François Ollivier
Dieser Bericht knüpft an die Resolutionen und Berichte des 15. Weltkongresses an und spiegelt die Diskussionen und die Aktivitäten der wichtigsten Sektionen der Internationale, unserer Stärken, aber auch unserer Schwächen und Grenzen. Er bietet keinen erschöpfenden Überblick über die politische Weltlage und die Gesamtheit der Probleme, die sich in den fünf Kontinenten stellen, sondern behandelt maßgebliche Aspekte der gegenwärtigen internationalen Lage, die Einfluss haben können auf wichtige Fragen nach unserer Zielsetzung, mit denen wir konfrontiert sind.
Bevor auf neue Entwicklungen der Weltlage seit dem letzten Weltkongress eingegangen wird, zur Erinnerung die am letzten Kongress der Internationale festgehaltenen Fixpunkte, an denen sich unsere allgemeine Einschätzung der aktuellen Periode orientiert:
1.1 Ein für die Weltlage bestimmender Krieg
Der Irakkrieg bestätigt folgende Beurteilung:
Für die Vereinigten Staaten geht es darum, in einer Welt, deren Herrschaftsformen differenzierteren und hierarchischer sind als je zuvor, den Prozess der Wert- und Reichtumsschöpfung bzw. -aneignung zu kontrollieren.
1.2 Stockende Entwicklung im Irak
Diese Versuche, die Kontrolle zu erlangen, stoßen aber auf Hindernisse. Die militärische Besetzung des Irak mündet für die Amerikaner gegenwärtig in ein Chaos. Während die Erdölproduktion auf 2,8 Millionen Barrel angestiegen ist und damit höher liegt als während des Embargos, findet in der irakischen Gesellschaft ein Zersetzungsprozess statt: 70 Prozent der Erwerbstätigen sind arbeitslos, die Armut ist sprunghaft angestiegen, die Nahrungsmittelhilfe wurde eingestellt, politischreligiöse Parteien leisten Widerstand und es entstehen Formen militärischen Widerstands.
Die zur Zeit wahrscheinlichste Prognose ist, dass sich die Vereinigten Staaten in eine Sackgasse manövrieren.
Die amerikanische Presse verweist zwar auf die Unterschiede zur amerikanischen Intervention in Vietnam, beginnt aber dennoch, das "Gespenst eines neuen Vietnams an die Wand zu malen. In dieselbe Richtung deutet die Entwicklung in den Vereinigten Staaten, selbst was die öffentliche Meinung und die einfache Bevölkerung betrifft. Es dominiert die Sorge über die Dauer der militärischen Besatzung, die Zahl der getöteten SoldatInnen, mögliche neue Einberufungen zur Entsendung neuer Kontingente usw.
2.1 Der Irakkrieg als Wende?
Während des Irakkrieges sind die innerimperialistischen Widersprüche voll aufgebrochen. Darin zeichnen sich die Haupttendenzen der Neugestaltung der globalen Zusammenhänge zwischen Staaten und Völkern, des Verhältnisses zwischen Europa und Amerika bzw. der Beziehungen zwischen den USA, Russland und China ab.
Den Amerikanern geht es darum, den "Multilateralismus oder das, was man üblicherweise als solchen bezeichnet, also eine bestimmte Art internationaler Beziehungen, die durch internationale Institutionen wie die UNO, die UNESCO, die WTO, die Weltbank, den IWF usw. gesteuert werden, in Frage zu stellen. Diese Organisationen segnen das die imperialistischen Mächten begünstigende globale Kräfteverhältnis ab und sind durchwegs Herrschaftsinstrumente des Imperialismus, auch wenn sie zum Teil angesichts der systeminternen Widersprüche schlecht funktionieren.
Was Europa betrifft, geht es nicht um den Widerstand des "alten Europas, sondern -- schematisch gesagt -- um den Gegensatz zwischen zwei Lagern: der französisch-deutschen Achse einerseits, die sich gegen die Vereinigten Staaten stellt, und dem Lager Großbritanniens, Spaniens, Italiens, der Niederlande, Dänemarks und der osteuropäischen Länder andererseits, die die Vereinigten Staaten unterstützen. Diese Gegenüberstellung ist insofern schematisch, als es durchaus zu Verschiebungen kommen kann. Doch der Gegensatz zwischen Vereinigten Staaten und Europa ist überlagert durch innereuropäische Widersprüche.
