 1999 von Tschetschenien aus Dagistan angriffen und so den zweiten Tschetschenienkrieg auslösten. Wenn auch bisher keine Beweise über konkrete Unterstützung vorliegen, lässt sich doch vermuten, dass Washington und Ankara diesen Krieg, in dem sich Wladimir Putin als starker Mann zu profilieren versucht, nicht ungern sehen.
Für Russland geht es darum, mit der Kontrolle über Tschetschenien und den gesamten Nordkaukasus in Transkaukasien weiter als Akteur mitmischen zu können. Georgien, das von den USA militärisch unterstützt wird, kommt dabei die Funktion eines Brückenkopfes zu, um die Russen aus ihrer Einflusssphäre am Kaspischen Meer sowohl im Westen (Kaukasus und Transkaukasien) wie auch im Osten (Kasachstan und Turkmenistan) zu vertreiben und das schwarze und blaue Gold dieser Länder über die neuen Pipelines, die teils unter dem Kaspischen Meer verlaufen, in den Süden transportieren zu können - eine grauenhafte Vorstellung für Russland.
Die Georgier gehen ihrerseits davon aus, dass Moskau ihnen den Austritt aus der UdSSR nicht verzeiht und danach trachtet, seine "Kolonialsphären" im gesamten Kaukasus und Transkaukasien aufrecht zu erhalten. Beide Sichtweisen schließen einander nicht aus: Russland will sich in einer Region behaupten, aus der die USA sie mit georgischer Unterstützung vertreiben wollen. Bei dieser Strategie der Vertreibung Russlands steht Aserbaidschan zwischen den Fronten - einerseits umworben von den USA und den "Brüdern" aus der Türkei, andererseits weiter eng mit Russland liiert. Lediglich Armenien bewahrt aus historischen und politischen Gründen und wegen der Nachbarschaft zur Türkei seine exzellenten Beziehungen zu Russland, denn nach dem türkischen Genozid in Westarmenien 1915 hatte die Sowjetunion den Fortbestand der armenischen Nation gewährleistet. Noch heute hält das Misstrauen gegenüber der Türkei an, und der Konflikt mit den aserischen Türken in Berg-Karabach, einer Region in Aserbaidschan mit armenischer Mehrheit, sorgt weiter für Spannungen. Daher strebt Armenien nach Unterstützung sowohl durch Russland wie auch den Iran. Nur wenn diese Spannungen zwischen den ArmenierInnen und den TürkInnen sowie den Aseris beseitigt werden können, wird es den USA gelingen, die ökonomischen und militärischen Kräfteverhältnisse in dieser Region unter Einschluss Armeniens gänzlich für sich zu gestalten.
Ausschlaggebend für die Spannungen mit dem unabhängigen und vormals sowjetischen Georgien ist das Bündnis mit den USA, für das sich Tiflis auf dem militärischen und Erdölsektor entschieden hat. Vorangegangen war jedoch das Problem, dass Georgien im Innern mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der von Moskau unterstützten abchasischen und ossetischen Minderheiten zu kämpfen hat. Erst kürzlich wurde Georgien von Moskau in einer für die USA eigentlich recht sensiblen Frage angegriffen, nämlich der Anwesenheit von Al-Qaida-Kämpfern und tschetschenischen Rebellen im Pankisi-Tal, die von dort aus in Tschetschenien eingefallen sind, was von Russland mit Gegenangriffen unter Verletzung des georgischen Luftraums und Territoriums beantwortet wurde. Am 25. September startete ein Kommando von 70 Kämpfern eine heftige Attacke vom Pankisi-Tal aus, weswegen Georgien zur Glättung der Wogen mehrere tschetschenische Rebellen an Russland auslieferte.
Eine russische Militärintervention in Georgien ist nicht ausgeschlossen - Wladimir Putin hat sich selbst dazu ermächtigt und sich dabei wie George Bush auf das Recht auf präventive Maßnahmen gegen den Terrorismus berufen. Die USA sind grundsätzlich dagegen und forcieren die Ausbildung georgischer Militärs, damit diese selbst im Innen für Ruhe sorgen. Ihr Vorschlag zielt auf einen "Sicherheitspakt" zu dritt. Denkbar ist, dass sie den Islamisten eine gewisse "Toleranz" entgegenbringen, um das Kriegsgeschehen in Tschetschenien am Laufen zu halten und somit Russland zu schwächen. Regelrechte Beweise hierfür gibt es jedoch nicht und lediglich die amerikanischen, russischen und saudischen Geheimdienste dürften hierüber im Bilde sein.
