Brasilien

Ein Sieg des Volkes

Die nachfolgende Resolution der "Tendenz Sozialistische Demokratie" in der PT zum Ausgang der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Brasilien erläutert, welche Veränderungen den Sieg Lulas ermöglichten und welche Hoffnungen mit diesem Sieg verbunden sind.

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Das Ergebnis der Wahlen vom Oktober 2002 stellt eine große Verschiebung des Kräfteverhältnisses in der brasilianischen Gesellschaft dar. Die Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei -- PT) gewann die Präsidentschaft der Republik mit den 61% für Lula, und sie wurde größte Partei im Nationalkongress mit 91 Abgeordneten und 14 Senatoren. Der Sieg der PT war ein Sieg des Volkes und eine erste Niederlage des Neoliberalismus. Die PT und Lula, die sich seit langem der Verteidigung der Interessen des Volkes verschrieben haben, wurden zum Katalysator für den Wunsch nach einem Wechsel. Durch diesen Prozess wurde unter den Menschen der Gedanke wiederbelebt, dass Wahlen eine Rolle in der Auseinandersetzung zwischen Alternativen für das Land spielen können.

Andererseits verloren wir, obwohl wir in vielen Bundesstaaten die zweite Runde bei den Wahlen zum Gouverneur erreichten und in Acre, Mato Grosso do Sul und Piauí siegreich waren, in Rio Grande do Sul. Außerdem gewannen PSDB und PMDB die Regierungen der meisten wichtigen Bundesstaaten.

Der Wechsel des Kräfteverhältnisses, der sich im PT-Sieg widerspiegelt, ist auch begrenzt durch die Bündnisse mit rechten Kräften und die Verpflichtungen zu zentralen Elementen der bei den Wahlen abgelehnten Wirtschaftspolitik, ausgedrückt durch das, wenn auch kritische, Akzeptieren der angeblichen "Unvermeidlichkeit" des Festhaltens an den Vereinbarungen mit dem IWF und deren Konsequenzen durch Lula und die Mehrheit der PT.

Ein weiterer wichtiger Effekt ist das Fehlen signifikanter sozialer Bewegungen in jüngster Zeit, trotz der durch den Wahlkampf erreichten, breiten politischen Mobilisierung.

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Die Wahlen öffnen eine neue politische Situation in Brasilien. Einerseits haben wir ungünstige internationale Rahmenbedingungen für die Fortsetzung neoliberaler Politik -- die weltweite Rezession, zunehmender Protektionismus in den Ländern des Zentrums, US-Interventionismus und -Unilateralismus [1], die Ausbreitung rechter Nationalismen. Der Neoliberalismus hat eine Reihe von Ländern in tiefe Krisen geführt, am deutlichsten Argentinien, und wird international zunehmend in Frage gestellt. Auf der anderen Seite haben wir den kumulativen Effekt eines Jahrzehnts der Umsetzung neoliberaler Politik im Lande mit katastrophalen ökonomischen und sozialen Konsequenzen, zunehmender Unzufriedenheit des Volkes, relativem Schweigen der Eliten in einer Periode, in der ein beträchtlicher Teil des Nationalvermögens die Hände wechselte und entnationalisiert wurde, und den Zerfall des Blocks um die Regierung von [Ex-Präsident] Fernando Henrique Cardoso.

Die Wahlen fanden mitten in einem Szenario offener Krise und Erschöpfung des neoliberalen Modells statt. Die tiefe nationale Krise wird noch lange andauern. Nach der Niederlage des Neoliberalismus kämpfen verschiedene Sektoren mit unterschiedlichen Interessen um den besten Weg aus der Krise, ohne dass ein Ergebnis absehbar wäre. Das wahrscheinliche Fortbestehen der derzeitigen Konflikte in der brasilianischen Gesellschaft und das erneuerte Mobilisierungspotential öffnen die Möglichkeit einer Stärkung der sozialistischen Kräfte.

Die lange bestehende Hegemonie der herrschenden Klasse hat einen Schlag erhalten und die Bedingungen, für den Aufbau einer demokratischen Alternative im Interesse des Volkes zu arbeiten, haben sich verbessert.

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Der Charakter der Lula-Regierung bleibt für den Augenblick eine große Unbekannte. Sie wurde auf Basis großer Erwartungen auf einen Wechsel im Lande gewählt, als Inkarnation der Opposition gegen die Regierung von Fernando Henrique. Auf der anderen Seite deuteten die im Wahlkampf eingegangenen Bündnisse, die Entscheidungen unter Verletzung der innerparteiliche Demokratie und Erklärungen, die versuchten, den Eliten und "dem Markt" Garantien zu geben, eine beunruhigende Kontinuität in der politischen Richtung des Landes an. Wir drückten diese Besorgnis bereits im Wahlkampf aus. Der Charakter der Lula-Regierung wird sich im Verlauf der sozialen und politischen Auseinandersetzungen klären. Die PT-Regierung wird vor der Frage stehen, ausgehend vom durch das Wahlergebnis und die politischen Kämpfe definierten Kräfteverhältnis eine politische und soziale Mehrheit für Änderungen zu sichern.