2.2 Bedeutung und Grenzen dieser Spannungen
Diese Widersprüche reichen über die Konflikte hinaus, die während des Irakkriegs aufgetreten sind. Sie verweisen auf die scharfen Widersprüche der Wirtschaft unter den Zwängen der liberalen Gegenreform, die sowohl in Schlüsselsektoren wie der Stahlindustrie, der Luftfahrt und dem Nahrungsmittelsektor als auch in den Beziehungen zwischen der Dollar- und der Eurozone bestehen. Ebenso zeugen sie von den geopolitischen Konflikten zwischen der amerikanischen Vormacht und den europäischen Positionen.
Neue Gegensätze zeichnen sich zwischen den Vereinigten Staaten, Russland und China, aber auch zwischen den Vereinigten Staaten und den aufstrebenden "Mächten wie Brasilien und Indien ab. Mit der atomaren Schlagkraft einiger Staaten sind auch die bewaffneten Konflikte zwischen kapitalistischen Mächten nicht außer Acht zu lassen.
Zahlreiche zentrifugale Tendenzen, die jahrelang durch ein System des Gleichgewichts zwischen dem Imperialismus und der Sowjetbürokratie eingedämmt waren, kennzeichnen die neue Weltlage. Sie bringen einen der systemimmanenten Widersprüche des Kapitalismus zum Ausdruck. Diese Widersprüche haben nicht dieselbe Tragweite wie die Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Es ist nicht das erste Mal, dass im Zuge internationaler Krisen Konflikte zwischen kapitalistischen Staaten auftreten, beispielsweise in den Sechzigerjahren der Gegensatz zwischen der amerikanischen Politik und jener von De Gaulle. Die Tragweite dieser Widersprüche darf nicht überschätzt werden, denn sie werden von beiden Seiten aus wohl verstandenen Wissen um die Interessen beider Seiten in Zaum gehalten. So haben die Vereinigten Staaten im Irak zwar einseitig gehandelt und Frankreich und Deutschland sich dem amerikanischen gewaltsamen Durchmarsch zum Wiederaufbau des Irak widersetzt. Dennoch ist die Regierung Bush auf die Zusammenarbeit der anderen imperialistischen Mächte, insbesondere unter Ägide der UNO, angewiesen.
Doch im Gegensatz zur Weltsicht derer, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 auf den Aufbau einer neuen Weltordnung, eine sozioökonomische und politische Stabilisierung und die Abnahme von Widersprüchen aller Art (zwischen Klassen, aber auch zwischen Staaten) gesetzt haben, ist die Weltlage geprägt durch eine Zunahme von vielfältigen Konflikten und Unruhen. Für die herrschenden Klassen ist die Welt immer unregierbarer.
Der Krieg im Irak hat gezeigt, wie verfehlt die Einschätzungen waren, die politische Weltlage trete in einen neue historische Phase der Stabilität ein. Er widerlegt Konzepte wie das des "Superimperialismus (im Sinne der widerspruchslosen Herrschaft eines einzigen Imperialismus, nämlich des amerikanischen) oder des "Empire (im Sinn eines Netzwerks von Finanzmultis, die an die Stelle der Staaten treten). Der Irakkrieg hat bestätigt, dass imperialistische Staaten real bestehen und der amerikanische Imperialismus eine vorherrschende Stellung einnimmt, aber auch, dass unter der kapitalistischen Ländern Widersprüche bestehen.
Diese Widersprüche sind allerdings nicht prinzipieller Natur, sondern gehen auf die Grundwidersprüche zwischen den Völkern und den imperialistischen Mächten, zwischen den Interessen der herrschenden Klassen und der einfachen Bevölkerung zurück. Die Berücksichtigung dieser innerkapitalistischen Widersprüche ist vor allem aus zwei Gründen sinnvoll:
Diese Gegensätze lassen nicht zuletzt Risse, Spannungen und Neueinschätzungen aufkommen. Die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA werden die Gelegenheit bieten, das Ausmaß dieser Spannungen zu beurteilen. Die Politik der neoliberalen Gegenreform und der bewaffneten Globalisierung wurden nicht erst von der Regierung Bush eingeleitet. Immerhin hat der US-Kongress die amerikanische Intervention mit den Stimmen von Republikanern wie Demokraten bei einer einzigen Gegenstimme angenommen hat. Doch die kontraproduktiven Folgen, die verfahrene Situation und das Risiko einer Destabilisierung durch die Politik des Bush-Clans werden heute von Teilen der herrschenden Klasse in den USA kritisiert. Werden diese Spannungen zu einer neuen Beurteilung der Lage und zu einem Regierungswechsel führen oder werden sie unter den Teppich gekehrt? Das ist eine der entscheidenden Fragen, um die es bei der amerikanischen Wahl geht.
