In Brasilien und darüber hinaus, vor allem in Lateinamerika, wurde der Wahlsieg von Lula als ein großer Sieg des Volkes gefeiert. Schließlich kommt es nicht alle Tage vor, dass jemand zum Präsidenten gewählt wird, der seine politische Karriere als Arbeiter- und Gewerkschaftsführer begonnen hat und der ein Führer des ärmeren Teils des Volkes und ein wichtiger Organisator einer großen Linkspartei ist.
João Machado und Borges Neto
Der Wahlsieg von Lula wurde durch Gewinne der Arbeiterpartei (PT) bei den Parlamentswahlen verstärkt: Die Fraktion der PT ist nun in der Kammer die größte (91 von 515 Abgeordneten) und im Senat die zweitgrößte; außerdem ist die PT die wichtigste Partei in den Länderkammern der Bundesstaaten geworden. [1] Doch sie ist weit von einer Mehrheit entfernt (selbst mit ihren Verbündeten im ersten und zweiten Wahlgang hat die PT weder in der Kammer noch im Senat eine Mehrheit erreicht). Auch wenn ihre Wahlergebnisse bei den Gouverneurswahlen in den Einzelstaaten eher mäßig ausfielen, so stellen diese Ergebnisse der PT dennoch eine Niederlage für den Neoliberalismus dar und bezeugen eine bedeutsame Verschiebung des Kräfteverhältnisses in der brasilianischen Gesellschaft. Die Unzufriedenheit des einfachen Volkes gegenüber den Früchten von acht Jahren neoliberaler Politik eines Fernando Henrique Cardoso, verbunden mit einem starken Willen zur Veränderung und einer Identifizierung der PT mit diesem Ziel, erklären den großen Wahlsieg der PT.
All dies bewirkt, dass in die neue Regierung große Hoffnungen gesetzt werden, die bei den Feierlichkeiten zur Regierungsübernahme sehr deutlich zum Ausdruck kamen. Tausende von Menschen sind nach Brasilia gereist, um den "Genossen Präsidenten" zu grüßen -- voller Vertrauen, dass endlich die Stunde des Volkes geschlagen habe.
An Gründen zur Freude fehlte es nicht. Doch seit Beginn der Wahlkampagne gab es Zeichen für Grenzen und Widersprüche im sich ankündigenden Sieg. Wir möchten hier nur die wichtigsten nennen: Lula trat an der Spitze einer Koalition zur Wahl an, zu der auch eine eindeutig rechte Partei gehörte, die Liberale Partei (PL). Diese Partei unterstützte im Verlauf der gleichen Wahlen offiziell einige sehr bekannte Kandidaten der brasilianischen Rechten bei den Wahlen zum Gouverneur, so Paulo Maluf und Antonio Carlos Magalhães. Der Kandidat für die Vizepräsidentschaft und Mitglied der PL, José Alencar, ist ein Großunternehmer -- und wurde genau deswegen mit dem Ziel ausgesucht, die Vorbehalte der Unternehmer gegen Lula abzubauen und etwas Unterstützung auch von dieser Seite zu holen. Obwohl die PT auf ihrer 12. Nationalen Konferenz im Dezember 2001 programmatische Leitlinien beschlossen hatte, die einen Bruch mit dem Neoliberalismus vorsehen, wobei die historischen Formulierungen der Partei wieder aufgegriffen wurden (jedoch im Vergleich zu früher deutlich verwässert) und die Eroberung der Regierung in einer sozialistischen Perspektive gesehen wurde, fiel das zu den Wahlen vorgestellte Programm ganz anders aus. Die Idee des Bruchs zugunsten des Konzeptes einer "Übergangsperiode", die darin bestehen sollte, die wesentlichen Grundzüge der Wirtschaftspolitik von Cardoso beizubehalten, wurde aufgegeben. Im Verlauf des Wahlkampfes hat er mehrfach garantiert, dass die "Verträge" eingehalten würden (was insbesondere die strikte Einhaltung der Schuldenzahlungen nach innen und außen meinte). Das letzte Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), das während des Wahlkampfes geschlossen wurde, erhielt Lulas Unterstützung -- weil er es für "unvermeidlich" ansah.
Schließlich verstärkten sich zwischen den beiden Wahlrunden die Unterstützungserklärungen aus dem konservativen Lager. Nachdem nun die Wahlen vorüber sind, kann man behaupten, dass es Lula gelungen ist, ein großes Bündnis mit dem Unternehmerlager zu schließen, auf das er schon durch die Auswahl seines Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten abzielte. Es ist wichtig zu betonen, dass das Bündnis der PT mit den Unternehmern das Ergebnis von Initiativen der Parteiführung war und nicht vom Willen der Unternehmer geprägt war, auf den Zug eines Kandidaten aufzuspringen, dem alle Meinungsumfragen den Sieg zusprachen. Welche Analyse man auch immer von jenem Bündnis macht, so muss man es als wichtigen Teil der von Lula und der Parteiführung umgesetzten Strategie verstehen. Im Übrigen wird die Konsolidierung von den konkreten Handlungen der Regierung abhängen, vor allem von der Art, wie sie in gesellschaftlichen Konflikten Position beziehen wird.
Obwohl diese politische Wende viel Kritik erfahren hat, sowohl in der PT wie außerhalb, hat Lula deswegen fast keine Stimmen verloren. Die Vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei (PSTU, morenistischen Ursprungs), die einzige Partei, die eindeutig links von der PT antrat -- wenn man von der völlig bedeutungslosen Partei der Arbeitersache (PCO) einmal absieht und davon ausgeht, dass die Bemühungen eines Ciro Gomes oder Anthony Garotinho, sich links von Lula zu stellen, nicht ernst genommen werden können --, hat nur eine sehr geringe Zunahme der Stimmenzahl erreicht, wenn man das Ergebnis mit den letzten Wahlen vergleicht (sie hat unter 0,5% der Stimmen bekommen). Es ist Lula also gelungen, seine WählerInnenbasis nach rechts und in der Mitte zu vergrößern, ohne dabei in größerem Umfang Stimmen auf der Linken zu verlieren.
Nach den Wahlen wurde Lula in weit größerem Ausmaß unterstützt als dies sonst bei siegreichen Kandidaten der Fall ist. Das Fest zu Ehren seiner Amtseinführung, die Darstellung in den Medien und die Erklärungen von der Bewegung der Landlosen (MST) bis zu den Vertretern der Unternehmer und des IWF (dessen Generalsekretär Horst Köhler Lula als "Staatsmann des 21. Jahrhunderts" bezeichnet hat) legen die Ansicht nahe, dass bislang kein brasilianischer Präsident sein Amt mit solcher Unterstützung begann, sowohl im eigenen Lager wie außerhalb.
Natürlich stellt eine besonders große Unterstützung auch ein Problem dar: Die verschiedenen Sektoren, die sich mit der Regierung Lula identifizieren, erwarten sehr unterschiedliche Dinge. Selbst wenn der Präsident Zeit gewinnt, um zu bestimmten Resultaten zu kommen -- weil ihm eine Periode der Gnade zugestanden wird --, sind die Widersprüche nur umso größer.
Die aus dem Rahmen, den Lula geerbt hat, erwachsenden Widersprüche, sind ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Aspekt. Die Regierung Cardoso hat auf drakonische Weise die Außenabhängigkeit der brasilianischen Wirtschaft gesteigert und dafür gesorgt, dass sie nun völlig den Launen der internationalen Finanzmärkte ausgesetzt ist. Gleichzeitig ist die Außenverschuldung angestiegen, und es ist schwieriger geworden, mit den öffentlichen Finanzen auszukommen. Damit auch nichts fehlt, wurde die einziger Errungenschaft der Regierung Cardoso, nämlich die Inflation in den Griff bekommen zu haben, zu Ende ihres Mandats wieder bedroht.
Dies alles lässt Zweifel aufkommen, ob es der neuen Regierung gelingt, ihre grundlegende Verpflichtung zu erfüllen, das Land im Interesse der armen Bevölkerung zu verändern. Selbst unter idealen Bedingungen und mit der besten Zielsetzung wäre diese Aufgabe noch gigantisch.
