15. Weltkongress der IV. Internationale

Eröffnungsrede von Livio Maitan

Livio Maitan

Der Zeitraum zwischen diesem 15. Weltkongress und dem vorhergehenden Kongress ist in Anbetracht unserer Tradition ungewöhnlich lang. Aber vor allem im Hinblick auf die letzten Jahre geht er recht weitgehend auf eine neuen Anlauf unserer nationalen Organisationen und ihr immer stärkeres Engagement in den neuen Kämpfen und in den neuen sozialen Bewegungen zurück; dadurch ist die Festlegung von Terminen, die alle hätten einhalten können, sehr schwierig geworden. Selbst heute haben bestimmte Organisationen keine Delegationen schicken können, die ihrer realen Größe entsprechen.

1995 hatte der Kongress sechs Monate nach der Aufstandsbewegung in Chiapas stattgefunden. Aber die Arbeiterbewegung und die antiimperialistische Bewegung befand sich zumeist doch noch im Wellental. Muss man daran erinnern, dass beispielsweise die großen Streiks von November/Dezember 1995 in Frankreich erst noch bevorstanden? Diese Streiks haben ja bestätigt, dass das Kampfpotential von bedeutenden Teilen des Proletariats weiter da ist, und sie haben zugleich eine Vorwegnahme der massiven Kämpfe und Mobilisierungen dargestellt, die danach sowohl in Europa als auch in anderen Kontinenten stattgefunden haben.

Es ist vielleicht von Nutzen, einen Moment auf die Tragweite der Rückschläge und Niederlagen der achtziger und neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurückzukommen; ihre Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis auf internationaler Ebene und viel noch stärker auf die rückwärtsgewandte Dynamik des Bewusstseins waren außerordentlich stark. Die Arbeiter- und Volksbewegung hatte im Verlauf ihrer Entwicklung dramatischere Niederlagen erlitten, von Italien 1922, Deutschland 1933 und der Zerschlagung der Revolution im Spanischen Staat bis zu den Massakern 1965 in Indonesien und 1973 in Chile. Das waren aber Niederlagen bei großen Zusammenstößen mit den herrschenden Klassen. Fast unmittelbar nach diesen Niederlagen setzte der Widerstand im Untergrund ein, und er stellte sich die Frage, wie der Wiederaufbau [der Organisationen und der Bewegung] anzugehen ist.

Von Anfang der neunziger Jahre an waren die sozialdemokratischen Parteien in den Ländern, in denen sie weit zurückreichende geschichtliche Wurzeln hatten, direkte Instrumente der restaurativen Offensive des Neoliberalismus, und sie engagierten sich in erster Reihe für imperialistische Kriege, in jener Abfolge, die in den kommenden Wochen zu einem erneuten blutigen Unterfangen zu führen droht. Zeitlich fiel dies mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der anderen bürokratisierten Gesellschaften in Osteuropa zusammen, ein Prozess der Restauration des Kapitalismus schlechthin wurde ausgelöst. Hunderte Millionen von Aktiven verstanden all dies nicht nur als eine große Niederlage, als eine negative Entwicklung des Kräfteverhältnisses auf internationaler Ebene, sondern auch -- und sehr oft vor allem -- als einen Verlust der Identität, als einen Verlust ihrer eigenen Daseinsberechtigung.

Die IV. Internationale, die als Gegnerin zum Stalinismus und zur Fortsetzung des Kampfs der Kommunisten gegen die Sozialdemokratie gegründet worden ist, war dazu imstande, die widersprüchlichen Aspekte dieser Prozesse zu begreifen. Aber es konnte nicht so sein, dass wir von den Verheerungen verschont bleiben, die die Arbeiterbewegung insgesamt gebeutelt haben. Daraus erklärt sich eine Reihe von Schlägen, die auch wir in den ganzen neunziger Jahren einstecken mussten.