Der Verlauf der kapitalistischen Offensive wird an drei Bereichen betrachtet: Entwicklungen in der amerikanischen Wirtschaftspolitik, die Europäische Integration und die Lage in Lateinamerika.
3.1 Einige Bemerkungen zur Wirtschaftslage in den USA
Die Wirtschaftsdaten deuten für 2003 auf ein erneutes Wachstum. Diese neuen Wachstumsphase ist begrenzt. Sie bringt keine neue Beschäftigung. Die durch die Suche nach neuen Produktivitätsgewinnen bedingten Umstrukturierungen und der ungewisse weitere Verlauf dieses Wiederaufschwungs verhindern die Schaffung von Stellen in größerem Ausmaß. Investitionen in Industrie und Informatik lassen auf sich warten. Vor allem aber ist diese neue Wachstumsphase geprägt durch wesentliche Ungleichgewichte der amerikanischen Wirtschaft. Das amerikanische Wachstum hängt vor allem davon ab, dass die Vereinigten Staaten den Hauptanteil des weltweiten Kapitalflusses binden.
Mit diesem aus der ganzen Welt abgesaugten Kapital lassen sich riesige Defizite ausgleichen: die laufende Rechnung, das Budgetdefizit und indirekt der Konsumentenkredit der Privathaushalte. Die Außenverschuldung der Vereinigten Staaten liegt mit rund 30 Prozent des BIP nach wie vor extrem hoch. Die Defizite steigen unter dem Druck des Militärbudgets und einer die Reichsten begünstigenden Steuerpolitik.
Dieses Absaugen von Kapital aus aller Welt hängt mit dem für die amerikanische Supermacht äußerst vorteilhaften politisch-militärischen Kräfteverhältnis zusammen. Das amerikanische Wachstumsmodell ist damit auch nicht exportierbar. Der auf der amerikanischen Wirtschaft lastende Finanzdruck bedeutet, dass nach außen die Konkurrenz zugunsten der amerikanischen Finanz- und Industriegruppen und nach innen die Ausbeutung der ArbeiterInnen verschärft wird, um eine optimale Profit- und Rentabilitätsrate zu erzielen. Damit erhöht sich der Druck auf die Löhne, auf die Kürzung des Staatshaushalts und Umstrukturierungen, die Stellenkürzungen in strategischen Bereichen wie der Automobilindustrie und den Ausbau von Subunternehmen zum Ziel haben.
3.2 Beschleunigung der liberalen Gegenreform in Europa
Eigeninteressen der herrschenden Klassen in Europa und die Auswirkungen der internationalen Konkurrenz, insbesondere zwischen Europa und Amerika, veranlassen die europäischen Regierungen zu neuen Angriffen auf die Erwerbstätigen und Erwerbslosen: Abbau des Sozialstaats, Aufsprengen des Sozialversicherungssystems in Frankreich und Deutschland, Rentenreform, Deregulierung der sozialen Beziehungen, Angriff auf das Arbeitsgesetz in Frankreich.
Diese Politik wird heute von rechten Regierungen wie unter Raffarin in Frankreich, Aznar in Spanien und Berlusconi in Italien, aber auch von Regierungen der sozialliberalen Linken unter Blair in Großbritannien sowie Schröders rotgrüner Koalition in Deutschland betrieben.
Durch diese neuen Angriffe verschärfen sich die Bedingungen des Klassenkampfs. Sie führen zum Abbau des Sozialstaats, an dessen Stelle das Strafrecht ausgebaut wird, zur zunehmenden Repression gegen ArbeiterInnen, ImmigrantInnen und deren Organisationen und Vereinigungen. Die Rechtskoalitionen sehen sich veranlasst, einen autoritären Kurs zu fahren. In einer Situation des weltweiten Zurückflutens der traditionellen ArbeiterInnenbewegung, die sich dem kapitalistischen Liberalismus angepasst hat, erleben faschistische oder neofaschistische Parteien einen beachtlichen Aufschwung. In einer Reihe von Ländern wie Italien und Österreich hat die Einbindung dieser Kräfte in autoritäre rechte Koalitionsregierungen zur Folge, dass sich die Angriffe auf die unteren Schichten verschärfen.