Aber jenseits taktischer Initiativen wird man strategische Entscheidungen treffen müssen: zwischen der Stärkung der sozialen Basis des Lagers der demokratischen Kräfte und des Volkes durch die Umsetzung unseres Programms von Strukturreformen und Kompromissen mit unseren Gegnern; zwischen einer Regierung auf Grundlage der partizipativen Demokratie [2] und einer Regierung traditioneller Art; zwischen dem Voranschreiten zum Aufbau einer neuen Hegemonie und dem verwirrenden und gefährlichen Stoppen auf halber Wegstrecke mit Risiko des Rückfalls. Unsere Aufgabe ist es, die Alternativen herauszuarbeiten, die es möglich machen, die Grenzen zu durchbrechen, denen die neue Regierung derzeit unterliegt.

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Wir stehen vor Konflikten, die für die Zukunft der brasilianischen Gesellschaft entscheidend sind. Das Land ist verwundbar geworden für die Spekulationsbewegungen des nationalen und internationalen Finanzkapitals; die Vormundschaft des IWF hatte zum Ziel, diese Situation zu erhalten und die Regierung weiter als Geisel "des Markts" zu halten. Entscheidendes strategisches Ziel muss es sein, die Autonomie über die Aktionen der Regierung und die Voraussetzungen zur Ausübung nationaler Souveränität gegenüber dem Markt zurück zu gewinnen.

Dafür muss an allen Fronten eingetreten werden: Vertiefung der Verschiebung des Kräfteverhältnisses durch soziale und politische Mobilisierungen, Institutionalisierung der Mechanismen der partizipativen Demokratie und der öffentlichen Kontrolle der Kapitalbewegungen, Widerstand gegen die Bevormundung, der sich der brasilianische Staat heute ausgesetzt sieht.

Die neue Regierung steht bereits vor einer Reihe strategischer Fragen: Landreform, Bekräftigung der nationalen Souveränität gegenüber der [amerikanischen Freihandelszone] FTAA, in Frage stellen der Unterwerfung unter den IWF, Regulierung des Finanzsystems und insbesondere der Beziehungen zwischen der Zentralbank und der neuen Regierung, Steuerfragen und vieles mehr. Was in diesen Fragen auf dem Spiel steht, ist die Verteidigung von Demokratie und nationaler Souveränität gegen Zugeständnisse an die Mächtigen, sei es an die imperialistischen USA oder an das Spekulationskapital, auch bekannt als "der Markt".

Man muss sich diesen Fragen stellen und dabei die neue politische Situation berücksichtigen, die mit dem Sieg der PT entstanden ist. Es können nicht einfach Fragen der Regierung sein, sondern Fragen für die ganze Gesellschaft. Wir müssen einen Prozess aufbauen, der die Wahlmehrheit in eine politische Mehrheit verwandelt, die einen Weg zu Demokratie und Souveränität legitimieren und stützen kann. Die nationale Souveränität zu verteidigen, bedeutet, die entscheidende Voraussetzung für die Ausübung der Souveränität des Volkes und wirklicher Demokratie zu verteidigen.

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Die Idee eines neuen Sozialvertrags, die in der Resolution der letzten Nationalversammlung der PT in Recife [Ende 2001] vorgestellt wurde, entwickelte sich zum zentralen Thema des Wahlkampfs. Sie wurde vorgestellt als Aufruf an alle Sektoren der Gesellschaft für einen Pakt für Produktion, Wirtschaftswachstum und Entwicklung des Inlandsmarkts. Die PT hatte frühere Vorschläge für Sozialpakte, wie sie von verschiedenen bürgerlichen Regierungen vorgestellt worden waren, immer abgelehnt, weil sie die Unterwerfung der Mehrheit der Bevölkerung, also die Unterordnung der sozialen Konflikte unter eine angebliche Rationalität der Regierung, die feststellen würde, was gefordert und was nicht gefordert werden dürfte, bedeuten würden.

Was wir verteidigen können und müssen, ist, dass ein neuer Sozialvertrag auf der partizipativen Demokratie und der Existenz demokratischer Räume für Verhandlungen und Konfliktlösung gründen muss, die aus der Verpflichtung der neuen Regierung erwachsen, der historischen Ausgrenzung der Interessen der Mehrheit ein Ende zu setzen. Dies ist der Prozess, der der Idee der Nation einen sozialen Charakter geben kann.