Wie wir in unseren Debatten sehen werden, bezeichnete das symbolische Datum von Seattle den Beginn einer neuen Etappe, deren Hauptzüge bei den drei Tagungen in Porto Alegre, die neue Fundamente gelegt haben, und der gigantischen Demonstration in Florenz viel deutlicher in Erscheinung getreten sind. In diesem Kontext hat unsere Bewegung einen neuen Aufschwung erfahren, indem wir aktiv an den neuen Kämpfen und den neuen Bewegungen teilgenommen haben und indem wir eine Rolle gespielt haben, die zurecht von all denen geschätzt wird, mit denen wir mit einer ganz offenen pluralistischen Einstellung zusammengearbeitet haben.

Im Prinzip haben wir nie an jener fatalen Krankheit der Arbeiterbewegung gelitten, die man parlamentarischen Kretinismus nennt, auch wenn wir zu verschiedenen Zeiten auf die schiefe Ebene gekommen sind, in Sri Lanka wie in anderen Kontinenten. Wir fürchten uns also nicht davor, hier zu betonen, dass wir als Widerspiegelung unseres zunehmenden Einflusses im letzten Jahrzehnt in einer Reihe von Ländern Abgeordnete gestellt haben, von Brasilien bis zu den Philippinen, von Dänemark bis Portugal und im Europäischen Parlament. In Brasilien gehört jetzt ein Genosse wie Miguel Rossetto, dessen kämpferische Eigenschaften und Einstellung wir kennen, der Regierung an, die aus einem noch nie dagewesenen Erfolg des Volks hervorgegangen ist, wie die Wahl von Lula ihn ja dargestellt hat. Miguel hat eine sehr wichtige Verantwortung und die Aufgabe übernommen, eine Agrarreform durchzuführen, die geeignet wäre, eine allgemeinere Dynamik des Bruchs mit dem System in Gang zu setzen. Wir werden seinen Kampf begleiten und unterstützen, den Kampf, der von sämtlichen fortgeschrittenen Teilen der Arbeiterpartei und der Bewegung der Landlosen unterstützt wird, und, während wir eine unterschwellige Besorgnis wegen der extremen Schwierigkeit des Unterfangens zum Schweigen bringen, drücken wir ihm auf diesem Kongress unsere herzlichste Solidarität aus.

Jugendliche Mitglieder, Männer und Frauen, die in dem Schmelztiegel der Jahre der Oktoberrevolution und der Gründung der III. Internationale geformt worden sind, haben an den ersten Kämpfen der internationalen linken Opposition teilgenommen. Eine zweite politische Generation ist am Ende des Zweiten Weltkriegs hervorgetreten und hat einen großen Beitrag zum Aufbau unserer Bewegung geleistet. Eine dritte, noch in diesem Saal anwesend, ist die Generation von 1968 und der folgenden Jahre. Danach kam eine Art von Leere, die vielleicht zu lange angedauert hat. Heute aber -- und das ist das klarste Zeichen für die Veränderung, die im Gange ist -- ist eine vierte Generation aktiv und ebenfalls in diesem Saal vertreten, wenn auch in einem Maß, das ihre Rolle in den Kämpfen in zahlreichen Ländern noch nicht genügend widerspiegelt. Diese Generation, die nicht den Verschleiß der großen Rückschläge und Niederlagen erlitten hat, reift in einem äußerst explosiven Kontext. Sie wird sich immer mehr dessen bewusst, was auf dem Spiel steht: zu verhindern, dass wir in die Barbarei stürzen und der Zerstörung des Planeten beiwohnen. Ihre Motivation ist also im engsten Sinn des Wortes existentiell. Um eine packende Metapher zu entlehnen, die ein revolutionärer Intellektueller im Hinblick auf Intellektuelle in anderen Epochen verwendet hat: Diese Jugendlichen sind "Exiles from a Future Time", Exilierte aus der Zukunft. Deswegen kämpfen sie, um diesem Exil zu entgehen, um eine neue Welt möglich zu machen.

Ich habe an vierzehn von fünfzehn Kongressen der IV. Internationale teilgenommen, verpasst habe ich den ersten bloß aus Altersgründen. Würde mich jemand fragen, ob ich eine Vorstellung davon habe, wie sich unser nächster Kongress ausnehmen wird, wäre ich versucht, zwei Hypothesen aufzustellen:

Aus dem Französischen übersetzt von Friedrich Dorn.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 378/379 (Mai/Juni 2003).