Dänemark

Abschied von der Arbeiterpartei

Die Sozialdemokratie wurde als Teil wachsenden Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts gegründet. Die Partei war die Partei der Arbeiter. Die Entwicklung der Gesellschaft, die Veränderung der Erwerbsstruktur und die Integration der Sozialdemokratie in den bürgerlichen Staatsapparat bedeuten, dass der Begriff "Arbeiterpartei" eine völlig neue Bedeutung erhält.

Åge Skovrind

Bei der dänischen Parlamentswahl im November 1991 wurde die [rechtsliberale] Venstre Dänemarks größte Arbeiterpartei mit einer Unterstützung von 32%. Für die Sozialdemokraten setzte sich der Rückgang fort, den sie unter den Arbeitern bei allen Wahlen in den 90er Jahren hatte. 1990 erhielt sie zusammen mit den anderen Parteien der Linken noch 67 Prozent, bei der letzten Wahl war diese Zahl auf unter 40 Prozent zusammengeschmolzen. Für die Sozialdemokraten alleine war das Ergebnis 30 Prozent -- gegenüber 42 Prozent bei der vorhergehenden Wahl 1988.

Die Zahlen stammen von Gallup. Bei solchen Untersuchungen zum Wählerverhalten muss man darauf achten, dass der Begriff "Arbeiter" in einem engen, klassischen Sinn benutzt wird, also Beschäftigte innerhalb von Industrie, Transport und Handwerk. In klassenmäßiger Sicht sind diejenigen, die in der Untersuchungen als "Öffentlicher Dienst und Angestellte" geführt werden -- abgesehen vielleicht von den leitenden Angestellten -- auch Arbeiter.

In einer strategisch sozialistischen Perspektive ist eine starke Unterstützung und Verankerung in den Kernen der Arbeiterklasse absolut entscheidend, aber eine moderne "Arbeiterpartei", die mehr als nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung repräsentieren will, muss sich natürlich auf den öffentlichen Dienst und die Angestellten orientieren.

Begriff und Bedeutung: Eine bürgerliche Arbeiterpartei

Die Sozialdemokratie betreibt bürgerliche Politik und hat sich grundlegend verändert, aber sie ist keine bürgerliche Partei wie die Liberalen oder die Konservativen.

Wie kann sich eine Partei das Verdienst erwerben, eine Arbeiterpartei genannt zu werden? Diese Frage war oft Gegenstand heftiger Debatten in der trotzkistischen Bewegung. In diese Diskussionen fließen sowohl Bewertungen der Mitglieder- und Wählerbasis als auch Verbindungen zur Gewerkschaftsbewegung, Programm, praktische Politik und historische Wurzeln ein. Die Begriffsbestimmung ist wichtig, weil zu praktischen politischen Konsequenzen führt.
In der trotzkistischen Tradition spielen Begriffe wie Arbeitereinheit, Arbeitereinheitsfront, Arbeiterregierung usw. eine zentrale Rolle. Gemeinsam ist all diesen Begriffen die politische Perspektive, die Arbeiterklasse zum Kampf gegen das Bürgertum zu sammeln. Die Forderung nach einer Arbeiterpolitik soll an die Arbeiterparteien gerichtet werden, selbst wenn sie für eine bürgerliche Politik stehen, weil die Arbeiterklasse -- immer noch -- Illusionen in diese Parteien hat. Die konkrete Ausprägung der Arbeitereinheitstaktik mag man diskutieren, aber sie beinhaltet doch auf jeden Fall den wahren Kern, dass eine revolutionäre Perspektive darin besteht, die Mehrheit der Arbeiterklasse für eine Gesellschaftsveränderung zu gewinnen. Vielen sogenannten "revolutionären" Aktivisten fehlt diese Perspektive gegenüber der großen nicht revolutionären Mehrheit, entweder weil sie Perspektive einer elitären Minderheitsrevolution verfolgen oder weil sie überhaupt keine konkrete Revolutionsauffassung haben..
Selbst wenn die Sozialdemokratie heute auf allen Ebenen soweit verbürgerlicht ist, dass der Begriff Arbeiterpartei nicht mehr sinnvoll scheint, gibt es immer noch einen großen Unterschied zwischen der Sozialdemokratie auf der einen sowie Venstre [Rechtsliberalen] und Konservativen auf der anderen Seite. Die historischen Wurzeln zur Arbeiterbewegung sind nicht vollständig gekappt, zumindest noch nicht. Deshalb ist es immer noch richtig, gegenüber der Sozialdemokratie eine andere Taktik anzuwenden als gegenüber der Venstre.
Wenn einige aktive Gewerkschaften der Bewegung Fagligt Ansvar [Gewerkschaftliche Verantwortung] versuchen, einer alternative Politik zu fordern, so ist es klar, dass sich diese Forderung an Sozialdemokratie, [linkssozialistische] Socialistisk Folkepartiet (SF) und [rot-grüne] Enhedslisten richtet und mit ihnen im Dialog entwickelt wird. Forderungen an die Sozialdemokratie zu richten und den Wählern und Mitgliedern der Partei zu helfen, die bürgerliche Politik der Partei in Frage zu stellen, sollte in einer revolutionären Strategie im heutigen Dänemark zentrale Bedeutung haben. Wenn wir die Sozialdemokraten nach der Wahl zur Regierungsbildung auffordern, so erfolgt auch dies aus der Einschätzung, dass es einen Unterschied zwischen der Sozialdemokratie und den bürgerlichen Parteien gibt.