Der Erfolg der Regierung wird von zahlreichen Faktoren abhängen, von denen sich einige ihrer Kontrolle entziehen (die internationale wirtschaftliche und politische Lage); bei anderen hat sie nur beschränkte Einwirkungsmöglichkeiten (gesellschaftliche Mobilisierungen). Doch es kann kein Zweifel bestehen, dass ihr Programm (die Leitlinien, entlang derer sie die sich ihr stellenden Herausforderungen angehen will) und ihre Zusammensetzung (die politischen Kräfte, die sie stellen) zwei entscheidende Elemente sind. Hinsichtlich des ersten Aspekts war die Leitidee während des Wahlkampfes die, dass die Regierung grundlegende Veränderungen durch Verhandlungen mit allen Sektoren und Klassen der Gesellschaft herbeiführen möchte. Das wichtige Ziel der Stärkung der BürgerInnenrechte soll mittels Wirtschaftswachstum, Schaffung von Arbeitsplätzen und Abbau der Ungleichheiten erreicht werden; und all dies soll auch noch ohne große politische und gesellschaftliche Konflikte möglich sein. Hinsichtlich der Zusammensetzung sprach man im Wahlkampf von einer breiten Regierung, die über die PT und die sie in beiden Wahlgängen unterstützenden Verbündeten hinausgehen sollte.
Inzwischen kennen wir die Zusammensetzung der Regierung und die ersten Erklärungen des neugewählten Präsidenten und seiner Mannschaft und können uns somit ein klareres Bild von der Regierung Lula machen. Lula hat 30 Minister und vier Staatssekretäre (unter direkter Verantwortung des Präsidenten) ernannt. Weil die Zentralbank in den letzten Jahren eine große Machtfülle erlangt hat, die viel größer ist als die der meisten Ministerien, muss man zur genannten Liste noch den Präsidenten dieser Bank hinzunehmen -- womit wir bei 35 Leuten wären. Darunter gehören 20 der PT an (16 MinisterInnen und vier StaatssekretärInnen). Die sieben Parteien, die Lula im zweiten Wahlgang unterstützt haben, haben jeweils ein Ministerium bekommen: die PL, die Kommunistische Partei Brasiliens (PCdoB), die Demokratische Arbeiterpartei (PDT), die Sozialistische Volkspartei (PPS), die Brasilianische Sozialistische Partei (PSB), die Brasilianische Arbeiterpartei (PTB), sowie die Grüne Partei (PV). Der neue Präsident der Zentralbank war zum Abgeordneten der Partei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB, der Partei von Cardoso) gewählt worden, als er den neuen Posten erhielt. Um diese Funktion ausüben zu können, musste er auf sein Mandat verzichten. Im Gegensatz zu dem, was man erwarten konnte und was von Lula auch angekündigt worden war, gehört die Partei der Bewegung der Brasilianischen Demokratie (PMDB) der Regierung nicht an [auch wenn die Regierung die Unterstützung von Teilen dieser Partei im Kongress ausgehandelt hat, wie sie dies leider auch mit anderen Parteien, die nicht in der Regierung sind, versucht hat -- so z. B. mit der Brasilianischen Volkspartei (PPB) des berüchtigten Paulo Maluf].
Sieben MinisterInnen gehören keiner Partei an: Zwei von ihnen, der Justizminister, der früher zur PT gehörte, sowie der Generalstaatsanwalt der Union, sind Anwälte; zwei weitere sind Diplomaten (der Außen- und der Verteidigungsminister) und ein Fünfter ist Soldat (der Minister und Kabinettschef für institutionelle Sicherheit). Bei den letzten beiden Ministern handelt es sich um Unternehmer (der Minister für Entwicklung, Industrie und Außenhandel sowie der für Landwirtschaft). Laut von der Presse verbreiteten Nachrichten wurde der erste auf Lulas Bitten vom Industriellenverband des Staates São Paulo (FIESP), des wichtigsten Unternehmerverbandes des Landes, in die Regierung entsandt. Beide unterstützten im Wahlkampf José Serra, den unterlegenen Kandidaten der früheren Regierung.
Es ist ebenfalls bedeutsam, die politische Zugehörigkeit der 20 Minister und Staatssekretäre der PT zu untersuchen. Zwölf von ihnen gehören zur Mehrheitsströmung der Partei (die auf dem letzten Parteitag etwas mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommen hat); drei weitere gehören zu einer Gruppierung, die man als "Mittelgruppe" zwischen der Mehrheitsströmung und der PT-Linken bezeichnen könnte und zwei weitere sind erst jüngst beigetreten. Die drei letzten schließlich gehörten auf dem letzten Parteitag zur linken Strömung (der Minister für die Entwicklung der Landwirtschaft, für die Stadtentwicklung und der Staatssekretär für Wasserbau und Fischfang).
Diese Zusammensetzung der Regierung Lula lässt mich drei Aussagen machen: Erstens wird diese Regierung stärker von der PT dominiert, als man es erwarten konnte, und zwar nicht nur hinsichtlich der Zahl der MinisterInnen und StaatssekretärInnen, sondern auch bezogen auf das Gewicht ihrer Ämter. Der Kern der Regierung (Innenministerium, Sekretariat des Präsidenten, Beziehung der Regierung zur Öffentlichkeit und Wirtschaft) ist völlig in der Hand der PT.
Darüber hinaus wurde die Strömungsvielfalt in der PT einigermaßen respektiert. Wenn auch keine der Strömungen, die nicht zur Mehrheit gehören, dem inneren Kreis der Regierung angehört, so ist ihre Beteiligung doch stärker als beispielsweise in der Leitung der Wahlkampagne oder in der Gruppe, die die Regierungsbildung vorbereitet hat. Trotz des Vorrangs der PT in der Regierung ist diese jedoch breiter geworden als vorgesehen (d.h. es sind auch Gruppen vertreten, die Lula im zweiten Wahlgang nicht unterstützt haben). Der Mangel an "Breite", der sich aus dem Fehlen der PMDB ergibt, wird weitgehend durch die Aufnahme des Präsidenten der Zentralbank und zweier mit der PSDB verbundener Minister (beide dazu noch im Wirtschaftsbereich) kompensiert.
Die "Erweiterungen" konzentrieren sich also auf den wirtschaftlichen Bereich, und deshalb möchten wir auf diesen Regierungsteil näher eingehen. Außer dem Chef der Zentralbank (die eng mit dem Wirtschaftsministerium verbunden ist, jedoch in der Vergangenheit eine immer größere Autonomie gewonnen hat) gehören vier Ministerien dazu: das für Wirtschaft, für Planung und Haushalt, für Industrie und Außenhandel und schließlich das für Landwirtschaft, Viehzucht und Verpflegung. Andere Ministerien spielen in die Wirtschaft hinein, aber die genannten sind im Hinblick auf die Bestimmung und Ausführung der Wirtschaftspolitik entscheidend.
Wenn man diese fünf Institutionen betrachtet, sieht man eine Spaltung zwischen der PT auf der einen und den "Kreisen um die PSDB" auf der andern Seite: Unternehmer, die mit dieser Partei identifiziert werden, sowie ein unter ihren Farben gewählter Abgeordneter. Das leichte Übergewicht dieses letztgenannten Blocks wird durch die Kontrolle des Wirtschaftsministeriums und der Zentralbank verstärkt (die wichtigsten Institutionen in der Wirtschaftspolitik), aber auch durch die Erklärungen der jeweiligen Führung. Der neue Präsident der Zentralbank, Henrique Meirelles, steht nicht nur der PSDB nahe, sondern ist auch den internationalen Finanzinstitutionen entsprungen: Er war der internationale Präsident der Bank of Boston. Wie man es erwarten konnte, ist die Ernennung eines Präsidenten der Zentralbank, der mit einer nordamerikanischen Bank und mit der Partei von Cardoso verbunden ist, auf starke Gegnerschaft in den Reihen der PT gestoßen. Besonders stachen die Erklärungen der Senatorin Heloisa Helena von der Tendenz Sozialistische Demokratie hervor, die sich geweigert hat, ihn zu bestätigen (die Verfassung schreibt vor, dass die Ernennung des Präsidenten der Zentralbank "genehmigt", sie also ratifiziert wird). Diese Kritik kann sich auf eine Tradition in der PT berufen: Als vor vier Jahren Meirelles Vorgänger Armínio Fraga ernannt wurde, hat die PT die Ernennung dieses Menschen, der mit den internationalen Finanzmärkten verbunden war (Fraga hatte für George Soros gearbeitet) massiv kritisiert. Damit auch kein Zweifel hinsichtlich der Orientierung der Zentralbank bestehen kann, hat Meirelles vor dem Senat, aber auch bei seiner Amtseinführung erklärt, er werde die Politik von Armínio Fraga unverändert fortsetzen. Außerdem hat er den Mitarbeiterstab, der von seinem Vorgänger ernannt worden war, unverändert übernommen.