Auf politischer und institutioneller Ebene diskutieren die europäischen Bourgeoisien heute über die Beurteilung der Mittel, die nötig sind, um ihre Herrschaft sichern zu können. Das Scheitern der Diskussionen über den Verfassungsentwurf, so wie er ursprünglich unter Giscard dEstaing ausgearbeitet wurde, zeigt, wie schwierig es ist, die Pläne der Bourgeoisien aller 25 Länder unter einen Hut zu bringen. Es macht aber auch deutlich, dass Teile der Bourgeoisie innerhalb der französisch-deutschen Achse gewillt sind, den Aufbau einer "Supermacht Europa voranzutreiben. [1]
3.3 Die Krise in Lateinamerika
Die Lage in Lateinamerika ist durch eine tiefgreifende Instabilität, eine schonungslos neoliberale Politik, das Aufflammen sozialer Kämpfe und Bewegungen, eine von breiten Bevölkerungsschichten geteilte Ablehnung der liberalen Gegenreform sowie "nationale, mit anderen Worten verallgemeinerte soziale und politische Krisen gekennzeichnet.
Der von der US-Regierung ausgeübte Druck in Verbindung mit dem Druck seitens internationaler Institutionen wie IWF und Weltbank zwingt die Regierungen zu noch härteren Strukturanpassungsmaßnahmen und liberalen Umstrukturierungen. Der durch die Panamerikanische Freihandelszone (ALCA) oder die "ALCA light vorgegebene Rahmen begünstigt in der Produktion und im interamerikanischen Handel den nordamerikanischen Teil; die Zahlungsverpflichtungen für Auslandsschulden führen zu Einsparungen bei den Sozialausgaben, zum Abbau der öffentlichen Dienstleistungen und zu umfassenden Privatisierungen.
Am letzten ALCA-Treffen ordneten sich alle lateinamerikanischen Regierungen mit Ausnahme des venezolanischen Staatschefs Chávez den Vereinigten Staaten unter.
Die Regierung Lula hat die Einhaltung ihrer Verpflichtungen gegenüber dem IWF bekräftigt und wird sogar als eine der Musterschülerinnen betrachtet.
In Argentinien nutzt der IWF die Wirtschaftshilfe weiterhin aus und erpresst neue Umstrukturierungen in der Verwaltung, um diese rentabler zu gestalten!
In Bolivien geht es um die Privatisierung einer der wichtigsten Ressourcen, des Erdgases.
In Haiti zeigt das dort vorherrschende Chaos besonders deutlich, wozu die Mischung aus jahrzehntelanger imperialistischer Vorherrschaft, dem Zerfall eines Staates und den jüngsten Folgen der ultraliberalen Politik führen können.
Dieser Druck gibt der Korruption und dem Schmarotzertum an Gipfeltreffen der herrschenden Klassen und Staaten Auftrieb. Politische und finanzielle Machenschaften mit Unterstützung der Mafia sind ein integraler Bestandteil dieser Art von Herrschaft.
Diese neue panamerikanische Herrschaftsform unter dem Druck der Vereinigten Staaten bedeutet einmal mehr, dass ein massiver Transfer verschiedener Ressourcen zu den großen imperialistischen Konzernen und ihren Tochterunternehmen stattfindet. Die Weigerung, diesen Transfer hinzunehmen, ist in Bolivien (Ablehnung der Privatisierung der Erdgasförderung) und Venezuela (Kontrolle über die Erdölproduktion) eine der Ursachen, wieso die Bevölkerung auf die Straßen geht.
Die durch die rücksichtslose liberale Politik verursachte Instabilität hat den amerikanischen Imperialismus zu einer Wende in seiner politisch-militärischen Strategie zugunsten der Aufstandsbekämpfung in Kolumbien und Venezuela, der Vorbereitung eines Staatsstreichs in Bolivien und der Destabilisierung in Argentinien und Brasilien bewogen. Einmal mehr verengen sich angesichts der ökonomischen und strategischen Interessen der amerikanischen Vormacht der Freiraum und die Handlungsmöglichkeiten der Regierungen insbesondere für "sozialliberale Experimente.
