Dänemark

Sozialdemokratie auf dem Weg -- wohin?

Die Erneuerung der dänischen Sozialdemokratie war nicht von langer Dauer. Hintergrund sind unter andrem Veränderungen in den Gewerkschaften und in ihrem Verhältnis zur Partei.

Jørgen Arbo-Bæhr

Solange der Verfasser dieser Zeilen zurück denken kann -- also mindestens seit Anfang der 70-er Jahre -- hat zumindest die politische Linke von der Krise der Sozialdemokratie und dem baldigen Tod des Reformismus gesprochen. Nun ist sie wieder da, die Krise. Aber dieses Mal -- also nach der Wahlniederlage [1] von 2001 -- zeichnet sie sich dadurch aus, dass auch in den eigenen Reihen der Partei von einer Krise gesprochen wird.

Wenn Sozialdemokraten selbst von einer Krise sprechen, meinen sie zu allererst eine Leitungskrise. Die Wahlniederlage spiegelte wider, dass Poul Nyrup [Rasmussen] sich festgefahren hatte und nach neun Jahren als Parteivorsitzender müde geworden war. Neue Kräfte wurden gebraucht.

Die Frage ist, ob sich die Krise auf eine Leitungskrise reduzieren lässt, oder ob man von einer tieferen Krise der Politik der Partei im Verhältnis zu ihrer sozialen Basis, die sich vor allem in der Gewerkschaftsbewegung findet, sprechen muss. Hatte Anders Fogh [Rasmussen] recht, als er in seiner ersten Neujahrsansprache als Ministerpräsident sagte, das vorige Jahrhundert sei das Jahrhundert der Systeme, des Kollektivs und der Sozialdemokratie gewesen, während das kommende das Jahrhundert der Freiheit, des Individuums und des Liberalismus' sei?

In diesem Fall würde sich die Frage stellen, was dies für die Möglichkeiten der Sozialdemokratie bedeutet, wieder aus der Krise heraus zu kommen.


Die Epoche der Erneuerung


Als Poul Nyrup die Kampfabstimmung um den Parteivorsitz gegen Svend Auken 1992 gewann, war deutlich, dass die Mehrheit der Partei meinte, eine Erneuerung sei nötig, wenn die Partei wieder in die Regierungsverantwortung zurückkehren solle. Erneuerung im Sinne von mehr Platz für Individualismus und privates Unternehmertum im Gegensatz zu alten sozialdemokratischen "Tugenden" wie Kollektivität und Solidarität. In der praktischen Politik erstreckte sich die Erneuerungsforderung von einer positiveren Haltung zu Entlassungen und Privatisierungen bis hin zu neuen und besseren Autobahnen, freier Krankenhauswahl und individuellem Unterricht in den Schulen.

Dies hing u.a. mit den häufig angesprochenen Verschiebungen in der sozialen Stellung der sozialdemokratischen Wähler und Mitglieder hin zu höherer Ausbildung und selbstständigen Arbeitsbedingungen zusammen. Diese Änderungen erfolgten natürlich nicht von einem auf den anderen Tag am Anfang der 90er Jahre. Aber sie eröffneten die Möglichkeit, die eherne Erbfolge zu brechen, nach der ein sozialdemokratischer Vorsitzender stets seinen Nachfolger ohne Widerrede auswählen konnte.

Die Erneuerung mit Poul Nyrup als Vorsitzendem war zunächst ein donnernder Erfolg. Bereits 1993 saß die Sozialdemokratie wieder auf den Regierungssesseln; sie gewann die Wahlen 1994 und noch einmal knapp 1998. Und es gab sogar eine Erneuerung, wenn auch in begrenztem Umfang. Es gab eine Öffnung für Entlassungen in breiteren sozialen Bereichen. Die Arbeitsmarktpolitik, der epochalste Bruch mit der sozialdemokratischen Tradition, basierte auf dem Grundsatz, erst zu geben, bevor man nehmen könne ("yde for at nyde"). Man ist verleitet zu sagen, dass die Arbeitslosen viel geben sollten, um ein wenig zu nehmen. Es gab die freie Wahl des Krankenhauses, individuellen Unterricht und Ausbau der Autobahnen.

Besonders in einem Punkt kam die Erneuerung, gewürzt mit sozialdemokratischem Systemdenken, zur vollen Entfaltung, nämlich beim Eingriff in die Vorruhestandsregelung. Ein Eingriff, den sich die rechtsliberale Venstre mit Anders Fogh [Rasmussen] an der Spitze ausgedacht hatte. Der dann aber von der sozialdemokratischen Regierung mit Poul Nyrup und Mogens Lykketoft als Verantwortlichen umgesetzt wurde.

Man kann also Poul Nyrup nicht beschuldigen, seine Erneuerungsversprechen gebrochen zu haben. Das Problem ist nur, dass dies ganz offensichtlich keine dauerhafte Lösung war, um die Sozialdemokratie an der Macht zu halten. Drei Probleme springen sofort ins Auge.