In den vergangenen Jahren ist die Zentralbank zur wichtigsten Institution in der Ausführung der Wirtschaftspolitik geworden: Neben der Verantwortung bei der Steuerung der Währungspolitik redigiert sie die Wechselkurse, regelt und überwacht das Bankensystem, kontrolliert die Kapitalbewegungen und hat die wesentliche Rolle bei den Gesprächen mit dem IWF inne. Außerdem ist besonders wichtig, dass in der Währungspolitik der Preis des Geldes festgesetzt wird -- was im brasilianischen Fall enorme steuerliche Auswirkungen hat: Wenn man nämlich den Zinssatz hochsetzt, dann steigen auch die Verschuldung des Landes und der Schuldendienst. Dasselbe Phänomen ergibt sich in der Politik der Wechselkurse, denn ein großer Teil der Binnenverschuldung Brasiliens hängt vom Wechselkurs ab, natürlich ebenso wie die Außenverschuldung. So lässt sich behaupten, dass ein Rückgang des Haushaltsdefizits (durch Kürzung von Ausgaben und damit den Möglichkeiten der Regierung), der vorgenommen wurde, um das Verhältnis der öffentlichen Schulden zum Bruttoinlandsprodukt in den Griff zu bekommen (die Hauptforderung des IWF und der "Märkte") weitgehend von Variablen abhängt, die sich in der Verantwortung der Zentralbank befinden (Zinssatz und Wechselkurs).
In der Zeit der Regierung Cardoso gehörten die brasilianischen Zinssätze zu den höchsten der Welt, und auch die von Meirelles angekündigte Politik möchte sie auf hohem Niveau halten. Doch hohe Zinssätze führen nicht nur zu größeren Schwierigkeiten des Fiskus. Sie bringen auch einen Reichtumstransfer zugunsten der Besitzer des Finanzkapitals und führen damit zu einer sinkenden Profitrate, was wiederum den Druck auf eine Absenkung der Löhne verstärkt. Anders gesagt, hohe Zinssätze steigern auf signifikante Weise die Konzentration des Reichtums, was den von Lula im Wahlkampf verkündeten Vorschlägen frontal widerspricht. Darüber hinaus bestimmt die Währungspolitik in erheblichem Maße die Wachstumsraten der Wirtschaft: Hohe Zinssätze führen zu sinkenden Wachstumsraten, was die Projekte der Regierung in den Ruin treiben wird. Zu allem Überfluss verteidigt die Regierung Lula auch noch -- wie vom IWF gefordert -- das Projekt einer "operationellen Autonomie" der Zentralbank, das bereits von der Mannschaft um Armínio Fraga formuliert worden ist. Eine solche Entscheidung würde die Handlungsfreiheit der Zentralbank auch noch per Gesetz absichern und erweitern. Außerdem würde die Dauer des Mandats der Führung festgelegt und somit ihre Entlassung im Fall einer Änderung der Wirtschaftspolitik durch die Regierung erheblich erschwert. Das Projekt der "operationellen Autonomie" sieht vor, dass die Zentralbank vom Wirtschaftsministerium festgelegte Zielsetzungen erfüllen müsste -- ähnlich der unter Leitung von Fraga entwickelten Politik, die "Inflationsziele" festlegte, um damit ihre Währungspolitik zu verankern. Doch die Bestimmung von Zielen beruht nicht nur auf einem höchst diskutablen Modell von Wirtschaftspolitik. Die Inflationsrate ist als Richtschnur außerdem ziemlich dünn: die Zentralbank würde bei der Ausführung ihrer Währungspolitik zur Erreichung ihrer Ziele völlig freie Hand bekommen. Eine Entwicklung, die bereits unter der Regierung Cardoso begonnen hat, würde sich somit verstärken: Statt dass das Wirtschaftsministerium die Politik der Zentralbank steuert, bestimmt letztere durch die Kontrolle des Budgetrahmens den Handlungsspielraum des Ministeriums!
Die PT war immer gegen eine Autonomie der Zentralbank in allen möglichen Varianten. Es geht hier um eine Verfassungsfrage, wofür die Zustimmung beider Kammern des Parlaments erforderlich ist. Mehrere Abgeordnete der PT haben das Projekt bereits kritisiert und es wird sicherlich nicht in aller Ruhe angenommen werden.
Die Gefahr einer völligen Kontinuität mit der Wirtschaftspolitik der zweiten Amtszeit von Cardoso -- die wegen der von der Zentralbank getroffenen Maßnahmen sehr stark ist --, wird noch durch die Tatsache gesteigert, dass zwei der PSDB nahestehende Minister in der Regierung sitzen, einer für Entwicklung, der andere für Landwirtschaft. In wieweit können sich die Minister der PT dem widersetzen? Die Untersuchung der für die Wirtschaft zuständigen Ministerien spricht klar für die Kontinuitätsthese. Der Minister Antônio Palocci, hat als "Schlüsselmänner" (die Sekretäre für die Steuern des Bundes, für das nationale Schatzamt und für internationale Fragen) Leute ernannt, die bereits der Regierung Cardoso angehört haben oder zumindest die Politik verteidigen, die damals gemacht wurde. Am überraschendsten (und somit bezeichnend) war die Ernennung des Ökonomen Marcos Lisboa zum Sekretär für Wirtschaftspolitik, also zum Verantwortlichen für die allgemeine Politik des Ministeriums, denn er ist als einer der wichtigsten neoliberalen Ökonomen der neuen Generation bekannt. Die neoliberale Tendenz der wichtigsten Leute im Ministerium von Palocci wird längst nicht durch die Ernennung von zwei PT-Leuten, die als Ökonomen in der Partei bekannt sind, als exekutiver Sekretär bzw. Vize aufgewogen. Das Übergewicht der neoliberalen Orientierung wird auch in Handlungen des Ministeriums sichtbar. Palocci hat die Kontinuität mit der Regierung Cardoso in grundlegenden Punkten der makro-ökonomischen Politik verteidigt: Bei seiner Vorstellung von "Verantwortung für den Haushalt" (die dem Schuldenabbau Vorrang gibt, um das Verhältnis Öffentliche Schuld zu BIP zu stabilisieren) handelt es sich um eine konservativ-monetaristische Politik. Er verkündete auch die Fortsetzung der Privatisierung von Staatsbanken (die sich in keiner Version des Wahlprogramms der PT fand). Er scheint der Idee anzuhängen, dass es nur eine "wissenschaftliche" Wirtschaftspolitik gebe -- bei seiner Antrittsrede meinte er, seine Mannschaft und er wollten nicht "die grundlegenden Prinzipien der Wirtschaftspolitik neu erfinden". Er ist Anhänger des fundamentalen Dogmas, das man heute mit dem Begriff wirtschaftliches "Einheitsdenken" bezeichnet. Man kann die These aufstellen, dass diese konservative Orthodoxie nur in der Anfangszeit der Regierung aufrecht zu erhalten sein wird. Während des Wahlkampfes wurde häufig von der "Übergangsperiode" gesprochen; sogar Palocci glaubte in seiner Rede zur Amtseinführung dieses Konzept beleuchten zu müssen: "Das Thema Übergang hat viel Angst hervorgerufen hinsichtlich der Frage, was danach käme, es wurde viel über eine Beendigung der Reduzierung des Haushaltsdefizits, das Inflationsziel und die floatenden Wechselkurse wie auch die Anwendung ungewöhnlicher neuer Maßnahmen in der makro-ökonomischen Politik spekuliert. Auf diese legitimen Fragen antworten wir völlig unzweideutig, dass die neue Politik bereits begonnen hat: Die gute Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten verlangt Verantwortung bei der Steuer und wirtschaftliche Stabilität. Das hindert uns überhaupt nicht daran, anzuerkennen, dass sich die Vorgängerregierung in dieser Hinsicht große Verdienste erworben hat. Jedoch sind sie nicht die einzigen, die solches können, wie auch wir keinen exklusiven Anspruch erheben. (...) Unsere Konzeption von Übergang, den auch das Land fordert, ist die Überwindung der Schwierigkeiten in kurzer Frist." [2] Laut dem Minister wird es keinen Übergang bei den "grundlegenden Prinzipien der politischen Ökonomie" geben. Somit würde die "Übergangsperiode" ihm zufolge nur in dem Zeitraum bestehen, der zur Überwindung der kurzfristigen Schwierigkeiten nötig ist.