4.1 Sozialliberale Veränderungen in der ArbeiterInnenbewegung
Die Veränderungen der kapitalistischen Akkumulationsweise und die Beschleunigung der liberalen Gegenreformen haben zu strukturellen Veränderungen in der ArbeiterInnenbewegung und den traditionellen nationalistischen Parteien geführt, die nach wie vor anhalten.
Die den globalen Beziehungen und den Interessen der herrschenden Klassen aller Länder inhärente Logik übt einen dermaßen starken Druck auf die Staaten und Regierungen aus, dass sich die linken Regierungsparteien dem Liberalismus angepasst haben. Es gibt keine andere Wahl: Wenn diese Parteien an der Regierung bleiben und die Wirtschaft sowie die Institutionen des Kapitalismus steuern wollen, müssen sie die neuen Spielregeln akzeptieren.
Wo sie die Regierung stellen, dienen sie als Bindeglied der Politik der herrschenden Klassen und ihrer Verpflichtungen gegenüber internationalen Institutionen oder Strukturen wie der Europäischen Union und dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA).
4.2 Eingeschränkte Handlungsspielräume
Die Handlungsspielräume im sozioökonomischen Bereich verengen sich. Es gibt keinen Spielraum für eine neue keynesianische Politik, die mittels Ausbau des öffentlichen Dienstes, Lohnerhöhungen und Belebung des Konsums der Privathaushalte die Nachfrage fördern würde.
Obwohl die französische Sozialistische Partei nicht mit der brasilianischen Arbeiterpartei PT vergleichbar ist, haben sich doch sowohl Jospin als auch Lula der Logik der liberalen Gegenreform gefügt und Haushaltskürzungen, Steuererleichterungen für die Reichen, Privatisierungen, Sozialversicherungs- und Rentenreformen beschlossen und, was Lula betrifft, auch den Auflagen des IWF insbesondere bezüglich der Rückzahlung der Auslandsschulden zugestimmt.
Der Nationalismus der Peronisten fügt sich politisch in den vom IWF vorgegebenen Rahmen ein, auch wenn die eine oder andere Initiative gegen die Regierung Bush gerichtet ist.
In diesem Prozess haben die genannten Parteien einen qualitativen Wandel vollzogen. Ihre soziale Basis hat sich verändert, sie entfernen sich von ihrer Wählerschaft in der einfachen Bevölkerung und mischen sich immer stärker unter die Spitzen des Finanzkapitals und des Staates. Trotz dieser strukturellen Veränderungen verschwinden sie noch lange nicht aus der politischen Landschaft. Angesichts der Krise der traditionellen Rechten können sie sich weiterhin an der Macht halten oder diese wieder erobern. Sie vertreten noch immer die einfache Bevölkerung, was weiterhin ein Problem mit der Aktionseinheit in Kämpfen und sozialen Bewegungen aufwirft. Dennoch stellen diese Parteien in der Folge unterschiedlicher bürgerlicher Regierungen eines der Herrschaftsinstrumente der führenden Klassen dar.
4.3 Verstärkter Druck auf die kommunistischen Parteien und andere Gegner des Liberalismus
Diesen Druck erfahren auch die kommunistischen Parteien, die dazu tendieren, einem unaufhaltsamen Niedergang entgegengehen. Die französische und die spanische KP sowie die deutsche PDS haben unterdessen einen Charakter angenommen, der mit ihrer Unterordnung unter die Sozialdemokratie als deren "strategische Satelliten" beschrieben werden kann. Dieser Trend wird durch die Politik der Einbindung des EGB (Europäischen Gewerkschaftsbunds) in die liberale europäische Integration begünstigt.
Neu ist, dass dieser Druck auch auf die italienische Rifondazione Comunista ausgeübt wird, deren Leitung soeben diskutiert, wie sie sich an einer möglichen Mitte-Links-Koalition unter Führung des ausgesprochen liberalen EU-Kommissionspräsidenten Prodi beteiligen kann.
