EU-Renten"reform" -- Die europäische Bourgeoisie mag das paritätische Umlageverfahren nicht

Die Renten"reformen", die heute in vielen Ländern Europas angekündigt sind und gegen die die ArbeiterInnen in Österreich und Frankreich heute auf die Straße gehen, folgen alle einem Gesamtprogramm der europäischen, ja der internationalen Bourgeoisie.

Michel Husson

Erinnern wir uns an den Gipfel von Barcelona im Frühjahr 2002, bei dem sich alle Regierungs- bzw. Staatschefs der EU auf das Ziel verständigt haben, das tatsächliche Renteneintrittsalter um 5 Jahre hochzuschrauben. Unter ihnen waren auch Chirac (der zu diesem Zeitpunkt schon Präsident war) und Jospin (der noch Premierminister war). Beide stimmten dieser Verpflichtung zu, was in krassem Gegensatz zu ihrem jeweiligen Präsidentschaftswahlprogramm stand. Neben und über der EU gibt es noch die Weltbank, die gerade einen Bericht unter dem Titel "Pension Reform in Europe: Process and Progress" herausgebracht hat, den man gewissermaßen als Handlungsanleitung zur Umsetzung der aktuellen "Reformen" begreifen kann.

In allen Ländern werden zwei Rechtfertigungen für diese Vorhaben angeführt: eine demographische ("Es gibt bald so viele RentnerInnen, dass die Renten nicht mehr bezahlt werden können") und eine wirtschaftliche ("Die Sozialbeiträge [in Deutschland die berühmten "Lohnnebenkosten", d. Red.] können nicht noch weiter steigen"). Überall zielen die "Reformen" darauf ab, zumindest das Niveau des Umlagesystems abzusenken und später einzufrieren; gleichzeitig versuchen sie, die Pensionsfonds zu entwickeln. Abgesehen von gewissen Unterschieden, die von einem Land zum nächsten existieren, muss man doch staunen, wie gut koordiniert diese Offensive vonstatten geht. Die Prinzipien dieses regelrechten Krieges gegen das Umlageverfahren wurden in verschiedenen offiziellen Dokumenten dargelegt. Die Strategie unterscheidet zwei Arten der Reformen, die "parametrischen und die paradigmatischen Reformen. Im zweiten Fall wechselt man in brutaler Form vom Umlageverfahren zu den Pensionsfonds. Starke Widerstände zwingen die "Reformer" unter Umständen auf die "parametrische" Reform zurückzugreifen, die formell das [gegebenenfalls paritätisch finanzierte] Umlageverfahren beibehält, es aber mehr und mehr seines Inhalts beraubt. So ziemlich überall kommen dabei die gleichen Vorgehensweisen zur Anwendung: Verschärfung der Bestimmungen für die jährlichen Rentenanpassungen, Absenkung des Rentenniveaus aufgrund der veränderten Lebenserwartung (wie in Italien und Schweden angewandt) oder die Anhebung des Renteneintrittsalters. Gerade die letztgenannte Methode ist besonders zynisch, denn sie schmückt sich mit einem vorgeblichen "Vernünftigkeitsargument" ("da wir länger leben, müssen wir auch länger arbeiten"). Die Wirklichkeit sieht jedoch so aus, dass aufgrund der Lage auf dem Arbeitsmarkt und des Verschleißes der Arbeitskraft wegen der Intensivierung der Arbeit die Betroffenen nicht länger arbeiten werden, dafür aber umso weniger Rente erhalten. Zudem werden diese Mechanismen nur die Ungleichheiten aus dem Arbeitsleben noch vergrößern und besonders die Frauen und die ungeschützt Beschäftigten treffen.