Åge Skovrind


 

Die Wochenzeitung A4 des Gewerkschaftsbunds LO kam aufgrund der Gallup-Untersuchung zum Schluss, dass die Wahl 2001 einen "dramatischen Austausch der sozialdemokratischen Wählergrundlage" bedeutete. Die Untersuchung zeigt auch, dass es einen großen Unterschied gab zwischen den Wählern, die die Sozialdemokratie verlor, und denen, die neu zur Partei stießen. Fach- und Hilfsarbeiter machen 30 Prozent der Abgänge, aber nur 18 Prozent der Zugänge aus. Die Wählergewinne kommen vor allem aus dem Bildungsbereich und von höheren Angestellten. Altersmäßig waren relativ viele Jugendliche und Frauen unter den Neuwählern, aber eben nicht genug, um die Abwanderungen auszugleichen.

Die Sozialdemokratie hat auch weiterhin die älteste Wählerschaft, übertroffen nur von der [rechtspopulistischen] Dansk Folkeparti und den Konservativen. Der sozialdemokratische Durchschnittswähler ist 48 Jahre alt. (Umgekehrt war die [rot-grüne] Enhedslisten die Partei mit der jüngsten Wählerschaft.). Unter den älteren sind relativ viele Hilfs- und Facharbeiter, und da diese Gruppe immer kleiner wird -- und vielen Untersuchungen zufolge immer stärker rechts wählt, trifft das die Sozialdemokratie besonders hart.

Aber die Bewegung weg von der "Arbeiter"-Identität macht sich auch bei den jungen Wählern geltend. Bei der Wahl 2001 hatte die Partei eine flotten Zuwachs bei der Jugend, aber dort nur bei den gut ausgebildeten. Einer 2001 im Ugebrevet Mandag Morgen veröffentlichten Untersuchung zufolge gab es erstmals mehr sozialdemokratische Wähler mit Abitur als ohne. Der Ugebrevet [Wochenbrief] kommt zum Schluss, dass die Sozialdemokratie nur auf ein Viertel der Stimmen junger Arbeiter rechnen kann. Testwahlen unter Berufsschülern, wo die Rechten eine komfortable Mehrheit bekommen, sind ein bekannter Ausdruck für die Zahlen dieser Untersuchung.

Ursachen für den historischen Verlust der Sozialdemokratie an Arbeiterwählern gibt es viele. Mit zur Erklärung gehören grundlegendere Änderungen der Lebensformen und Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen. Aber dass die Partei nicht mehr länger als beste oder einzige Verteidigerin von Wohlfahrtsleistungen im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich da steht, also kurz gesagt der Rechtsschwenk der Sozialdemokratie, ist eine ebenso wichtige Erklärung.

Parallel zur fallenden Unterstützung durch die Arbeiter wurde auch der Einfluss der Arbeiter auf die Politik der Partei geschwächt. Die dramatisch gefallene Mitgliederzahl von 300.000 nach dem Zweiten Weltkrieg auf 50.000 heute hatte schon allein diese Konsequenz. Aber hinzu kommen eigene Entscheidungen der Partei, die einen schleichenden Übergang weg von der Mitgliederdemokratie hin zum Einfluss von aus Steuern oder von Gewerkschaften bezahlten Parteifunktionären und Medienberatern auf die Parteiorganisation. Der von Nyrup Rasmussen im letzten Jahr bestellte Vorschlag des Beratungsunternehmens Innovator, 30 "moderne" Botschafter für die Partei zu benennen und die Macht der Parteigruppierungen zu begrenzen, war nur eine Fortsetzung dieser Entwicklung.

Aus: Socialistisk Information Nr. 172 (Januar 2003)
Übers.: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 380/381 (Juli/August 2003).