Zu erwähnen sind auch die negativen Entwicklungen von Strömungen verschiedener Ausrichtungen, die sich als Gegner des Liberalismus verstehen, ohne sich zu einer antikapitalistischen Politik der Einheit und Unabhängigkeit gegenüber der Wirtschaft und den kapitalistischen Institutionen zu bekennen. Diese Strömungen tendieren dazu, sich in der Regierungs- und Machtfrage der Logik der "kapitalistischen Regierbarkeit zu unterwerfen. Das gilt für die Regierung Lula in Brasilien, für Lucio Gutierrez in Ecuador, der sogar Bushs Krieg im Irak unterstützt hat, oder heute für die schwankende Haltung von Evo Morales in Bolivien.
Trotz der kapitalistischen Offensive sind soziale und demokratische Kämpfe nach wie vor bestimmend für die politische Weltlage. Eine Reihe von sozialen Mobilisierungen und Kämpfen haben die aktuelle Lage beeinflusst.
5.1 Kämpfe, die für die politische Lage prägend waren
Am 15. Februar 2003 fand erstmals ein bedeutende weltweite Mobilisierung gegen den Irakkrieg statt. Mehr als 10 Millionen Menschen in der ganzen Welt gingen auf die Straße.
Die Mobilisierungen gegen die Folgen der neoliberalen Reformen haben in zahlreichen Länder die Situation geprägt. In Frankreich und Brasilien wurde gegen die Rentenreform gestreikt, in Deutschland für die Beibehaltung der sozialen Sicherheit mobilisiert, in Spanien und Italien gegen die Deregulierung des Arbeitsmarktes protestiert, und in der Dominikanischen Republik mündete ein Streik um Lohnerhöhungen beinahe in einen Aufstand. Bauernbewegungen wie die brasilianische MST (Landlosenbewegung) haben Land besetzt und in Argentinien entstand eine Erwerbslosenbewegung, die so genanten Piqueteros.
In Bolivien löste die Frage der Privatisierung der natürlichen Ressourcen und des Bodens, in Venezuela der Machtkampf gegen Chávez und in Haiti der Sturz von Aristide eine "nationale Krise aus.
Im Irak sind Massenbewegungen gegen die amerikanische Besatzung entstanden, die meist unter der Leitung von reaktionären, islamistischen politischen oder religiösen Parteien stehen. Daneben entstehen aber auch andere Formen des sozialen Widerstands. Der palästinensische Widerstand gegen die israelische Besatzung hält ebenfalls an.
Auch der wiederholte Erfolg der Weltsozialforen ist zu erwähnen. In einer für die gesamten Sozialbewegungen schwierigen politischen Weltlage stellen die Sozialforen weiterhin einen Fixpunkt der internationalen Basismobilisierung, einen Brennpunkt des Widerstands gegen Liberalismus, Kapitalismus und Krieg und einen praktischen Nachweis für die Möglichkeit dar, sich der kapitalistischen Globalisierung zu widersetzen. Der Erfolg des letzten Forums in Mumbai (Bombay) belegt dies. Diese Sozialforen drücken in gewisser Hinsicht, wenn auch verzerrt umfassendere Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen und die Entschlossenheit vieler Sektoren der sozialen Bewegungen aus, sich den kapitalistischen Angriffen zu widersetzen.
5.2 Stärken und Grenzen des sozialen Widerstands
Dieser soziale Widerstand ist ein Gradmesser der Reaktionsbereitschaft der unteren Schichten gegen die Gegenreform. Sie zeugen von einer Legitimitätskrise der herrschenden Klassen, ihrer Staaten, Regierungen und internationalen Institutionen und beschleunigen diese, ohne jedoch die vorherrschenden Tendenzen des weltweiten Kräfteverhältnisses umzustoßen. Diese sozialen Bewegungen können Sand ins Getriebe werfen, enden aber meist in sozialen und politischen Rückschritten oder Niederlagen für die ArbeiterInnenbewegung. Diese Kämpfe sind entscheidend für die Neuorganisierung der sozialen Bewegungen, führen aber nicht zu einem organischen Wachstum der "reformistischen oder "revolutionären Gewerkschaften, Vereinigungen und Parteien.
Diese Neuformierungen sind zwar von entscheidender Bedeutung, doch sie sind noch nicht in der Lage, Bedingungen für eine tiefgreifende Umwälzung der Kräfteverhältnisse in der Arbeitswelt und zwischen den maßgeblichen Klassen zu schaffen. Insbesondere durch die Annäherung der Sozialdemokratie und der nationalistischen Parteien an den Liberalismus sowie den Niedergang der ehemaligen stalinistischen Parteien sind zwar neue Freiräume entstanden, doch die radikalen Kräfte stoßen auf Schwierigkeiten, diese aufzufüllen. Wir zahlen noch immer den Preis für die Niederlagen der Vergangenheit, und der Wiederaufbau ist langwierig.
