Brasilien

Bruch oder Kontinuität?

Heloisa Helena, Senatorin des brasilianischen Bundesstaates Alagoas (Nordosten), ist Leitungsmitglied der Arbeiterpartei (PT) und der Tendenz Sozialistische Demokratie (DS) innerhalb der PT, in der unsere GenossInnen der Vierten Internationale aktiv sind. Das folgende Interview führte Béatrice Whitaker.

Heloisa Helena (Interview)

 Wie erklärst du dir die Beteiligung von Sozialistischer Demokratie (DS) an der Regierung?

Wir charakterisieren die Regierung Lula als eine Regierung der Versöhnung von Kapital und Arbeit, seit während des Wahlkampfs ein "Brief an die Brasilianer" -- bekannt unter dem Namen "Brief an die Bankiers" -- veröffentlicht wurde. Denn bei diesem handelt es sich offensichtlich um einen Kompromiss mit den vom Markt diktierten Regeln. Dieser Brief steht für den Willen, das Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) weiter zu führen. Wir haben dies als ein riesiges Hindernis in unserer Beziehung zur Regierung betrachtet (und ich persönlich habe es als unüberwindbar eingeschätzt).

Dennoch wurden in den an unserem letzten nationalen Treffen beschlossenen Leitlinien -- durch Annahme einer allgemeinen Resolution und einer Resolution über die Ausrichtung der Regierung Lula -- für die DS wichtige Punkte festgehalten, die die Frage der Verhandlungen mit dem IWF, der Beziehungen lateinamerikanischer und anderer ähnlich verschuldeter Länder zum IWF und anderen Finanzinstitutionen wie der Weltbank, der Interamerikanischen Bank etc. betreffen. Die DS hat daraufhin mit großer Mehrheit beschlossen, sich an der Regierung zu beteiligen.

Heute muss ich feststellen, dass wir uns in einer ausgesprochen schwierigen Lage befinden. Wir müssen neue Diskussionen in der DS und der PT führen, um in der Partei auf die Einhaltung der Beschlüsse zu pochen und die Parteiführung dafür zu gewinnen, dass sie das Abkommen mit dem IWF in Frage stellt, damit diese Haltung auch in der Gesellschaft und in der Regierung mehrheitsfähig werden kann.

Wir dürfen uns nichts vormachen: Die "Parteilinke" spielt in der Zusammensetzung der Regierung eine untergeordnete Rolle, was uns ein ungünstiges Kräfteverhältnis beschert. Unter den Ministern finden sich einige Persönlichkeiten, die mit dem Großkapital verbunden sind. Das wird zunehmend zu heftigen Dauerkonflikten in den Parteigremien, im Parlament, in der Regierung und in der Gesellschaft führen.

 Wie weit kann die Regierung Lula mit ihren Vorschlägen zur Autonomie der Zentralbank, zur Reform der Sozialversicherungen, zur Reform des Arbeitsgesetzes in Richtung Flexibilisierung etc. gehen?

Zur Zeit schaut es so aus, als befänden wir uns in einen Wechsel: Bisher standen wir der Weiterführung des skandalösen Abkommens mit dem IWF im Weg, und nun geraten wir in die fürchterliche Situation, zu einem Instrument zu werden, das genau die Weiterführung dieses Abkommens ermöglicht.

Warum das? Unter der Regierung von Fernando Henrique Cardoso wurden im Wesentlichen dank der Dynamik, die von der PT und anderen aktiven gesellschaftlichen Kräften ausging, einzelne IWF-Auflagen ausgesetzt. Wir wollten eine Verbesserung der Arbeitsgesetze, der Lebensbedingungen der Bevölkerung, eine Reform der Sozialversicherungen mit Leistungsgarantien für die Armen und die Staatsangestellten durchsetzen. Doch die Maßnahmen, die von Regierung soeben eingeleitet und öffentlich ankündigt wurden, deuten leider auf eine Kontinuität mit eben dieser Ausrichtung, die von der PT bekämpft wurde.

Wir stehen in der PT in harten Auseinandersetzungen. Wir können nicht akzeptieren, dass Maßnahmen ergriffen werden, die einem Verlust an Rechten gleichkommen, und das Kapital im Namen eines "Prozesses des wirtschaftlichen Übergangs" ständig mit verlogenen Argumenten verteidigt wird. Wenn sich die Regierung nicht in der Lage sieht, die ersten notwendigen Schritte in Richtung einer Revision des Abkommens mit dem IWF zu tun -- an der letzten nationalen PT-Konferenz haben wir in der Frage des Bruchs mit dem IWF eine Niederlage erlitten -, dann dürfen wir trotzdem nicht akzeptieren, dass die angebliche Neuverhandlung in einem Rahmen stattfinden soll, in dem die Rechte des Kapitals geschützt werden, indem die Zentralbank in die Autonomie entlassen wird, wie dies die Regierung vorschlägt.