Der Eindruck einer Kontinuität in der Wirtschaftspolitik wird noch verstärkt, wenn man sich die Kritik anschaut, die Palocci gegen die Wirtschaftspolitik der Vorgänger vorgetragen hat, Kritiken, die aber nicht gegen die Kontinuitätsthese sprechen. In seiner Rede zum Abschluss der Arbeiten der Kommission für die Übergabe der Aufgaben an die neue Regierung (die er koordiniert hat) hat Palocci die Wirtschaftspolitik der Regierung Cardoso in zwei Punkten kritisiert. Die erste Kritik bezog sich auf die Wechselkurspolitik und vor allem auf die Überbewertung des Real zu Beginn der Amtszeit von Cardoso. Diese Kritik ist korrekt: Jene Politik war hauptsächlich für die späteren wirtschaftlichen Probleme verantwortlich. Aber die Wechselkurspolitik wurde im Verlauf des zweiten Mandats von Cardoso geändert und fand ab diesem Zeitpunkt die ausdrückliche Unterstützung von Palocci (sogar in ihren problematischsten Aspekten, etwa der fehlenden Kontrolle der Kapitalbewegungen). Das wichtigste Ziel, das sich der neue Minister in diesem Bereich stellt (die Stabilisierung des Wechselkurses), wurde von der alten Mannschaft um Cardoso geteilt; und das wichtigste damals vorgeschlagene Heilmittel (die Wiedergewinnung des "Vertrauens der Märkte") erhielt seine begeisterte Unterstützung.
Die zweite Kritik ist grundsätzlicher, sie dreht sich um das exzessive Vertrauen in den Markt, das Fehlen eines nationalen Projektes mit einer entsprechenden Mobilisierung, gewissermaßen um den Mangel an "strategischer Planung". Es ist nützlich, den Minister zu zitieren: "Ohne jene nationale Mobilisierung, die auf einen neuen Gesellschaftsvertrag gegründet ist, wird jede Anstrengung der Regierung, wie voluntaristisch sie auch immer sei, verpuffen und in kurzer Zeit rein technischen Formeln Platz machen, die genauso eifrig wie begrenzt ausfallen werden. Der Staat darf natürlich nicht in den Paternalismus der Vergangenheit zurückfallen und sich auch nicht einbilden, einen Kurs für die Wirtschaft definieren zu können, der sich von der Bevölkerung und ihren Bedürfnissen entfernt. Die Einheit des Landes um dieses große, eminent politische Ziel herum stellt das einzige Mittel dar, einen heilsamen Druck auszuüben, um die Fragmentierung zurückzudrängen und die Koordination und den Dialog zwischen den verschiedenen Ministerien, Agenturen und Entwicklungsprogrammen zu verstärken. Auf dieser Ebene ist die fehlende Koordination eine systematische Quelle des Verlustes von Ressourcen und führt zu Ineffizienz. (...) Die Planung wurde brutal ihrer Funktion der Definition eines institutionellen Projektes und der Einrichtung eines Leitungs- und Koordinierungssystems entkleidet. Dies gilt nicht nur für das Planungsministerium, sondern für alle Institutionen, die mit der Entwicklung des Landes befasst sind. Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, dass, was die strategische Planung betrifft, sich der brasilianische Staat in einer langdauernden "Panne" befunden hat. (...) Die frühere Regierung hat, zusammen mit Teilen der internationalen Gemeinschaft, dazu beigetragen, die Illusion zu verbreiten, dass das Wirtschaftswachstum und die Reduzierung von gesellschaftlicher Ausgrenzung ein natürliches Ergebnis der Entwicklung der Märkte und des unbeschränkten Einsatzes der überschüssigen internationalen Ersparnisse sein würden, die zu Anfang der neunziger Jahre verfügbar waren. (...) Wir sind uns bewusst, dass die Stimmen, die Lula erhalten hat, jene exzessive Faszination für die Märkte korrigieren sollten, die das Handeln der Vorgängerregierung in den letzten Jahren gekennzeichnet hat." [3]
Diese scharfe Kritik an der Regierung Cardoso wurde noch von der Kritik an ihrer Sozialpolitik übertroffen: "Das Erbe, das wir heute antreten müssen, ist ein Land, dem es nicht gelungen ist, die alte Kluft zwischen Wirtschaft und Gesellschaft auch nur ansatzweise zu überwinden, in der die Sozialpolitik als Zierrat oder Anhang der Bemühungen zur Kontrolle der Wirtschaft erscheint. Die Improvisierung einer Reihe von Sozialprogrammen in den letzten beiden Jahren illustriert diese anfängliche Trennung und führt eine Sicht fort, die den sozialen Einschluss nicht zu einem Thema der staatlichen Politik macht." [4]
Dennoch ist diese Rede mit Bezügen ausgestaltet, die klarstellen, dass kein Vorschlag den "Prinzipien der Wirtschaftspolitik" widersprechen dürfe. Diese schließen laut Palucci unzweideutige Bemühungen ein, das "Vertrauen der Märkte" zu gewinnen. Außerdem wird klar gesagt, dass die neue Politik sie begünstigen werde: "Die Stabilität der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen wird stärker ausfallen und die Märkte werden gestärkt werden und der akkumulierte Reichtum wird größer sein, um sodann besser verteilt zu werden." [5]
Die kritische Haltung wird so relativiert, während der genaue Sinn der Forderung nach Erstellung eines nationalen Projektes nicht sehr klar ist. Um diesen Aspekt besser prüfen zu können, müssen wir uns mit den Perspektiven des Planungsministeriums befassen. Der neue Minister Guido Mantega ist Mitglied der PT und war zuvor Wirtschaftsberater von Lula. Alles lässt glauben, dass sein Ministerium bei der Formulierung der Wirtschaftspolitik kein sonderliches Gewicht haben wird, ähnlich wie dies auch in der Regierung Cardoso passiert ist. Tatsächlich wurde Mantega in die Rolle eines Mitarbeiters von Palocci gedrängt. Dennoch könnte sein Ministerium eine wichtige Funktion bei der Realisierung des Ziels einer "strategischen Planung" haben. In seiner Antrittsrede ist er ein wenig auf den Sinn dieses Konzeptes eingegangen. Er hat die Idee eines Entwicklungs- und Mobilisierungskonzeptes der Gesellschaft aufgegriffen und auf die Notwendigkeit von "harten Maßnahmen" in der Übergangsperiode verwiesen. Er hat auch die Neuerungen betont, die sich in der Politik der neuen Regierung finden: "Die neue Wirtschaftspolitik reduziert sich nicht auf die Zurückführung des Haushaltsdefizits oder den Kampf gegen die Inflation. (...) Gleichzeitig wird unverzüglich eine Reihe von politischen Maßnahmen umgesetzt, die die Handschrift der neuen Regierung tragen und ihr neues Entwicklungsmodell charakterisieren. Diejenigen, die glauben, wir würden die alte Wirtschaftspolitik fortsetzen, täuschen sich. Im Hinblick auf den Außenhandel wird die Regierung nicht untätig sein und sich nicht einfach den Mechanismen der Globalisierung unterwerfen, denn diese sind voller Sprengsätze und begünstigen die fortgeschrittenen Länder. Wir werden die Exporte fördern und eine Politik der Importsubstitution in Anwendung bringen. (...) Die Regierung Lula wird keine Skrupel haben, für die Industrie, die Landwirtschaft und die Dienstleistungen und für alle Sektoren, wo es das Bedürfnis nach einer modernen Politik der Stimulierung der Wettbewerbsfähigkeit und der Produktivität der brasilianischen Industrie gibt, eine aktive Politik zu entwickeln, um dadurch Millionen von Arbeitsplätzen zu schaffen, die die Bevölkerung braucht. Der Staat wird sich mit einem Kreuzzug gegen den Hunger, das Elend und die Not in den Dienst der Entrechteten stellen." [6]