Diese siedeln sich entlang von drei Hauptsträngen an:
6.1 Aktionseinheit
Unsere Politik der Aktionseinheit der gesamten Arbeiterschaft und ihrer Organisationen muss unsere politische Arbeit ständig begleiten. Die Einbindung in Massenkämpfe, Vereinigungen, Gewerkschaften, kurz in die "reale Massenbewegung, ist eine Hauptbedingung, um politisch agieren zu können. Das setzt auch voraus, dass die Autonomie der Massenbewegungen gegenüber den politischen Parteien gewährleistet wird, um ihre Einheit und Schlagkraft zu wahren. In diesem Punkt müssen wir die Lehren aus den Erfahrungen in Argentinien ziehen, wo alle politischen Parteien einschließlich und allen voran der Organisationen, die sich auf den Trotzkismus berufen, ihre je eigen Vorstellungen in der Massenbewegung (insbesondere in der Piquetero-Bewegung) verwirklichen wollten und damit die Spaltung innerhalb der Kräfte an der Basis verschärfen.
6.2 Die Ausarbeitung antikapitalistischer Antworten
Sich an den Widerstandskämpfen zu beteiligen und soziale Bewegungen aufzubauen ist unerlässlich, reicht aber nicht aus. Daneben müssen auf programmatischer und strategischer Ebene substanzielle Antworten gegeben werden. Die Bedingungen für diese Diskussionen haben sich in den letzten Jahren verändert. In der globalisierungskritischen Bewegung ist es notwendig, gleichzeitig auf die Einheit der Bewegung hinzuwirken und antikapitalistische Antworten insbesondere gegenüber den "reformistischen, "regulierenden Strömungen (deren einziges Ziel es ist, die Auswüchse des kapitalistischen Systems zu korrigieren) oder gegenüber nationalistischen Strömungen einzubringen. Es muss eine radikale, internationalistische Antwort sichtbar werden. Wir wollen eine andere Welt, sagen die Globalisierungskritiker. Dann muss man auch sagen, wie diese aussehen soll.
Das ist mit einem Programm möglich, das die soziale Frage ins Zentrum stellt, den Faden des Klassenkampfs wieder aufgreift und die sozialen und demokratischen Fragen konsequent zu Ende verfolgt: gegen Kündigungen, für Lohnerhöhungen, für eine andere Reichtumsverteilung, gegen Privatisierungen. Diese Stoßrichtung wirft die Frage nach der Einmischung in kapitalistisches Eigentum und Kontrolle durch die ArbeiterInnen und die Bevölkerung auf.
In Frankreich propagieren wir einen antikapitalistischen Dringlichkeitsplan als Wahlplattform und Programm für den sozialen Kampf.
Anhand des Beispiels von Argentinien stellt sich das Problem von Fabrikbesetzungen und deren erneuter Inbetriebnahme sowie Kontrolle durch die ArbeiterInnen, nachdem die UnternehmerInnen ihre Betriebe aufgegeben haben.
In Venezuela und Bolivien werden angesichts der sozialen und politischen Krise Forderungen gegen die Privatisierung und für eine sozial ausgestaltete, öffentliche Versorgung mit natürlichen Ressourcen (Gas, Wasser, Erdöl) aktuell; gleichzeitig geht es um die Verteidigung der nationalen Souveränität und des Volkseigentums gegenüber der Plünderung der Reichtümer dieser Länder durch den amerikanischen Imperialismus.
Diese Orientierung muss sich auf Vorschläge stützen, die der Einheit und Selbstbestimmung sowie Selbstorganisation der einfachen Bevölkerung Rechnung tragen. In Situationen verschärfter Kämpfe und Krisen ist es entscheidend, Strukturen vorzuschlagen, die den Aufbau einer "Macht von unten vorwegnehmen, um einem positiven Ausweg aus der Krise näher kommen zu können.