Zum ersten war die Regierung geprägt von einem immer mehr buchhalterischen Umgang mit politischen Problemen. Das beste Beispiel ist der Eingriff in den Vorruhestand, wo die Verantwortlichen fest überzeugt davon waren, dass das, was sie planten, richtig für die Volkswirtschaft sei. Abgesehen von der Frage, ob sie damit Recht hatten oder nicht, machten sie sich nicht die Mühe einer ideologischen Offensive, um beim Volk Verständnis für den Eingriff zu schaffen. Diese "Wir sind die Besten"-Haltung tendiert zu politischem Selbstmord, und ihn zu vollenden gelang diesmal wohl auch.

Zum zweiten gab die sogenannte Erneuerung vielleicht auch positive Ergebnisse für einige Gruppen der Bevölkerung. Die Besserverdienenden, die "starken" Arbeitslosen, die in Arbeit kamen, u.a. Aber auf der einen Seite wurde eine große Gruppe von Arbeitslosen, Ungelernten mit zermürbenden Jobs und Jugendlichen im Stich gelassen, und auf der anderen Seite waren die "Gewinner" nur halbe Gewinner, denen reine bürgerliche Parteien vielleicht hätten mehr bieten können.

Und schließlich trug die Erneuerung zur Aufspaltung der Basis der Sozialdemokraten in der Gewerkschaftsbewegung bei, die schon in den 80er Jahren begonnen hatte. Eine Aufspaltung zwischen den Apparaten und den Mitgliedern.


Verhältnis zur Gewerkschaft


Die Stärke der Sozialdemokraten war stets -- und ist immer noch -- die enge Verbindung zur Gewerkschaftsbewegung. Der ursprüngliche Ausgangspunkt war wie bekannt das Bild von den zwei Beinen der Arbeiterbewegung: dem gewerkschaftlichen und dem politischen (wobei wir hier vom dritten Bein absehen, den Genossenschaften). Dies hatte durch alle Zeiten unschätzbare Bedeutung für die Sicherung breiter Unterstützung der Sozialdemokraten in einem Land, dessen Organisationsgrad um 80% liegt.

Aber auf verschiedene Weise schwächte die gesellschaftliche Entwicklung die Bedeutung dieser engen Verbindung. Zum ersten ist es nur die LO, die sich selbst als sozialdemokratisch definiert, während sowohl FTF als auch AC [2] sich formell wie auch real als überparteilich betrachten und insofern keine organisatorische Verantwortung zur Unterstützung der Sozialdemokraten übernehmen. Doch muss man ergänzen, dass es auch in den Verbänden der öffentlichen Angestellten und der Akademiker politische Filter gibt, die die sozialdemokratische Dominanz in den Gewerkschaftsführungen sichern.

Zum anderen hat die Bürokratisierung der Gewerkschaftsbewegung zusammen mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu einer Passivierung der Arbeiterbevölkerung in den letzten Jahrzehnten geführt. Dies hatte vor allem zum Verfall der politischen Autorität der Gewerkschaftsführer beigetragen; gleichzeitig haben viele einfache Mitglieder zu Recht das Vertrauen in kollektive und solidarische Lösungen verloren, die trotz allem immer noch ein Punkt sind, der Sozialdemokraten von bürgerlichen Parteien unterscheidet.

Es soll noch hinzugefügt werden, dass die sozialdemokratische Arbeiterbewegung nie eine Antwort auf die Frage gefunden hat, wie das Verhältnis zwischen Gewerkschaftsbewegung und Partei aussehen soll, wenn die Partei an der Regierung ist. Eine Frage, die aus der Zeit der ersten sozialdemokratischen Regierung in den 20er Jahren stammt und die unter den Stauning-Regierungen in den 30er Jahren fast zur Spaltung der Gewerkschaftsbewegung in zwei gleich große Teile geführt hätte.


Eine neue Gewerkschaftsbewegung


Unter der Nyrup-Regierung hat sich diese Entwicklung in den Gewerkschaften beschleunigt. Eine Entwicklung hin zu einem selbstständigen politischen Profil und einer Effektivierung der Apparate. Hintergrund ist das Verständnis der Gewerkschaftsbürokratie von ihrer eigenen Rolle in Verbindung mit Dezentralisierung der Tarife, EU-Integration und Globalisierung. Die traditionellen gewerkschaftlichen Aufgaben sollen lokal an den einzelnen Arbeitsplätzen gelöst werden, während sich die Gewerkschaftsspitzen um Verhandlungen mit der Regierung und internationalen Organen kümmern.

Was die Bestrebungen um eine Effektivierung der Apparate angeht, so läuft es schleppend, nicht zuletzt wegen des tief verwurzelten Konservativismus', der die Gewerkschaftsbürokratie prägt. Bislang ist beim Zusammenlegen von Gewerkschaften geblieben, ohne sichtbare Auswirkungen auf die Größe der Apparate. Und dem Versuch, die lokale, gewerkschaftsübergreifende Zusammenarbeit zwischen LO-Kreisen und -Bezirken zu effektivieren, war auch nur ein begrenzter Erfolg beschieden.

Im Gegensatz dazu gab es einen wahren Erdrutsch bei der Ablösung der LO von der Sozialdemokratie. Der erste Schritt wurde auf dem Kongress 1995 unternommen, wo die gegenseitige Vertretung in den Vorständen von LO und Sozialdemokratie aufgehoben wurde.