Die "aktive Politik" in den genannten Bereichen hatte die sogenannte "Entwicklungsperiode" charakterisiert, die in der brasilianischen Wirtschaft bis zu Beginn der achtziger Jahre verfolgt worden war. Dieser Bezug wird auch durch eine Anspielung von Palocci auf einen der bekanntesten Präsidenten jener Zeit hergestellt: "In der Vergangenheit bestand mit großen Präsidenten wie Juscelino Kubitschek (Präsident 1956-61, vom Militär gestürzt, d.Ü.) die Reformaufgabe darin, den Horizont des Bürgers zu erweitern, die Entwicklung zu verinnerlichen und die kreativen Fähigkeiten der Menschen einzusetzen, indem man Minderwertigkeitskomplexe beseitigte. Heute besteht die große Reformaufgabe darin, über die Organisation und den Zusammenhalt der Gesellschaft zu wachen, die Teamarbeit zu fördern und die öffentlichen und privaten Ressourcen mittels adäquater Techniken und moderner Planungsmethoden gut einzusetzen, die den Brasilianern die Möglichkeit verschaffen, die gesellschaftliche Desorganisation zu überwinden." [7] Gleichzeitig hat jedoch Mantega die Grenzen des Interventionismus deutlich gemacht: "Die Intervention des Staates in die Wirtschaft wird von nun an viel aktiver sein, ohne dass wir jedoch zum Interventionsstaat der Vergangenheit zurückkehren." [8]
Im allgemeinen lobt man Juscelino Kubitschek für seine Initiativen zugunsten der Entwicklung, wirft ihm aber seine Verantwortungslosigkeit in Steuerfragen vor; er sei einer der Hauptverantwortlichen für die lange Periode der Hyperinflation gewesen, wie sie Brasilien durchgemacht hat. Im Übrigen wurde die gesamte brasilianische "Entwicklungspolitik" dafür kritisiert, dass sie die aus der Zeit der Sklaverei ererbten gesellschaftlichen Ungleichheiten beibehalten habe.
Wir können nach dem Gesagten bereits jetzt zusammenfassen, was die wesentliche Orientierung der Wirtschaftspolitik der Regierung Lula zu sein scheint. Sie lässt sich in der Formel "Entwicklung plus Verantwortung in Steuerfragen und Kontrolle der Inflation plus Intervention des Staates ohne Interventionismus plus Kampf gegen die sozialen Ungleichheiten" zusammenfassen. Allerdings war die "aktive Politik" zugunsten der Entwicklung auch eines der Themen des Wahlkampfes des Kandidaten der PSDB, José Serra. Eben in diesem Punkt schlug er Veränderungen hinsichtlich der von der Regierung Cardoso verantworteten Politik vor, womit er sein Motto "Veränderung in Kontinuität" rechtfertigte. So könnte eine andere Art, die Linie von Palocci und Mantega zusammenzufassen, darin bestehen, zu sagen: Es handelt sich um "die Linie von José Serra plus mehr soziale Sensibilität".
Zum Schluss möchte ich noch ein weiteres wichtiges Organ des wirtschaftlichen Bereiches erwähnen: die Bank für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (BNDES). Formal ist sie mit dem Entwicklungsministerium verbunden, aber ihr Präsident, der Ökonom Carlos Lessa, wurde von Lula persönlich ernannt. Lessa gehört zum vorgeblich fortschrittlichen Flügel der PMDB (er war von seiner Partei nicht für diesen Posten vorgesehen) und besitzt zahlreiche Freunde in der PT -- vor allem die Ökonomin Maria da Conceição Tavares. Er hat bereits eine Neubestimmung des Handelns seiner Bank angekündigt, die nun eine "aktive" Entwicklungspolitik voranbringen soll. Die Ernennung des PT-Mitglieds Jorge Mattoso zum Vorstandsvorsitzenden der Wirtschaftskasse des Bundes, einer weiteren sehr wichtigen Bank, geht in dieselbe Richtung. (Der Chef der brasilianischen Zentralbank wurde noch nicht ernannt.)
Insgesamt ist offensichtlich, dass im wirtschaftlichen Bereich dieser Regierung konservative oder neoliberale Orientierungen überwiegen. Man kann sich fragen, weshalb dies noch nicht zu heftigeren Kritiken aus den Reihen der PT-Mitgliedschaft geführt hat. Eine Erklärung wäre, dass die Konsequenzen dieser Orientierungen für die meisten Mitglieder heute noch nicht klar zu Tage treten.
Welches soll nun das Profil einer Sozialpolitik sein, die etwas Anderes wäre als "Zierrat", wie sich Palocci hinsichtlich der Politik von Cardoso ausgedrückt hat? Die Schlüsselideen liegen wohl in Veränderungen ohne Überstürzung, durch Verhandlungen erreicht, einer nationalen Mobilisierung und eines Sozialpaktes (im Wesentlichen mittels eines Bündnisses zwischen den Arbeitenden und dem "produktiven Kapital"), auf den Lula im Verlauf seines Wahlkampfes so oft zu sprechen gekommen ist und den er auch in seiner Rede anlässlich der Amtsübernahme erwähnt hat: "Ja, wir wollen verändern. Verändern mit Mut und Vorsicht, Demut und Wagemut, mit dem Bewusstsein, dass die Veränderung ein gradueller und fortlaufender Prozess ist und nicht einfach eine Übung des Willens oder eine voluntaristische Maßnahme. Die Veränderung erfolgt mittels Dialog und Verhandlung, ohne Gedränge und Überstürzung, damit das Ergebnis kohärent und von Dauer sei. (...) Um Brasilien auf den Weg des Wachstums zurückzuführen, um Arbeitsplätze zu schaffen, die uns so sehr fehlen, bedarf es eines authentischen Sozialpakts für die Veränderung und eines Bündnisses, welches die Arbeit und das produktive Kapital, die Erzeuger des grundlegenden Reichtums für die Nation, solide vereint. Dies soll bewirken, dass Brasilien aus seinem gegenwärtigen Zustand der Stagnation herauskommt und das Land neuerlich auf dem großen Meer des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts fährt. Ein solcher Sozialpakt wird ebenfalls entscheidend sein für den Fortgang der Reformen, die die brasilianische Gesellschaft fordert und die ich Realität werden lassen möchte: die Reform der Sozialversicherung, die Steuerreform, eine politische Reform und eine der Arbeitsgesetzgebung, sowie die Agrarreform. Alle diese Reformen werden einen neuen Zyklus der nationalen Entwicklung anregen." [9]
José Dirceu (früher Vorsitzender der PT, d.Ü.) hat in seiner Antrittsrede in der Casa civil (Präsidentenpalast) dieselben Ideen mit unterschiedlicher Akzentsetzung aufgegriffen: "Wir wissen alle, dass wir die Regierung Brasiliens unter internationalem Blickwinkel in einem schwierigen Augenblick übernehmen, weil ein Krieg droht und die Wirtschafts- und Finanzkrise die Lage in unserem Land verschlimmert. Trotzdem ist unsere Verantwortung riesig, genauer: Wir können diese Schwierigkeiten nur mit einer großen Beteiligung des Volkes und einer nationalen Mobilisierung meistern. Präsident Lula hat sich in seinen Erklärungen sehr klar zu folgendem Engagement verpflichtet: Zu Beginn des neuen Jahrtausends kann Brasilien seine Probleme nur mittels eines Sozialpaktes, einer nationalen Mobilisierung und einer Beteiligung des Volkes erfolgreich meistern. (...) Die größte Herausforderung, die in den kommenden Jahren auf unsere Regierung wartet, liegt vielleicht darin, dass Brasilien seinen Platz in der Welt einnimmt. Dies ist nur um den Preis einer großen gesellschaftlichen Transformation zu haben, und -- haben wir keine Scheu vor dem Wort -- einer wirklichen sozialen Revolution. Wir schulden das unserem Volk. Wenn man genau hinschaut, so hat Brasilien große Prüfungen zu bestehen gehabt und hat sie alle bestanden, doch haben die Gerechtigkeit und die soziale Gleichheit noch nicht triumphieren können. Als Partei der sozialistischen Linken -- es ist gut, daran zu erinnern -- reichen wir den