Langfristig zielen diese Maßnahmen auf eine zu hundert Prozent kapitalgedeckte Rentenversicherung und die Zerstörung jeglicher kollektiver Absicherung. Dabei genügt es, sich die Länder anzuschauen, in denen das System der Pensionsfonds am weitesten entwickelt ist, um das Ausmaß der Risiken einer solchen Orientierung zu erfassen. Erinnern wir uns nur an den Zusammenbruch von Enron (vgl. Inprekorr 367), der die Beschäftigten nicht nur den Arbeitsplatz kostete sondern gleichzeitig auch die Rentenansprüche, die sich mit dem Sturz der Enron-Aktie -- Vorzeigestück des "Neuen Marktes" -- weitgehend in Luft auflösten. Der seit über zwei Jahren sich in Raten vollziehende Börsencrash hat die Pensionsfonds kräftig geschröpft und viele Lohnabhängige müssen heute schon entweder länger arbeiten oder größere Rentenkürzungen hinnehmen. Wenn mensch zusätzlich zu diesem permanenten Risiko noch bedenkt, dass sich eine Kluft auftut zwischen denen, die für ihre Rente sparen können und jenen, die es nicht können, so gibt es genügend Gründe, diese "Reformen" zu bekämpfen.

Die wilde Entschlossenheit der Bourgeoisie ist leicht zu erklären. Für das Finanzkapital versteht es sich von selbst, dass der Aufbau von Pensionsfonds seine Profitmöglichkeiten ausweitet. Der ständige Zustrom neuer Sparer stützt -- über die Ausgabe neuer Aktientitel -- die entsprechenden Kurse. Das ist übrigens eine wahre Flucht nach vorne, denn der Sturz wird noch dramatischer sein, wenn sich das Verhältnis zwischen den neuen RentnerInnen -- die also ihre Aktien verkaufen -- und den noch Erwerbstätigen umkehrt, die diese Aktien über ihre Pensionsfonds kaufen.

Es ist klar, dass die Blockierung des Umlagesystems sich voll deckt mit dem neoliberalen Willen, die Sozialetats so weit wie nur irgend möglich zu beschneiden. Und das ist noch nicht das Ende: Die ganze neoliberale Politik hat nichts mehr und nichts weniger zum Ziel als den Preis der Ware Arbeitskraft kräftig zu drücken und zwar über die größtmögliche Beschneidung der vom Kapital zu zahlenden Sozialbeiträge.

In dieser Debatte über die Renten kann mensch auch eine der großen Ängste der Bourgeoisie erkennen, dass nämlich die demographische Entwicklung einen solchen Mangel an Arbeitskräften hervorruft, dass dies zu einer relativen Vollbeschäftigung führt, was das Kräfteverhältnis zugunsten der Lohnabhängigen verändern würde. Aus diesem Grund benennt die "Europäische Beschäftigungsstrategie" für die Senkung der Arbeitslosenrate überhaupt kein Ziel, sondern ist nur bestrebt, die Prozentzahlen der Erwerbstätigen zu erhöhen. Es geht darum, viele Stellen zu schaffen, selbstverständlich ungeschützt und schlecht bezahlt, um ständig das zu reproduzieren, was Marx die "industrielle Reservearmee" nennt. Die Positionsänderung seitens des Kapitals in Sachen Einwanderung lässt sich nur so erklären. Die bürgerlichen Renten"reformen" sind also für die Herrschenden in jeder Hinsicht förderlich. Wenn die Lohnabhängigen länger arbeiten wollen und können, wird dies den Druck hoher Arbeitslosenzahlen aufrecht erhalten, vor allem bei den jungen Menschen; wenn die Menschen im selben Aller wie vor der "Reform" in Renten gehen, müssen sie sich mit einer geschmälerten Rente begnügen und gleichzeitig sinkt damit der Wert der Ware Arbeitskraft. Unter dem Deckmantel technischer Anpassungen an unvermeidbare demographische Entwicklungen eingebracht stellen die Reformen im Endeffekt nichts anders dar als eine bisher noch nicht da gewesene Offensive gegen den Lebensstandard der Lohnabhängigen.

Michel Husson ist Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac-Frankreich.
Übersetzung: D. B.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 380/381 (Juli/August 2003).