Fünfzehn Parteien der kommunistischen Bewegung aus elf Ländern haben am 8./9. Mai 2004 in Rom einen Kongress abgehalten, um eine Europäische Linkspartei (ELP – European Left Party) zu gründen. Die Partei der Kommunistischen Neugründung (PRC, auch Rifondazione genannt), die zum Kongress einlud und ihn organisierte, hatte der Versammlung einen schönen Auftritt verschafft, der die Hoffnung und das gute Einvernehmen symbolisieren sollte. Der Versuch, auch die Parteien der radikalen Linken einzubeziehen, ging in die Hose. Die zwanzig ebenfalls eingeladenen kommunistischen und fortschrittlichen Parteien (neben denen der ELP der EU) verschafften dem Kongress einen Hauch von Internationalismus und betonten den Wert der internationalen Beziehungen der neuen europäischen politischen Formation. Insgesamt jedoch blieb das Profil der ELP das der kommunistischen Welt und ihrer zahlreichen Untergruppen.
François Vercammen
Der Kongress hat seine drei Ziele realisiert: a) Statuten anzunehmen (mit drei Enthaltungen und elf Gegenstimmen; b) ein Manifest abzustimmen (einstimmig bei vier Enthaltungen) und c) eine erste Liste der Parteien, die offiziell die ELP bilden, anzunehmen, die den Bedingungen einer Anerkennung durch die Europäische Union genügt. [1]
Nun befindet sich die ELP in der Realität einer neuen Gruppierung, ihren Widersprüchen, ihren Orientierungen, ihren Bündnissen, ihrer organisatorischen Kohärenz. Wie sagte doch Bertinotti, der frisch gekürte Vorsitzende der ELP: „Es handelt sich um ein schwieriges, aber nützliches und notwendiges Unternehmen.“
Was bedeutet die ELP in der politischen Landschaft der europäischen Linken?
Es wurden zwei Gründungsdokumente angenommen: die Statuten, deren Präambel wichtig ist, weil darin die politische Natur einer Partei zum Ausdruck kommt, sowie das Manifest, das länger und konkreter ist und Politik und Taktik explizit entwickelt.
Zwischen beiden gibt es einige Unterschiede, die Statuten sind deutlich gemäßigter als das Manifest. Ein Grund liegt sicherlich in der unterschiedlichen Zielrichtung: die Statuten müssen der Präsidentschaft des Europäischen Parlaments vorgelegt werden, damit die Partei als „europäische Partei“ anerkannt werden kann, während sich das Manifest an die Öffentlichkeit und die Mitgliedschaft wendet. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die deutsche PDS die Abfassung der Statuten übernommen hatte, während das Manifest von Rifondazione erarbeitet wurde. Die PRC hat ihre Duftmarke bei Ton und Inhalt mit radikaleren politischen Formulierungen gesetzt. In einigen dieser Formulierungen erinnert der Text so an die Erklärungen der europäischen antikapitalistischen Linken. (EAL) [2]
Wir dürfen nicht vergessen, dass die beiden Texte den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den verschiedenen Parteien darstellen. Jede der Mitgliedsparteien hat ihre Analysen und ihre eigenen Orientierungen, die ihre eigentliche Politik begründen. In der langen Krise des Poststalinismus haben sich diese Parteien fortwährend ideologisch diversifiziert – sowohl untereinander, aber auch in ihrem Innern. Die angenommen Texte sind keine obligatorischen „Resolutionen“. Die Erarbeitung ging soweit, dass zu Beginn Kompromisse zwischen den wichtigsten Parteien geschlossen wurden, die eine Auslese der wichtigsten Programmpunkte veranstaltet haben. [3]
Das Hauptinteresse an den erarbeiteten Dokumenten sollte nicht darin liegen, die inneren Widersprüche der ELP herauszuarbeiten. Sondern wie nach Annahme der Dokumente die ELP wirklich als „europäische Partei“ zu wirken gedenkt.