Nun, acht Jahre später, wird der nächste Schritt geplant; auf dem diesjährigen Kongress schlägt der Hauptvorstand folgende Änderungen vor:

  1. Eine neue Wertegrundlage, die u.a. von der Polarisierung zwischen starken Lohnempfängergruppen und den sozial Ausgestoßenen ausgeht.
  2. Eine neue gewerkschaftspolitische Grundlage, die alle Verbindungen der LO zur Sozialdemokratie kappt, u.a. durch Abschaffung der Parteiunterstützung (im Jahre 2001 erhielten die Sozialdemokraten 7,4 Mio. Kronen Betriebszuschuss und weitere 6,4 Millionen im Zusammenhang mit der Wahl [jeweils ca. 1 Mio. Euro -- d.Red.].) Dies steht in Zusammenhang mit dem Ziel der LO, sich mit FTF und AC zusammenzuschließen.
  3. Eine neue Entscheidungsstruktur, die den Einzelgewerkschaften größeren Einfluss gewährt.
  4. Neue Prinzipien zur Behandlung von Grenzstreitigkeiten, wo die Einzelgewerkschaften größere Verantwortung bekommen sollen.

Losgelöste Sozialdemokraten


Diese Entwicklung in der Gewerkschaftsbewegung hinterlässt tiefe Spuren bei den Sozialdemokraten. Beispielsweise war es bemerkenswert, dass sich praktisch kein Gewerkschaftsführer aktiv zu dem gerade vollzogenen Wechsel an der Parteispitze verhalten hat. Die Wahl von Mogens Lykketoft wurde praktisch nur zur Kenntnis genommen und Poul Nyrup bekam ein paar freundliche Abschiedsworte in der Gewerkschaftspresse.

Abgesehen vom Auftreten eines einzelnen Funktionärs aus Mittel-Seeland gegen Mogens Lykketoft gab es nicht das geringste Anzeichen irgend einer Opposition gegen die Herrschenden. Im Großen und Ganzen kann man auch kaum von Opposition in der Partei sprechen, auch wenn es natürlich immer ein paar Reibereien um die Führungsposten gibt.

Zunächst deutet also alles darauf hin, dass die Sozialdemokraten weiter durch die Krise balancieren werden, sowohl politisch wie auch führungsmäßig. Dazu kommt nun, dass die Bestrebungen der LO-Führung, die Bindungen zu kappen, ernste Bedeutung für die soziale Basis bekommen können, die die Sozialdemokratie mit heiler Haut durch frühere Krisen rutschen ließ.


Ein anderer Weg


Nun ist es ja nicht nur das Tun und Lassen der Spitzen der Gewerkschaftsbürokratie und der Sozialdemokratie, das Bedeutung für die Entwicklung hat. Schon das erste Jahr mit Anders Foghs Regierung hat Tendenzen zu neuen Entwicklungen aufgezeigt, die nicht von der LO-Spitze definiert wurden.

Die Entwicklung der linken Gewerkschaftskoordination "Fagligt Ansvar" [Gewerkschaftliche Verantwortung] ist u.a. definiert als Forum zur Entwicklung einer "anderen" Politik in der Arbeiterbewegung in Verbindung mit der Stärkung gewerkschaftlicher Aktivität. Gleichzeitig soll "Fagligt Ansvar" auch eine enge Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten in der Gewerkschaftsbewegung entwickeln. Es ist also nicht die Rede von einer scharfen Opposition links von den Sozialdemokraten, sondern eher von einem Versuch, die sozialdemokratische Politik "nach links" zu entwickeln.

Soweit es "Fagligt Ansvar" gelingt, die gewerkschaftlichen Aktivitäten zu stärken und eine politische Antwort gegen die bürgerliche Regierung zu entwickeln, wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach die Sozialdemokratie stärken und da durch der viel erwähnten Krise entgegen wirken. Wie so oft zuvor gibt es also andere Möglichkeiten für die Sozialdemokratie, also sich nur näher und näher an den Rand des Abgrunds zu bewegen.

Aus: Socialistisk Information Nr. 172 (Januar 2003)
Übersetzung und Anmerkungen: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 380/381 ( Juli/August 2003).


[1] Bei der Folketingswahl vom 20.11.2001 verloren die Sozialdemokraten 11 Mandate (von 63), während die rechtsliberale "Venstre" 14 und die ausländerfeindliche "Dansk Folkeparti" ("Islam ist keine Religion, sondern eine Terrororganisation") 9 Mandate hinzu gewannen.
[2] Die LO [Landsorganisationen] entspricht etwa dem deutschen DGB, während der FTF [Funktionærernes og Tjenestemændenes Fællesråd - Gemeinsamer Rat der Angestellten und Beamten] der früheren DAG vergleichbar ist. AC [Akademikernes Centralorganisation] ist ein Zusammenschluss 22 kleinerer Gewerkschaften akademischer Berufe. Internet-Adressen: http://www.lo.dk, http://www.ftf.dk, http://www.ac.dk.