Europäisches Sozialforum

ESF: Fünf Tage intensiver Debatten und Mobilisierungen

Ein Jahr nach dem ersten Europäischen Sozialforum in Florenz wird nun vom 13. bis 15. November in Paris und in drei Städten des, wie man früher gesagt hat, „banlieue rouge“ [in etwa: rotes Umland], nämlich Saint-Denis, Bobigny und Ivry, das zweite stattfinden. Es kann der sozialen Bewegung und der globalisierungskritischen Bewegung eine Gelegenheit bieten, bei der Infragestellung des liberalen Europa und bei der Umsetzung von Kampagnen und Mobilisierungen für ein soziales und demokratisches Europa der abhängig Beschäftigten und der Völker einen weiteren Schritt voranzukommen.

Leonce Aguirre

Die 60 Konferenzen und die 250 Seminare, die von Donnerstag Morgen bis Samstag Morgen vorgesehen sind, decken alle Aspekte der liberalen Politik ab. Fünf große Achsen sind festgehalten worden:

  1. Gegen den Krieg, für ein Europa des Friedens und der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Weltoffenheit.
  2. Gegen den Neoliberalismus, gegen das Patriarchat, für ein Europa der sozialen und der demokratischen Rechte.
  3. Gegen die Logik des Profits, für eine Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit, der ökologischen Nachhaltigkeit und für die Nahrungsmittelsouveränität.
  4. Gegen den Prozess der Vermarktung, für ein demokratisches Europa in den Bereichen Information, Kultur, Bildung.
  5. Gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung, für Rechtsgleichheit, für den Dialog der Kulturen, für ein den MigrantInnen, den Flüchtlingen, den AsylbewerberInnen gegenüber aufnahmebereites Europa.

Zu diesen fünf allgemeinen Achsen kommen strategische Fragen und Themen hinzu: der Beitrag des Feminismus zur sozialen Bewegung, der Kampf gegen die extreme Rechte oder die Tragweite und Dynamik der Sozialforen in den kommenden Jahren; eine Öffnung hin zur übrigen Welt, damit eine zu ausschließlich europäische Sichtweise bei der Antwort auf die kapitalistische Globalisierung vermieden werden kann; eine Auseinandersetzung über politische Parteien und soziale Bewegungen sowie schließlich eine Reihe von Fragen, die im allgemeinen unterschätzt werden, wie Behinderung, Kinderrechte, Fragen der Städteplanung, nationale Fragen oder der Islam.

Dieses Kaleidoskop hat den großen Vorteil, dass es möglich wird, den unterschiedlichen Widerständen und Mobilisierungen gegen die Folgen der kapitalistischen Globalisierung eine Kohärenz zu geben, zu zeigen, dass alles miteinander zusammenhängt und dass diese unterschiedlichen und pluralen Widerstände nur dadurch einen siegreichen Ausgang nehmen können, dass sie sich vereinigen, dass sie eine Kohärenz und ein alternatives Projekt zum Kapitalismus herausbilden. Zur Zusammenführung dieser Widerstände beizutragen und so konkret wie möglich zu zeigen, dass die Erfüllung der Forderungen und der Bestrebungen, von denen sie getragen werden, nicht ohne einen Bruch mit der Logik des Kapitalismus, nicht ohne eine Infragestellung des Privateigentums auskommen wird, das ist eines der Dinge, um die es bei diesem ESF gehen wird.

Am Mittwoch, den 12. November, wird die Europäische Versammlung für die Rechte der Frauen stattfinden; sie gehört zu dem Prozess des ESF, selbst wenn sie formell nicht Teil desselben ist. Das Ziel dieser Initiative besteht darin – wie es in dem Aufruf zu dieser Versammlung heißt –, „die Fragen im Zusammenhang mit der Unterdrückung der Frauen sichtbar werden zu lassen, die neoliberalen Politiken, durch welche die Unterdrückung verschärft wird, anzuprangern, die Kämpfe der Frauen und die feministischen Organisationen aufzuwerten“ und darauf hin zu wirken, dass diese Fragen danach in das ESF als solchem insgesamt getragen und dort aufgegriffen werden. Denn – wie in dem Aufruf weiter zu lesen ist – „die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen und das Fortbestehen des Patriarchats sichtbar werden zu lassen, die Herrschaftsverhältnisse Männer/ Frauen in Frage zu stellen, ist auch eine Bedingung dafür, dass gemeinsam mit den Frauen ein anderes Europa in einer anderen Welt aufgebaut werden kann“.