In ihren Texten stellt sich die ELP links von der neoliberalen Sozialdemokratie (und sicherlich auch den Grünen in Deutschland) auf. Aber sie unterscheidet sich genauso deutlich von der antikapitalistischen Linken. Mit dieser gibt es Übereinstimmungen (zumindest bei einigen Mitgliedsparteien) in der Analyse des heutigen Kapitalismus, der täglichen Umsetzung dieser Analysen und der gegenüber der Gesellschaft zu pflegenden Sprache, der Beachtung der neuen Protestbewegungen, sowie ein breites Feld von Forderungskatalogen, die es ermöglichen, zusammen zu handeln und auf nationaler und europäischer Ebene zusammenzuarbeiten. Diese Übereinstimmungen zeigen sich aber auf sehr ungleiche Weise. Wir stellen aber auch bedeutsame Meinungsverschiedenheiten fest. Die wichtigste bezieht sich insbesondere auf die Regierungsfrage und den bürgerlichen Staat. Die stalinistische Tradition hat (in den dreißiger Jahren, zur Zeit der „Volksfronten“) die Möglichkeit als „Ausnahme“ eingeräumt, auf Regierungsebene mit der Sozialdemokratie und den Parteien des Großkapitals zusammenzuarbeiten. Sodann hat der Eurokommunismus seit Beginn der siebziger Jahre dieses banalisiert. Kein Prinzip hindert die kommunistischen Parteien, besonders die offensten und am meisten entstalinisierten, auf diesem Wege fortzufahren, bis sie womöglich zu einer Art neoliberaler Sozialdemokratie werden. Es ist diesbezüglich symptomatisch, dass man in den beiden Texten nur eine einzige Referenz auf die alte Zweite (sozialdemokratische) Internationale findet, darüber hinaus handelt es sich noch um einen völlig verdrehten Satz: „Das sozialdemokratische Konzept eines dritten Weges in Europa ist gescheitert, weil es dieser Entwicklung keinen Widerstand entgegen setzte (es geht hier um die neoliberale Politik, die Kriege usw.) und tatsächlich hat es sie begünstigt. Dies ist alles, während wir in den vergangenen zwanzig Jahren die größte programmatische, soziale und organisatorische Wandlung der Sozialdemokratie seit 1914 erlebt haben, mit vielfältigen Konsequenzen. Dies ist alles über eine Sozialdemokratie, die ihre eigene gesellschaftliche Basis, die damit verbundenen Organisationen und die aktiven Kräfte angegriffen hat und die mitnichten bereit ist, vom neoliberalen System zu lassen.
Die Texte des Kongresses von Rom muss man unbedingt lesen – und zwar mit Vernunft, also ohne den ideologischen Zwang der marxistisch-kommunistischen Tradition des vergangenen Jahrhunderts. Die Dokumente enthalten eine solide Dosis Pragmatismus. Sie wurden „nach Maß“ gearbeitet, um bestimmte Parteien einzufangen oder fernzuhalten. Am Anfang des Vorbereitungsprozesses standen der Kompromiss und nicht offen diskutierte Prinzipien.
Trotzdem sollte man dies nicht verachten. Denn die Texte wurden heftig diskutiert. Eine Anekdote: Während die Versammlung des Kongresses eine ganze Reihe von Deklamationen der Tenöre der verschiedenen Parteien anhörte, trafen sich im Keller desselben Gebäudes zwei „Arbeitsgruppen“, wo die wirkliche Diskussion abging.