brasilianischen Unternehmern die Hand und schlagen ihnen einen Pakt vor, von dem klargestellt werden muss, dass er in beide Richtungen funktioniert: Wir müssen das nationale Interesse, die Produktion, die Entwicklung des Landes verteidigen, doch im Gegenzug müssen wir den Reichtum umverteilen, die soziale Gerechtigkeit aufbauen und Armut und Elend ausrotten. Dabei kann es nicht nur eine Richtung als Einbahnstraße geben. Wir können nicht akzeptieren, dass das Land seine Finanz- und Wirtschaftsprobleme teilweise gelöst hat, dass die Wirtschaft gewachsen ist, dass aber dieses Wachstum nicht zu einem größeren Anteil der Arbeitenden am nationalen Reichtum geführt hat. Im Gegenteil, ihr Anteil ist in den letzten 20 Jahren um die Hälfte gefallen. Ohne eine Umverteilung des Reichtums, ohne eine Revolution im Erziehungswesen und ohne Kampf gegen die Armut wir es kein dauerhaftes und substantielles Wirtschaftswachstum geben. Wir wissen alle, dass die gegenwärtige Konzentration des Reichtums und die sozialen Ungleichheiten das Land in eine soziale, kulturelle und institutionelle Sackgasse führen werden." [10]
Dirceu spricht also von der Notwendigkeit einer "wirklichen sozialen Revolution", die die Führung der PT dem brasilianischen Volk schulde, und bezieht sich auf die PT als einer Partei der sozialistischen Linken. Daher haben die Analysten in den Medien erklärt, seine Rede zeige, dass "die PT wieder auf der Linken" zu finden ist. Im Übrigen hat man lange Kommentare zu einem angeblichen Konflikt über zwei Orientierungen im Regierungskern verfasst: die rechte soll von Palocci und die linke von Dirceu verkörpert werden. Doch die Rede von Dirceu enthält auch viele weniger radikale Passagen. Über die "in Richtung Unternehmer ausgestreckte Hand" und den angeblich nötigen Pakt mit ihnen hinaus hat er eine emphatische Erklärung über seine Bereitschaft abgegeben, mit Palocci zur Verteidigung der Wirtschaftspolitik der Regierung zusammenzuarbeiten: "Ich möchte eine besondere Botschaft an meinen Genossen und Freund Antônio Palocci, der nicht anwesend ist, schicken. Ich möchte dem Land und insbesondere ihm sagen, dass er bei der schwierigen Aufgabe der Leitung des Wirtschaftsministeriums auf meine Unterstützung zählen kann und schon zählt. Sei versichert, Palocci, dass du mit José Dirceu in der Casa civil eine Festung haben wirst, wenn es darum geht, die von Präsident Lula beschlossene Wirtschaftspolitik umzusetzen." [11]
Natürlich könnte dieser Bezug nur protokollarisch sein, und er schließt keineswegs grundlegende Differenzen zwischen den beiden Personen aus. Und es ist noch immer schwierig, sich vorzustellen, welche gesellschaftlichen Veränderungen die Regierung Lula durchsetzen will. Das deutlichste Projekt zu Beginn des Mandats (das Programm gegen den Hunger) hat noch kein klar definiertes Format.
Auf der andern Seite könnten Fortschritte in der Landreform eine wichtige soziale Veränderung bringen und die Bedingungen, dass solches auch geschieht, sind relativ günstig.
Dies vor allem wegen der Existenz der Bewegung der Landlosen (MST). Die MST zählt zu den aktivsten sozialen Bewegungen und verfügt über die größten Mobilisierungsmöglichkeiten. Sodann, weil der für die landwirtschaftliche Entwicklung auserkorene Minister, Miguel Rosseto zu einer linken Tendenz in der PT gehört -- zur Tendenz Sozialistische Demokratie, (die mit der IV. Internationale verbunden ist). Bezeichnenderweise wurde seine Ernennung von der MST und anderen Sektoren, die an der Landreform interessiert sind (die CONTAG, der Landarbeiterbereich der CUT) unterstützt, die vorher konsultiert worden waren -- von Vertretern der Unternehmer jedoch heftig kritisiert.
Bei der Übernahme seiner Amtsgeschäfte hat Rosseto eine Rede gehalten, die die Möglichkeiten, in der Agrarreform voranzukommen, mit der sozialen Mobilisierung verband. Gleichzeitig hat er die Autonomie der sozialen Bewegungen und die Respektierung ihrer Mobilisierungen durch die Regierung verteidigt: "Wir werden diese Aufgabe zu Ende führen, ausgehend von einem breiten Aufruf zur gesellschaftlichen Mobilisierung, wir werden mit den Gouverneuren der Einzelstaaten, den BürgermeisterInnen einen Dialog führen, wir werden mit allen sozialen Bewegungen, mit allen Teilen der brasilianischen Gesellschaft, die Verständnis haben und bereit sind, an diesem großen zivilisatorischen Prozess mitzuwirken, besonders auf dem Lande, sprechen. (...) Wir haben bereits Beziehungen aufgebaut und Konzepte der Autonomie und Unabhängigkeit entwickelt, die die politische Dynamik von den sozialen Bewegungen, den gewählten VertreterInnen und den Institutionen des Staates trennen und sie unterscheiden. Allerdings dürfen die gewählten Organe nicht unter die Vormundschaft der sozialen Bewegungen gestellt werden. So richtig das ist, so richtig ist es auch, dass es keinesfalls die Aufgabe einer Regierung in einem demokratischen Staatswesen ist, die Mobilisierungsfähigkeiten der sozialen Bewegungen zu ersticken. Die Demokratie, die wir wollen, die Republik, die wir im Kopf haben, schätzt die Gegenwart des Volkes, liebt, lebt und stärkt die Aktivität der BürgerInnen. Dem Aufbau dieses Landes liegt diese enorme Mobilisierungsfähigkeit, die enorme Fähigkeit, Brasilien mit diesen Augen zu betrachten, die größten und besten Räume für eine Beteiligung des Volkes und der BürgerInnen zu schaffen, fortwährend anzuerkennen, dass sie Namen und Gesichter haben, dass sie sich freuen, traurig sind oder leiden, zu Grunde; das Volk möchte respektiert werden und wir werden dies auch tun." [12]
Der wichtigste Führer der MST, João Pedro Stedile, hat in der Presse die Ernennung von Miguel Rosseto und die Aussichten der Landreform kommentiert; er hat in ähnlicher Weise die Bedeutung der gesellschaftlichen Mobilisierung betont, damit die Veränderungen durchgesetzt werden können: "Die Ernennung von Rosseto zum Minister ist ein positives Signal. Er ist jemand, der über eine historische Tradition des Engagements in der brasilianischen Linken verfügt. Doch wir möchten uns lieber nicht an die Personen und ihre Erklärungen halten. Was Fortschritte ermöglicht, ist das Kräfteverhältnis in der Gesellschaft. Und wir müssen das Volk organisieren, um den notwendigen Druck aufzubauen, damit der Veränderungsprozess auch wirklich ablaufen kann." [13]
Nach seiner Amtsübernahme hat der Minister die Abgeordnetenkammer aufgesucht und ein Treffen mit der Agrarkommission der PT, in der die am meisten im Kampf um die Landreform engagierten Abgeordneten zusammengeschlossen sind, abgehalten. Er hat seine Absicht erklärt, eng mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Trotz der günstigen Bedingungen, die Zielsetzungen des Ministeriums zu erreichen, müssen wir darauf hinweisen, dass es auch große Schwierigkeiten gibt. Die erste besteht in der von Cardoso (FHC) erlassenen Gesetzgebung, die Mobilisierung der MST zu erschweren (vor allem die provisorische Maßnahme 2.027, die festlegt, dass besetzte Ländereien zwei Jahre lang nicht beschlagnahmt werden dürfen und dass die BesetzerInnen aus den Programmen der Landverteilung ausgeschlossen werden). Die MST erwartet natürlich die Rücknahme dieser Bestimmungen.