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Die demokratische Volksbewegung hat eine beispiellose historische Erfahrung begonnen, die für unsere Zukunft von jedem Standpunkt aus entscheidend ist.

Die "Tendenz Sozialistische Demokratie" der PT betrachtet sich selbst als integralen Bestandteil dieses Prozesses und teilt die Herausforderungen, vor denen die PT und die brasilianische Linke stehen. Wir werden in diesen begonnenen Prozess intervenieren, um die PT dazu zu bewegen, dieses entscheidende Experiment mit dem Kampf für die Überwindung der neoliberalen Globalisierung, der Tyrannei des Marktes und des parasitären Finanzkapitals und der historischen Ausgrenzungen und Ungerechtigkeiten, von denen die brasilianische Gesellschaft geprägt ist, zu verbinden. Unsere Perspektive ist es , diese Erfahrung in einen Prozess zu integrieren, dessen Horizont die Ersetzung des Kapitalismus durch einen demokratischen und internationalistischen Sozialismus ist.

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Die Bildung der Lula-Regierung ist die unmittelbare Aufgabe; durch unsere Intervention in den Gremien der PT wollen wir sicherstellen, dass dies demokratisch geschieht, auf Basis der fortgeschrittensten Erfahrungen in der Partei. Die gestärkte PT ist heute die wichtigste Kraft in der brasilianischen Gesellschaft. Sie sollte über die ihrer Zusammensetzung ihrer Bundesregierung alleine entscheiden. Gleichzeitig glauben wir, dass es in der nächsten Zeit nötig sein wird, die von der letzten Nationalversammlung unserer Partei beschlossenen Resolutionen erneut zu verteidigen. In ihrem Zentrum standen die Gedanken des Bruchs mit dem neoliberalen Modell, einer Entwicklung auf Grundlage nationaler Souveränität und der Umverteilung von Einkommen und Macht, und dass die Erfahrung einer Lula-Regierung zur Erneuerung sozialistischer Werte beitragen soll. Sie drückten die Fähigkeit der Partei aus, am Vorabend eines großen politischen Wandels einen strategischen Standpunkt zu ihrer eigenen Vereinheitlichung zu formulieren. Diese Fähigkeit zu bewahren, ist in der neuen historischen Situation noch wichtiger geworden.

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Das Wahlergebnis hat die Beziehungen der PT zum Staat qualitativ verändert und beeinflusst den ganzen Prozess des Parteiaufbaus. Die PT wächst, aber sie wird auch zu einer politisch heterogeneren Gruppierung. Ihre Debatten werden von jedem Sektor der Gesellschaft verfolgt. Wenn die Regierungsverantwortung Klugheit in der Führung bestimmter Debatten fordert, sollte das die demokratischen Prozesse von Debatte und Entscheidung nicht behindern.

Die "Tendenz Sozialistische Demokratie" wird in die Parteidebatten eingreifen und ihre Positionen in einer verantwortungsbewussten, aber klaren Weise äußern; sie ist sich bewusst, dass Vielfalt die Quelle für Kraft im Aufbau einer Bewegung zur Herausforderung der Macht auf allen Ebenen sein kann und muss. Eine noch engere Beziehung zwischen den gewählten Parlamentariern und den dynamischen sozialen Bewegungen gewinnt bei diesem Aufbau strategische Bedeutung, ebenso wie die Verteidigung der Autonomie dieser Bewegungen gegenüber der Regierung.

Wenn die PT schon im Wahlkampf starkem Druck seitens der herrschenden Elite, "dem Markt" und der Regierungen der Metropolenländer, besonders der Vereinigten Staaten, ausgesetzt war, wird dieser Druck noch zunehmen, wenn die Partei die Bundesregierung führt. Aber es ist auch wahr, dass uns das Mandat der Wahlurnen die Legitimität gibt, einen tiefen Wandel in der brasilianischen Gesellschaft durchzuführen.

São Paulo, 3. November 2002
Quelle: International Viewpoint Nr. 346
Übers.: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr.


[1] Anspruch, allein zu entscheiden – d.Red.
[2] Seit die PT 1997 die Stadtregierung von Porto Alegre stellte und Raul Pont, Mitglied der „Tendenz Sozialistische Demokratie“, Bürgermeister wurde, gibt es dort das Experiment des „partizipativen Haushalts“, bei dem die Bevölkerung über einen organisierten Diskussionsprozess in die Entscheidungen über Prioritätensetzungen im Stadthaushalt einbezogen ist. Siehe beispielsweise: Inprekorr Nr. 323 und 329 – d.Red.