Man darf also den ersten Satz der Präambel nicht unterschätzen – der gleichwohl Rätsel aufgibt: „Wir vereinigen demokratische Parteien der alternativen und fortschrittlichen Linken auf dem europäischen Kontinent, die an einer kohärenten Veränderung der gegenwärtigen Gesellschaftsbeziehungen in Richtung einer friedlichen und sozial gerechten Gesellschaft auf der Grundlage der Unterschiede in unseren Lagen, unserer Geschichte und unseren gemeinsamen Werten arbeiten.“
Dieser Absatz scheint für eine Partei geschrieben zu sein, die sich auf den Weg in den Untergrund macht! Niemand kann sich an dem Kauderwelsch freuen, aber es gibt ein gewisses Pathos in diesem Versuch, die Konzepte und theoretischen Formulierungen zu maskieren und zu verwässern. Und dies hat natürlich Konsequenzen hinsichtlich des Inhalts der Analysen, mehr im Statut als im Manifest. Die Begriffe „Kapitalismus“ oder „kapitalistisches System“ werden sorgsam gemieden. Man spricht nicht von Sozialismus oder gebraucht keinen anderen synthetischen Ausdruck, der auf eine nachkapitalistische Gesellschaft verweisen würde. Wenn der Text von „Internationalisierung oder Globalisierung“ redet, dann sagt er „liberal“ und spricht von einem „Ergebnis von Entwicklungen und politischen Entscheidungen“. Man „vergisst“ also, dass die Globalisierung vor allem aus der unerbittlichen Logik des heutigen Kapitalismus herrührt: dem außergewöhnlichen Aufstieg des Weltmarkts beim Handel und den Investitionen, woraus sich der herausragende Stellung der ganz großen multinationalen Konzerne ergibt. Der Text wünscht sich „eine Welt, die keine Ware ist“, er bleibt aber hinsichtlich ihrer genauen Ausgestaltung völlig stumm: „eine andere Welt des Friedens, der Demokratie, der nachhaltigen Entwicklung und der Solidarität“.
Die „soziale Frage“ und all die Menschen, die unter ihr zu leiden haben, kommen in den Statuten gar nicht vor! Dies gilt nicht für das Manifest, das weitreichende gesellschaftliche Forderungen (Ökologie, Gesundheit, Patriarchat, Bildung, sexuelle Orientierung...) entwickelt, die die Gesamtheit des Lebens und der Arbeit umfassen. Es insistiert im Übrigen auf die gesellschaftlichen Mobilisierungen und die Bewegungen. Aber weder Statut noch Manifest behandeln die strategischen Schlussfolgerungen, wie diese Forderungen durchzusetzen sind und wie an der „konsistenten Transformation“ gearbeitet werden kann.
Zunächst kennt die ELP keine sozialen Klassen, abgesehen von einer: die „hegemonialen Finanzgruppen“. Man vermeidet es offensichtlich, die ausgebeutete Klasse beim Namen zu nennen (gleich ob wir sie nun ArbeiterInnenklasse, werktätige Klasse oder ausgebeutete Welt der Arbeit nennen wollen), also jene mehrheitliche gesellschaftliche Kraft, die durch ihren Platz in der Gesellschaft, ihre Selbsttätigkeit und Selbstorganisation in der Lage ist, das Kräfteverhältnis zu ändern, in die politischen Prozesse einzugreifen und eine andere Politik, ja eine andere Gesellschaft durchzusetzen.
Sodann behandelt die ELP weder die gesellschaftliche und politische Krise, noch den in der „Transformation“ nötigen Bruch. Auf einmal ist alles graduell, amorph, kommt „von oben“, vom Parlament.
Wenn man jedoch dem dominierenden Neoliberalismus entgegenzusteuern und die ungeheure gesellschaftliche Regression der vergangenen zwanzig Jahre rückgängig machen möchte, muss man mit dem heftigsten Widerstand von Unternehmern und Regierungen rechnen, die sich auf den jeweiligen Staat und die EU stützen können. Den Fächer der sozialen Forderungen (der im Manifest enthalten ist) durchsetzen zu wollen, ist unmöglich ohne eine andere Steuer- und Wirtschaftspolitik, ohne eine Umverteilung der Reichtümer und eine massive Steigerung der öffentlichen Dienstleistungen, oder klar gesagt, ohne einen radikalen Angriff auf das Privateigentum. Ohne von der „konsistenten Transformation“ zu sprechen, also Umwälzungen, die eine Veränderung der Gesellschaft bewirken.
Wir zweifeln nicht daran, dass die ELP „eine andere Welt“ möchte, müssen aber feststellen, dass sie sich nicht mit einer antikapitalistischen Strategie bewaffnet hat.