Eine zweite bedeutende Schwierigkeit teilt der Agrarsektor mit den anderen Gesellschaftsbereichen: die Landreform verlangt nach öffentlichen Geldern (für die Beschlagnahme von Land und die Hilfe für die sich neu ansiedelnden Bauern und Bäuerinnen), die begrenzt sind, weil ja eine Sparpolitik beschlossen wurde, um das Defizit im Haushalt zurückzuführen.
In seiner Antrittsrede hat Lula die Bedeutung einiger Reformen betont: "... neben der Landreform vor allem die Reform der Rentenversicherung, die Steuerreform, die politischen Reformen und die der Arbeitsgesetzgebung." Nicht eine von ihnen wird ohne Auseinandersetzungen vorgenommen werden können, was schon in den ersten Tagen nach Regierungsantritt offensichtlich ist.
Die Reform der Renten ist besonders konfliktträchtig. Aus der Sicht der Regierung müssen drei Ziel erreicht werden, die nur schwer miteinander vereinbart werden können: Ein gerechteres Rentensystem zu schaffen (die Renten der in der Privatwirtschaft Arbeitenden sind lächerlich niedrig; die meisten im Öffentlichen Dienst Arbeitenden haben eine ordentliche Rente; ein Teil des Öffentlichen Dienstes verfügt über enorme Privilegien); die Kosten für den Staatshaushalt zu reduzieren; die Grenzen zu beachten, die Veränderungen von der Verfassung gesetzt sind, weil sie "erworbene Rechte" schützt.
Die "Märkte" haben eine heftige Kampagne für eine Reform, die die Kosten der Renten für den Haushalt senkt und damit das Defizit reduzieren soll, vom Zaun gebrochen. Jene "Institution" und ihre VertreterInnen in den Medien sprechen von "Ungerechtigkeit", möchten aber die Renten der (höheren) Funktionäre beibehalten und setzen sich überhaupt nicht für eine würdige Rente für die im Privatbereich Beschäftigten ein. Sie erwähnen auch nicht die Tatsache, dass die wichtigste Zielsetzung bei der Reduzierung des Haushaltsdefizits die Bezahlung der exorbitant hohen Zinsen auf die Staatsverschuldung ist. Die im Öffentlichen Dienst Arbeitenden fürchten einesteils zu Recht, dass sie die großen VerliererInnen der Reform sein werden. Und die Privilegierten mobilisieren natürlich zur Verteidigung ihrer Privilegien. Zwischen diesen Feuern hat die Regierung (vor allem der für die Renten zuständige Minister Ricardo Berzoini von der PT, ein früherer Gewerkschafter) widersprüchliche Reden über seine Zielsetzungen gehalten.
Die Reform der Arbeitsgesetzgebung ist nicht weniger konfliktreich. Um nur ein Beispiel anzuführen: In einer seiner ersten Erklärungen nach seiner Ernennung hat der Arbeitsminister Jacques Wagner (PT, früherer Gewerkschafter) sich einer der wichtigsten Forderungen der Unternehmer gewogen gezeigt, nämlich der Abschaffung des Bußgeldes von 40 Prozent, das die Unternehmer bezahlen müssen, wenn sie ohne Grund Entlassungen vornehmen. Angesichts der heftigen und unmittelbaren Proteste aus den Gewerkschaften hat er dann einen Rückzieher gemacht.
Das wichtigste Thema in der Arbeitsgesetzgebung ist im Augenblick etwas aus den Augen geraten: Die Tatsache, dass fast die Hälfte der in Brasilien Beschäftigten gar nicht über eine formale Anstellung verfügt und somit durch die Gesetzgebung des Landes überhaupt nicht geschützt wird.
Alles in allem werden die Verhandlungen und die mögliche Zustimmung zu diesen Reformen sicherlich nicht ohne größere Konflikte zu haben sein.
Die internationalen Beziehungen werden für die Regierung Lula ein Schlüsselrolle spielen, sowohl wegen der Rückwirkungen der Wahl im Ausland, als auch weil es viele Herausforderungen gibt, denen sie sich stellen muss (die gefährlichste ist der Verhandlungsprozess zur Schaffung einer Freihandelszone in Amerika, von Alaska bis Feuerland -- die ZLEA/ALCA).
Lula hat erklärt, dass seine Priorität auf den Beziehungen in Lateinamerika liegen wird, was positiv ist. Während seiner Amtsübernahme ist es zu Begegnungen mit Hugo Chávez und Fidel Castro gekommen -- was in der Welt von heute sicherlich ein deutliches Zeichen setzt. Außerdem scheint die brasilianische Regierung dabei zu sein, ihre Hilfe für Venezuela zu erhöhen, mit dem erklärten Ziel, dort die institutionelle Ordnung zu verteidigen. Auch dies ist angesichts der Mobilisierung der venezolanischen Rechten zum Sturz der Regierung Chávez positiv zu bewerten.
Der Minister Celso Amorim, ein Karrierediplomat, ist nun Außenminister. Er hat diesen Posten bereits von 1992-94 unter Präsident Itamar Franco bekleidet.
Die alles entscheidende Frage wird sein: Wie werden die Verhandlungen über die amerikanische Freihandelszone geführt? (Diese betreffen auch andere Ministerien, vor allem das für Entwicklung).
Ein sehr positives Zeichen war die Ernennung des Botschafters Samuel Pinheiro Guimarães zum Generalsekretär, also zur Nummer zwei in der Hierarchie des Ministeriums. Guimarães war ein wichtiger Kritiker des ALCA-Projektes in unserem Land. Aus diesem Grund war er zurückgetreten und vom früheren Außenminister ausgebootet worden.
Die Ernennung hätte bedeuten können, dass die Regierung Lula eine eindeutige Gegnerschaft zur ALCA vertritt. Aber der Generalsekretär hat eine Reihe seiner Zuständigkeiten verloren, und es scheint, dass er nicht direkt mit dem Verhandlungsprozess über ALCA befasst sein wird. Mehr noch, der brasilianische Koordinator für die Verhandlungen wird weiterhin der Botschafter Clodoaldo Hugueney sein, der selbe Diplomat, der diese Aufgaben schon seit Anfang 2001 wahrgenommen hat.