Diese allgemeine Ausrichtung setzt sich auch auf Regierungs- und Machtebene fort. Wir lehnen jede Form von Verwaltung des Staates und der kapitalistischen Wirtschaft ab und verteidigen die Perspektive einer ArbeiterInnenregierung, die sich auf die Mobilisierungen der Erwerbstätigen und ihrer Organisationen stützt. Diese Positionierung erlaubt es uns, die Politik der Unterstützung von oder der Beteiligung an "sozialliberalen Regierungen abzulehnen und gleichzeitig wirklich die Regierungs- und Machtfrage zu stellen. Darin unterscheiden wir uns von all den Strömungen, die die Mobilisierungen darauf festlegen wollen, nur eine Gegenmacht zu bilden, oder die die Illusion verbreiten, die Welt könne verändert werden, ohne die Macht zu übernehmen, wie dies Holloway und andere in verschiedenen Ländern und der globalisierungskritischen Bewegung tun.
6.3 Die Fortsetzung unserer Politik der Sammlung der antikapitalistischen Kräfte
Durch die jüngsten Entwicklungen in der politischen Weltlage ist es einerseits notwendig, gewisse Debatten zu klären wie beispielsweise die Entwicklung der Regierung Lula oder der Führung der italienischen Rifondazione Comunista. Andererseits ist die Bereitschaft einer Reihe von revolutionären oder antikapitalistischen Strömungen feststellbar, gemeinsam zu diskutieren, sich auszutauschen und zu handeln, was in der Konferenz der antikapitalistischen Parteien in Bombay zum Ausdruck gekommen ist.
Wir müssen diesen Weg sowohl für die antikapitalistische Konferenz der europäischen Linken als auch für die internationale Konferenz, die sich erstmals in Bombay versammelt hat, weiter verfolgen, selbst wenn die Formen, Rhythmen und beteiligten politischen Kräfte vielfältig sind. Wir müssen den Akzent auf die beiden Kriterien legen, die schon bisher bestimmend für unsere Arbeit waren:
Gleichzeitig müssen wir die Beziehungen zwischen revolutionären und antikapitalistischen Organisationen, die eine radikale, aber nicht sektiererische Grundlage haben und namentlich in der globalisierungskritischen Bewegung mitwirken, ausbauen. Unsere Ausrichtung ist tatsächlich nicht die einer Einheit der Revolutionäre/ innen, die sich allein auf die abstrakte Bezugnahme auf die Revolution stützt, sondern eine Annäherung auf der Grundlage eines "gemeinsamen Verständnisses der Ereignisse und Aufgaben. In diesem Sinn haben an diesem Internationalen Komitee Organisationen wie die ISM-Strömung der schottischen SSP, die australische DSP oder die ISO aus den Vereinigten Staaten teilgenommen. In diesem Sinn werden wir auch die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen wie der griechischen DEA oder der pakistanischen LPP fortsetzen. Auf einer anderen Ebene führen wir schließlich auch unsere Beziehungen zu Organisationen wie der britischen SWP fort oder stellen mit Organisationen der internationalen Konferenz Beziehungen her.
Abschließend sei festgestellt, dass sich in den kommenden Monaten und Jahren angesichts der neuen Freiräume für eine radikale Linke, der Anpassungen innerhalb der Arbeiterbewegung und der politischen wie strategischen Aufgaben die Perspektive breiter antikapitalistischer Parteien stellt, die entscheidende Faktoren in der Leitung von politischen Massenprozessen in einer Situation des sich verschärfenden Klassenkampfs sind. Das setzt voraus, dass der klassenkämpferische Inhalt der im Aufbau begriffenen breiten Parteien und Organisationen gestärkt wird, indem insbesondere die Lehren des Sozialliberalismus gezogen werden. Und es bedeutet, dass der am letzten Weltkongress der Vierten Internationale beschlossene Prozess der Wiederbelebung unserer Organisationen, der Sammlung revolutionärer MarxistInnen, des Wiederaufbaus unserer Sektionen gestärkt wird, um diesen breiteren Prozess befruchten zu können.
François Ollivier ist Mitglied des Politbüros der
Ligue communiste révolutionnaire (LCR,
französische Sektion der IV. Internationale).
Der Bericht wurde im Februar 2004 im Namen
des Exekutivbüros an der Versammlung des
Internationalen Komitees der IV. Internationale
vorgestellt. Übersetzung aus dem Französischen: Tigrib. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 392/393 (Juli/August 2004).