Wenn wir den Aspekt antikapitalistische Strategie einmal beiseite lassen – die ELP behandelt durchaus „die Politik“. Sie tut es indirekt und sehr summarisch unter einem besonderen Blickwinkel: „Die Linke ist bereit, ihre Verantwortung in Europa und der Welt zu übernehmen, um unsere Gesellschaften umzuwandeln, politische Alternativen auszuarbeiten, sie in der Öffentlichkeit zu vertreten und die notwendigen Mehrheiten zu gewinnen.“ [4]
Diese starke Formulierung – „Verantwortung übernehmen“ – ist in einem solchen Text keineswegs harmlos. Sie bestätigt nicht nur den Vorrang des Parlamentarismus, sie stellt auch „die Partei“ wieder auf den Kommandoposten. Erst kommt die „die Partei“, die „transformiert“, „ausarbeitet“, und Mehrheiten „gewinnt“. Eine außergewöhnliche Rückkehr der Partei, die die Bewegung und „die Öffentlichkeit“ dirigiert.
Dieser Satz steht vor allem als Zwangsjacke gegen eine mögliche Aufgabe der Regierungsbeteiligung. Es kann dabei nur um eine Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie (sowie mit vergleichbaren Parteien) gehen, die weiterhin eine neoliberale Politik machen. Aber das Minimalprogramm (wenn man sich nicht kompromittieren möchte) bestünde darin, sich dafür zu engagieren, ein weitreichendes Programm der Wiedergewinnung des Sozialen zugunsten der Arbeitswelt durchzusetzen, was es nötig macht, mit der neoliberalen Politik und den wesentlichen Vorgaben der EU zu brechen.
Mit der Frage nach dem EU-Europa (s. weiter unten) haben wir eine der politischen Schlüsselfragen vor uns, die erheblich auf die Entwicklung der Parteien der ELP drücken werden.
In keinem der Texte wird dieses Problem aufgeworfen. Es fehlte auch in den Reden der Protagonisten auf dem Kongress in Rom. Bertinotti (PRC) und Buffet (PCF) haben die sozialliberale Politik kritisiert. Doch dies schließt keineswegs eine Regierungsbeteiligung aus. Seit einem Jahr arbeitet Bertinotti an einer Neuauflage einer von Prodi, der für die neoliberale EU-Politik steht, geführten Mitte-Links-Regierung. Buffet schwieg sich zu diesem Thema aus, weil die Partei über dieser Frage völlig gespalten ist, und attackierte die PS. Die Augen der PDS sind auf eine Koalition mit der SPD (und den Grünen) gerichtet; bis das klappt, legt sie mittels einer rigiden Sparpolitik ihre Bewährungsprobe in den Ländern Berlin und Mecklenburg-Vorpommern ab. In Spanien hat die Vereinigte Linke (IU) (zu Recht) die Stimmen ihrer Parlamentsabgeordneten zur Verjagung der Rechten unter Aznar aus der Regierung abgegeben, um einer Minderheitenregierung der PSOE ins Amt zu verhelfen. Die IU ist ihr selbst nicht beigetreten, doch lag dies wohl mehr am neuen Ministerpräsidenten Zapatero als an ihr.
Sicherlich hat die Linke erhebliche taktische Probleme mit der Sozialdemokratie. Nachdem sie ihr neokeynesianisches Programm durch den Neoliberalismus ersetzt hat, hat die europäische Sozialdemokratie ihre Bindungen an viele Schichten der einfachen Bevölkerung gelöst, ihre Seele verloren und zahlreiche Mitglieder vertrieben. Weil aber eine glaubwürdige und wirklich linke Kraft fehlt, gelingt es ihr, unterstützt von den Medien, als Wahlmaschine Erfolge zu feiern. Denn die Masse der Menschen wählt aus pragmatischen Gründen „sozialistisch“, um der Rechten eins auszuwischen. Das heißt keineswegs, dass sie die neoliberale Politik schlucken.
Dieser Mechanismus des Wiederaufstiegs funktioniert bei der Sozialdemokratie, aber kaum oder gar nicht bei den KPen und den Grünen, die Mitglied einer solchen Regierung waren. Als Kleinparteien bezahlen sie ihre Mitverantwortung für die Sozialkürzungen erheblich stärker. Die Phänomene der Enttäuschung, der Verwirrung und der Ablehnung sitzen bei den „linken“ WählerInnen viel tiefer. Dies liegt in der teilweise unterschiedlichen Natur der Sozialdemokratien. Die KPen (und die Grünen) streiten und spalten sich. Als Ergebnis hängt ihr Überleben immer mehr vom guten Willen der Sozialdemokraten ab. Diese werden in Wahlen wieder gestärkt, obwohl sie ideologisch, politisch und organisatorisch immer mehr „Ballast abwerfen“. Der bürgerliche Staat kommt ihnen zu Hilfe (Geld, Medien, Verordnungen) und gründet das politische Leben auf einer Polarisierung zwischen einer neoliberalen „Rechten“ und „Linken“. Die KPen, die Grünen (von der antikapitalistischen Linken erst gar nicht zu reden) können sich solcher Begünstigungen nicht erfreuen.