Wenn selbst in die bürgerlichen Verfassung festgehalten ist, dass das nationale Finanzsystem die Aufgabe hat, die Entwicklung des Landes zu fördern und die kollektiven Rechte zu schützen, dann können wir nicht akzeptieren, dass diese modifiziert werden soll, um die Zentralbank unabhängig zu machen. Schon gar nicht zu einem Zeitpunkt, wo an der Spitze der Zentralbank jemand steht, der Jahre lang Vorsitzender der Bank of Boston, einem der sechs mächtigsten Finanzmultis, war. Zudem ist diese Bank der größte Privatgläubiger Brasiliens.

Der Vorschlag, die Zentralbank in die Autonomie zu entlassen, ist also inakzeptabel. Es handelt sich um eine Kapitulation vor dem Markt und dem internationalen Finanzkapital. Durch Fortführung des Abkommens mit dem IWF würde die Regierung nur die Rechte des Kapitals ausbauen und legitimieren.

Wir müssen daher einen umfassenden Kampf in den Parteistrukturen, der Gesellschaft und der Regierung führen, damit Letztere nicht dem IWF Sauerstoff zuführt. Zudem werden in der aktuellen Konjunkturlage von verschiedenen Persönlichkeiten und Institutionen in der ganzen Welt die Beziehungen zum IWF hinterfragt. Umso weniger kann also akzeptiert werden, dass diesen Schmarotzern von IWF-Mitgliedern in Brasilien, Lateinamerika und der ganzen Welt die nötige Legitimität verschafft wird.

 Finden in der PT-Leitung politische Debatten statt und welche Auswirkungen haben sie auf die Parteibasis?

In der Leitung gibt es kaum wirkliche politische Diskussionen. Dort wo es Auseinandersetzungen gibt, beschränken wir uns nicht darauf, diese aus der Ferne zu beobachten, denn die DS ist mit eigenen Mitgliedern in der PT-Leitung vertreten. Die Partei hält ihre eigenen Beschlüsse nicht ein. Ich kann nachvollziehen, dass die Regierung angesichts der Wahlergebnisse ihre Ziele mit einer gewissen Unabhängigkeit festlegen kann. Die PT hat aber nicht das Recht, Beschlüsse umzustoßen und damit frontal gegen unsere Tradition der offenen, solidarischen Diskussion in den Parteigremien zu verstoßen.

Die Regierung agiert in Wirklichkeit, wie sie will, und die PT beharrt leider nicht auf ihrer Unabhängigkeit als Partei. Die Autonomie ist jedoch ein zentraler Bestandteil unserer Geschichte. Die Entstehung der Partei geht auf eine Kritik am Verhältnis zwischen Partei und Staat zurück, wie es in Osteuropa gehandhabt wurde. Im Verlauf unserer politischen Geschichte haben wir immer darauf geachtet, unsere Unabhängigkeit gegenüber Regierungen zu wahren. Daher ist es inakzeptabel, mit dieser demokratischen Tradition zu brechen, indem Beschlüsse der Partei umgestoßen werden und die Partei zu einem Transmissionsriemen der Regierung gemacht wird. Durch den Ausbau der repräsentativen Demokratie kann die Regierung kann zwar, wie gesagt, ihre Grundlagen und ihr Programm autonom festlegen. Die PT darf sich aber nicht damit begnügen, als bloßer Transmissionsriemen für die Regierungsentscheide zu fungieren.

 Dir wurde vor kurzem in der Partei gedroht und du hast einen politischen Verweis des PT-Vorsitzenden erhalten. Wie wird es deiner Meinung nach weitergehen?

Über den Verweis wurde in den Parteigremien nicht abgestimmt, denn die Sitzung der nationale Exekutive, die darüber entscheiden müsste, wurde vertagt. Der Verweis ist also nicht bekräftigt. Die Angelegenheit wurde aber von den Medien aufgegriffen.