Lula hat gleich Celso Amorim eine Linie verkündet, die die Verhandlungen über die ALCA fortsetzen will, jedoch bemüht er sich, einige Aspekte zu verändern. In seiner Antrittsrede hat er gesagt: "Das wichtigste in allen diesen Foren ist, einen Manövrierspielraum für unsere Entwicklungspolitik in den sozialen und regionalen Angelegenheiten, im Bereich der Umwelt, des Ackerbaus, der Industrie und der Technologie zu behalten. Wir werden nicht aus den Augen verlieren, dass der Mensch der letzte Adressat der Verhandlungen zu sein hat. Was wäre unsere Beteiligung an so großen Anstrengungen an so vielen Fronten, wenn sich daraus nicht direkte Wohltaten für unser Volk ergäben? Wir werden auch darüber wachen, dass die Verhandlungen, die heute weit über einfache Zollsenkungen hinausgehen und eine Vielzahl von Normen betreffen, keine Restriktionen schaffen, die die souveränen Rechte des brasilianischen Volkes einschränken oder über sein Entwicklungsmodell entscheiden." [14]
Doch das gegenwärtige Modell der ALCA, das den Interessen der USA entspricht, wird genau zu diesen Restriktionen gegen "die souveränen Rechte des brasilianischen Volkes, selbst über sein Entwicklungsmodell zu entscheiden", führen. Dieses Modell geht weit über Fragen des Freihandels hinaus. Es beinhaltet die Liberalisierung der Kapitalströme und der Investitionen, sowie Einschränkungen in der Anschaffungspolitik der Regierungen, wie sie schon im berüchtigten Multilateralen Investitionsabkommen (MAI) vorgesehen waren.
Daraus ergibt sich, dass diese Politik gegenüber der ALCA nicht die von der brasilianischen Linken geforderte ist, die im Plebiszit von 2002 bestätigt wurde -- nämlich die Verhandlungen abzubrechen. Wie dem auch sei, die Chancen sind allerdings gestiegen, das gefährliche ALCA-Projekt blockieren zu können.
Das Ziel dieses Artikels war nur, ein in etwa systematisches Tableau der Zusammensetzung der Regierung Lula zu malen und eine kurze Analyse ihrer Anfänge zu bringen. Wir können noch keine Gesamtanalyse machen und noch weniger eine Analyse für die Linke in der PT im Hinblick auf die Regierung vorlegen. Wir möchten also damit schließen, die wesentlichen Widersprüche zusammenzufassen, die sich zu Beginn für das Projekt ergeben.
Die Idee, dass es möglich sein soll, eine konservative Politik in grundlegenden Fragen (Währungspolitik, Steuerpolitik, Garantie der "Verträge" im Allgemeinen, was natürlich auch eine strikte Garantie des Privateigentums einschließt) zu machen und gleichzeitig Veränderungen voranzubringen, die den Interessen des einfachen Volkes entsprechen, ist gleichbedeutend mit der Vorstellung, dass es möglich sei, die Ausbeutung und Unterdrückung zu reduzieren, ohne an die Interessen der herrschenden Klassen zu rühren. Es handelt sich somit um einen Widerspruch in den Zielen.
Dieser Widerspruch wird auch in der "linken Sicht" derselben Idee, wie sie von Dirceu in seiner Rede zur Amtseinführung vertreten wurde, nicht überwunden. Denn auch er möchte "den Unternehmern die Hand reichen", damit sie an dieser Zielsetzung mitarbeiten.
Handelt es sich bei diesen Ideen um pure Taktik, oder stellen sie eine strategische Orientierung des Regierungskerns dar? Wenn wir uns auf die Aussagen der FührerInnen dieses Bereichs stützen, die im Namen der Regierung dazu Aussagen getroffen haben, dann müssen wir zum Schluss kommen, dass die zweite Hypothese zutrifft. Wie wir gesehen haben, wird die Idee, wonach die Regierung in eine "Übergangsperiode" eingetreten sei, in dem Sinne interpretiert, dass eine gewisse Zeit nötig ist, damit das Land sich von den drakonischsten Maßnahmen befreien kann, wie sie von der vorherigen Regierung ererbt wurden. Doch man glaubt, dieses Ziel unter Beibehaltung der konservativen (oder neoliberalen) Orthodoxie erreichen zu können -- insbesondere in der Währungs- und Steuerpolitik.
Wer auch nur ein bisschen marxistische Kenntnisse hat, wird ohne Schwierigkeit zum Schluss kommen, dass dieses Projekt unrealistisch ist. Doch was folgt daraus?
Wir sagen, dass die Regierung Lula zwei Seelen hat: die der versprochenen Veränderungen (die ihre Wahl gerechtfertigt haben) und die der Garantien für eine Kontinuität, um das Vertrauen der Märkte zu gewinnen. Diese beiden Seelen erscheinen vielleicht nirgends in größerer symbolischer Klarheit als in der Entscheidung von Lula, sowohl am Weltsozialforum in Porto Alegre (er war auch auf den beiden ersten zugegen) als auch auf dem Weltwirtschaftsforum aufzutreten (Einige Organisatoren des WSF haben diese Entscheidung kritisiert und ohne Erfolg an Lula appelliert, nicht nach Davos zu gehen.) In Porto Alegre trat Lula mit den MinisterInnen auf, die mit dem sozialen Bereich der Regierung verbunden sind; in Davos mit Meirelles (Zentralbank) und Furlan (Entwicklung). Beide hatten bereits an den früheren Treffen teilgenommen.
Die Zusammensetzung der Regierung zeigt, dass es interne Konflikte geben wird. Was aber wichtiger ist: Obwohl Lula an einem "Sozialpakt" arbeitet und ihn wünscht, ist es viel wahrscheinlicher, dass es eine Regierungszeit großer Klassenkonflikte sein wird (deren Ausmaß man heute noch nicht vorhersehen kann), in der die sozialen Mobilisierungen die wichtigste Rolle spielen werden.
Eine weitere sehr wichtige Frage: Welches wird die Entwicklungsrichtung der PT in der Amtszeit von Lula sein? Wie wird sie sich angesichts der Herausforderungen und Konflikte verhalten, denen sich die Regierung stellen muss? Die Partei wird sicherlich großen Spannungen ausgesetzt werden, und das kann auch nicht anders sein, wenn man sieht, dass sie heute Politikansätze verfolgt, die sie lange Zeit selber kritisiert hat.
Bis heute wurde die Einheit dank der allgemeinen Erwartungen in die Regierung Lula und dank der Kraft des langen Weges der PT, die mit den gesellschaftlichen Kämpfen identifiziert wird, bewahrt.
Doch auf der andern Seite sind Bedrohungen des demokratischen Diskussionsprozesses aufgetaucht. Weil die Senatorin Heloisa Helena sich der Absegnung der Ernennung von Meirelles als Chef der Zentralbank widersetzt hat, wurden ihr vom früheren Parteichef José Dirceu Sanktionen angedroht. (Schließlich hat der neue Vorsitzende José Genoino eine Vereinbarung ermöglicht, wonach die Senatorin nicht an der Abstimmung teilnahm, um somit nicht sanktioniert zu werden.) Wiewohl die Verfassung festlegt, dass die SenatorInnen die Ernennung des Präsidenten der Zentralbank diskutieren, wurden die SenatorInnen der PT daran gehindert (die Haltung von Dirceu während dieser Episode wurde von verschiedenen Teilen der Partei kritisiert).
Die Einschränkung der Debatte und der Demokratie begünstigen die Einheit nicht, vor allem wenn es um Fragen geht, die die Basis der Partei sehr viel direkter betreffen als die Ernennung des Präsidenten der Zentralbank; etwa die der Rentenreform oder der Arbeitsgesetzgebung, oder die der Gründung der ALCA. Die Frage der Autonomie der Zentralbank hat zwar weniger direkte Rückwirkungen auf das einfache Volk, führt aber doch zu zahlreichen Fragen. Wir es genügend Raum für eine breite Diskussion dieser und anderer Fragen geben?
Die große Frage wird sein: Kann sich die konservative Orientierung, die im Wirtschaftsbereich bislang vorherrschend war, konsolidieren? Und wenn ja, wird die Einheit der PT solche Widersprüche überleben? Oder dieselbe Frage in anderen Worten: Können Porto Alegre und Davos langfristig in der PT koexistieren?
Die Orientierungen der Regierung Lula stehen nicht a priori fest. Sie werden im Verlauf von politischen und gesellschaftlichen Kämpfen festgelegt, in denen sich die Verteidigung der Wende auf den langen Weg der PT wird stützen können, auf ihre Geschichte, die mit den Interessen der einfachen Leute identifiziert wird, sowie auf die entscheidende Botschaft des Wahlergebnisses.
17. Januar 2003 Übersetzung aus dem Französischen: Paul B. Kleiser |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 378/379 (Mai/Juni 2003).