Der Krieg im Irak könnte Russland erneut Gelegenheit verschaffen, die tschetschenischen Rebellen bis auf georgisches Territorium zu verfolgen, was das Risiko eines regionalen Krieges beinhaltet. Die gegenwärtigen Animositäten, die Moskau dem georgischen Präsidenten gegenüber hegt, gründen offensichtlich darin, dass sie Schewardnadse für die Zeit zwischen 1989--1991 eine aktive Rolle bei der Schwächung und dem Zerfall der Sowjetunion zuschreiben. Zweifelsohne haben sich die Beziehungen zwischen Russland und Georgien, die durch eine gemeinsame Geschichte und tiefe kulturelle Bande zuvor fest besiegelt waren, verschlechtert und werden von den neuen, vom Nationalismus umnebelten Generationen in Frage gestellt. Ein über diese Entwicklung bekümmerter georgischer Intellektueller hat einmal bemerkt, dass die "Alten" an den freundschaftlichen Beziehungen zu Russland festhielten, während die Jugend sich schon spürbar "distanziert" verhalte. Nebenbei lernt die neue Generation in der Schule kaum mehr russisch, sondern eher die englische Sprache.
Die vermutlich heikelste Frage ist die Entwicklung der Erdölpreise. Die Exporte und die Profite der russischen Erdölkonzerne und die wirtschaftlichen Erfolge von Präsident Putin hängen hiervon wesentlich ab. Daher wird mit Interesse dem starken Preisaufschwung entgegengesehen, der sich aller Wahrscheinlichkeit nach im Kriegsfall und bei teilweiser Zerstörung der irakischen Anlagen einstellen wird. Wenn es hingegen zu einer Baisse käme, was der Fall sein könnte, wenn der Irak und andere arabische Länder die Produktion erhöhen, hätte dies schwere Auswirkungen auf die russische Wirtschaft: erstens wegen des unmittelbaren Rückgangs der russischen Profite, zweitens weil sie ihre Exporte kaum steigern könnte und drittens, weil der Westen dann sein Interesse an Investitionen in das sibirische Erdöl verlieren dürfte.
Russlands starke Abhängigkeit von den Weltmarktpreisen des Erdöls führt dazu, dass die Politik der Regierung Kassjanow im eigenen Land heftig umstritten ist. Seine Kritiker werfen ihm vor, den von Jelzin seit 1991 eingeschlagenen Kurs weiter zu verfolgen, d.h. Russland zum nachrangigen Rohstofflieferanten des Westens zu degradieren und andere Wirtschaftssektoren sowie die ausgeglichene wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu vernachlässigen. Das Erdöl wird auf Teufel komm raus gefördert und die technischen Anlagen verkommen. Dabei werden durch die ausbleibenden Investitionen in Modernisierungsmaßnahmen zunehmende Umweltschäden angerichtet und -- so der Vorwurf seitens der kommunistischen Opposition -- die strategischen Reserven angegriffen. Hier treffen sich also außen- und innenpolitische Debatte um die Frage der Entwicklung und der Globalisierung. Im Grunde verfolgt der Wirtschaftsminister eine klare Linie: zunehmende Privatisierungen, Zerschlagung der Monopole auf dem Sektor der natürlichen Reichtümer, ein Grundbuchrecht, das Kauf und Verkauf von Ländereien erlaubt, ein Arbeitsrecht, das zur Deregulierung sozialer Verhältnisse führt etc. Als die Kommunisten zuletzt versucht hatten, Privatisierungen per Referendum zu unterbinden, wurden Volksentscheide einfach für die nächsten zwei Jahre grundsätzlich verboten und die Sache war vom Tisch. Putin lässt somit keinen Zweifel an seinem politischen Kurs.
In den Unternehmerkreisen streitet sich jedoch die Oligarchie um den richtigen Kurs der Industriepolitik. Die Ölkonzerne und andere exportorientierte Sektoren sowie die Finanzspekulanten, die seit 1991 von den Liberalisierungen erheblich profitiert haben, wollen, dass alles so weiter geht und die fossilen Brennstoffe weiterhin exportiert werden. Die Industrie- und Agrarkonzerne, die mehr von der Binnenmarkt abhängen, plädieren hingegen für protektionistische Maßnahmen zur Wiederbelebung der Nachfrage. Deshalb tobt seit Monaten der Streit über die Vor- und Nachteile eines Beitritts von Russland zur WTO. Die Liberalen in der Regierung und in der Opposition wettern gegen jede Form von Protektionismus und gegen jeden Versuch, die von den USA und den von ihr kontrollierten internationalen Institutionen vorgegebene Marschrichtung zu verlassen. Von daher sind sie auch die heftigsten Verfechter einer "strategischen Allianz gegen den internationalen Terrorismus" und eines Krieges gegen den Irak. Hier zeigt sich wieder, wie außenpolitische Entscheidungen mit innen- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen zusammenhängen. Putins Strategie, die den Liberalismus, das Bündnis mit den USA und den Wiederaufschwung des Landes unter einen Hut bringen will, steht daher vor einer harten Bewährungsprobe.
Jean-Marie Chauvier ist Journalist und leitet das Netzwerk Samowar (www.samovarnet.com), das
sich mit Analysen der östlichen Länder befasst. Übersetzung: AlWe und MiWe |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 374/375 (Januar/Februar 2003).