Ich habe mich geweigert, an der Senatssitzung teilzunehmen, an der die Nominierung des Regierungskandidaten und ehemaligen Präsidenten Sarney zum Senatsvorsitzenden genehmigt werden sollte. Wie in Brasilien alle wissen, ist Sarney ein Vertreter der Oligarchie des brasilianischen Nordostens. Er ist ein zentraler Teil dieses degenerierten, dekadenten, zynischen und unsensiblen Wirtschaftsmodells. Ich bin überzeugt davon, dass meine Weigerung, an der Sitzung teilzunehmen und für Sarney zu stimmen, den nötigen Vorwand geliefert hat, um sich mit den von der Regierung angekündigten und umgesetzten Maßnahmen im Bereich der Wirtschaftspolitik zu konfrontieren, mit denen die DS nicht einverstanden ist.

 Welchen Eindruck hast du von der ersten sozialpolitischen Maßnahme Lulas, seinem Plan zur Bekämpfung des Hungers?

Selbst die letzten zynischen Anhänger des dritten Wegs, der Sozialdemokratie, haben offensichtlich die Bedeutung der Sozialpolitik erkannt. Ich verteidige die Politik von Sozialleistungen, denn sie sind wesentlich, um Menschen am Leben zu erhalten, um ihr Überleben zu garantieren, um ihr Bewusstsein aufrecht zu erhalten und so die Gesellschaft verändern zu können.

Das von der Regierung beschlossene Programm "Null Hunger" kann nicht funktionieren, wenn es als Mechanismus verstanden wird, um durch Sozialleistungen die sozialen Spannungen abzubauen. Es ist wichtig im Sinn einer strategischen Entwicklungsachse, die mit einer Stadtreform, einer Landreform und der Agrarpolitik verbunden werden muss. Es kann einen Ausgangspunkt für alternative Ansätze der Wirtschaftsentwicklung bieten, um die Wirtschaft zu beleben, Arbeitsplätze zu schaffen, die Einkommen zu erhöhen und die Ernährung aller zu gewährleisten. Es ist also ein gutes Programm, wenn es nicht nur als Fassade dienen soll, um die sozialen Spannungen zu übertünchen, sondern mit einer strategischen Entwicklungsachse verknüpft ist, die andere Bereiche staatlicher Politik mit einbezieht und direkt mit einer auf tiefgreifende Strukturveränderungen zielenden Wirtschaftspolitik verbunden ist.

Ich sehe das sehr klar, denn ich kenne Hunger aus eigener Erfahrung aus meiner Kindheit und nicht nur aus der Lektüre. Ich glaube, es ist sehr wichtig, eine klare Politik zu verfolgen, die die Sozialleistungen erschließt, anstatt die alte Fürsorgementalität weiterzuführen.

 Glaubst du, dass Lula die für das Land notwendigen Reformen in Angriff nehmen wird?

Brasilien ist das größte Land Lateinamerikas, und Lulas Sieg wird als ein Sieg der größten Linkspartei Lateinamerikas wahrgenommen. Der Erfolg der Regierung ist daher außerordentlich wichtig. Dennoch kann sich der Erfolg nicht in Wahlsiegen erschöpfen. Die Politik der Regierung darf keiner reinen Wahllogik gehorchen. Wir müssen Maßnahmen ins Auge fassen, die einen tiefgreifenden Wandel der gesellschaftlichen Strukturen zum Ziel haben.

Die brasilianische Regierung muss einen grundlegenden Mechanismus entwickeln, um die Verbindungen mit den lateinamerikanischen Ländern und anderen Ländern, die sich in einer ähnlichen Lage gegenüber dem IWF und den multilateralen Finanzinstitutionen befinden, herzustellen. Aus diesem Grund glauben wir, dass die politische Konfrontation unerlässlich ist.

Wenn wir heute die Regierungspolitik an ihren Zielen und ihrem Programm messen, können wir feststellen, dass die ersten Schritte der Regierung nicht auf tiefgreifende strukturelle Veränderungen abzielen. Sie stehen nicht im Rahmen des notwendigen Aufbaus einer neuen Weltordnung.

Doch diese Regierung steht erst am Anfang. Die DS muss in den Parteigremien einen politischen Kampf führen, damit sie in der Gesellschaft mehr Gewicht erhält, um so die Maßnahmen der Regierung, die in der Kontinuität mit der Regierung von Fernando Henrique Cardoso und dem Abkommen mit dem IWF steht, in Frage stellen zu können. Erstmals in Brasilien ist ein Arbeiter durch allgemeine Wahlen auf die höchste Stufe der repräsentativen Macht gelangt. Das darf nicht nur symbolisch bleiben.

Rouge, 27.2.2003
Übersetzung: Tigrib



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 378/379 (Mai/Juni 2003).