Die Demonstration am Samstag dürfte gigantisch groß werden, da es ja um eine ganze Reihe von Zielen geht – gegen das Europa des Liberalismus, für ein soziales und demokratisches Europa der arbeitenden Menschen und der Völker – und da sie für die Forderungen der sozialen und der globalisierungskritischen Bewegung eintritt: Verteidigung der öffentlichen Dienste, der sozialen Sicherungssysteme und Renten, Ablehnung jeglicher Diskriminierung, Verbot von Entlassungen, Gegnerschaft zum Krieg und zu einem kriegerischen Europa, Protest gegen die Käuflichkeit und Verkäuflichkeit sämtlicher menschlicher Tätigkeiten und gegen die Zerstörung des Planeten. Natürlich auch mit einer Dimension gegen Raffarin und Chirac, eine sehr wichtige Bedingung für eine massive Mobilisierung in Frankreich.

Schließlich wird die Versammlung der sozialen Bewegungen so etwas wie einen krönenden Abschluss dieser fünf Tage der Mobilisierung bilden. Wo doch das Jahr 2004 – mit der Umsetzung der neuen Verfassung, der Ausweitung der Europäischen Union und einer verstärkten Liberalisierungsoffensive gegen die sozialen Errungenschaften und die öffentlichen Dienste – ein Schlüsseljahr werden wird, wird es sehr wichtig und von Nutzen sein, dass von dieser Versammlung ein Aufruf zur Verteidigung der sozialen Rechte ausgehen wird, der als Hebel für die kommenden Mobilisierungen dienen kann, mit der Vorbereitung einer gemeinsamen Aktion an einem bestimmten Termin auf europäischer Ebene.

Für die weitere Mobilisierung gegen den Krieg zeichnen sich zwei Termine ab, die von der Versammlung aufgegriffen werden könnten. Zum einen soll zwischen Weihnachten und Neujahr eine Karawane gegen den Krieg und alle Besetzungen organisiert werden, die durch Palästina, Irak und Kurdistan fahren könnte. Die Versammlung der sozialen Bewegungen könnte sich außerdem den Aufruf zu eigen machen, der von 200 Organisationen aus den USA ausgeht und zu Demonstrationen am 15. März nächsten Jahren aufruft – ein Jahr nach dem Beginn der Bombardierung Bagdads – und sich gegen die Besetzung des Irak richtet.


EIN TREFFEN, DAS MAN NICHT VERPASSEN SOLLTE


Über die Alternativen und Antworten auf die kapitalistische Globalisierung und die Formen, die sie in Europa annimmt, die europäischen Netzwerken auf allen Gebieten zu verstärken, für die Mobilisierungen auf der Ebene des ganzen Kontinents einzutreten – dies sind wesentliche Elemente für einen wirkungsvollen Kampf gegen die liberale bzw. neokonservative Offensive, deren Ziel darin besteht, all die über einem halben Jahrhundert durchgesetzten sozialen Errungenschaften wegzufegen. Seit einigen Dutzend Jahren ist der Internationalismus verhöhnt worden, gab es ihn so gut wie nicht mehr. Die weltweiten und kontinentalen Sozialforen sind ein unersetzbarer Rahmen für die Überwindung dieser Situation. Sie können es möglich werden lassen, dass die Arbeiterbewegung und die sozialen Bewegungen die notwendigen Konvergenzen schaffen, um dem Bestreben eine wirkliche Glaubwürdigkeit zu verleihen, das auf der ganzen Welt in den Widerständen, den Kämpfen, den Mobilisierungen hervortritt, dass nämlich eine andere Welt möglich ist. Eine Welt ohne Ausbeutung, in der alle Formen von Ausbeutung verbannt sind, eine Welt, in der Reichtum sich nach der freien Zeit bemisst, eine Welt, in der die großen ökologischen Gleichgewichte respektiert werden. Das zweite Europäische Sozialforum kann zu einem Schritt in diese Richtung werden. Es ist ein Treffen, das man nicht verpassen sollte!

Übersetzung: Friedrich Dorn



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 384/385 (November/Dezember 2003).