Solange die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft ungünstig bleiben und bei den großen Volksmassen Verwirrung herrscht, werden sich linke und rechte neoliberale Regierungen abwechseln.
Die Aufgabe der „wirklichen Linken“ besteht genau darin, an einer breiten, radikalen und zusammenführenden, pluralistischen und europäischen Kraft auf der Linken zu arbeiten, die in der Lage ist, mit jener gesellschaftlich verheerenden politischen Dynamik zu brechen.
Der Zugang der kommunistischen und grünen Linken zu einer sozialliberalen Regierung der linken Mitte steht und fällt mit der Akzeptierung der EU (und des Vertrages zur Neugründung, wie ihn der Verfassungsentwurf darstellt) und der neoliberalen Politik, wie sie von der Sozialdemokratie ausgeführt wird.
Die ELP hat große Probleme, sich klar gegen den Verfassungsentwurf der EU auszusprechen. Nur mürrisch geht sie auf die Notwendigkeit ein, in der Öffentlichkeit eine wirkliche Analyse der EU als einer sozio-politischen Formation (die es in den Mitgliedsparteien durchaus gibt) vorzulegen. Aber ohne sie gibt es weder Strategie noch Alternative. Daher haben die Protagonisten der ELP, die offiziell gegen die Verfassung sind (außer Sylvia-Yvonne Kaufmann von der PDS, [d.Ü.].), dies weder in die Statuten noch ins Manifest geschrieben. Die EU prägt immer stärker das Wirtschaftsleben und die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Millionen Menschen, das politische Regime, die Frage der Nationalitäten, die demokratischen Freiheiten, den Typus von Supranationalität usw. Es handelt sich um ein mächtiges Werkzeug in der Hand der europäischen Bourgeoisien gegen die Welt der Arbeit und die Ausgebeuteten und Unterdrückten in Europa und weltweit.
Im Statut wird der Begriff „Europäische Union“ nicht einmal erwähnt. Für eine „Europäische Linkspartei“ ist dies wohl mehr als eigenartig. [5]
Die die ELP bildenden Parteien geben im Staut zu, dass sie „den Widersprüchen nicht ausweichen können, die sich daraus ergeben, dass sie zu vielen Fragen unterschiedliche Meinungen haben“. Doch diese Ehrlichkeit löst natürlich nicht das gewaltige politische Problem. Das Manifest verschiebt einfach die Zweideutigkeit, indem es zwischen „Europa“ und der „EU“ unterscheidet. Es entwickelt kritische Punkte und eine Reihe von Forderungen und Vorschläge, die sich auch im Manifest der Gruppen der EAL wiederfinden. [6]
Hier gibt es eine breite und starke Übereinstimmung mit der europäischen antikapitalistischen Linken, ebenso beim Verständnis des neuen Zyklus von Mobilisierungen, der auch den Beginn eines Neuaufbaus der Emanzipationsbewegung darstellt. Hier liegt ein mögliches Feld für gemeinsame Diskussionen und Kämpfe.
Doch das Manifest macht vor einer Analyse der europäischen Institutionen, des „Staates“ EU halt.
Die Ankündigung scheint viel versprechend: „Was sich schließlich im Zentrum der Krise der Europäischen Union befindet, ist die Demokratie.“ Das Manifest sagt es völlig richtig, ein kurzer, starker Satz. Ein hervorragender Ausgangspunkt für eine Analyse und politische und praktische Schlussfolgerungen.
Aber statt den semi-despotischen Charakter (etwa die herausragende Rolle des Rates als legislativem und exekutivem Organ; das Parlament unter der Obhut der Exekutive; die blinde und unkontrollierbare Europäische Zentralbank), der unabdingbar ist, um die unsoziale EU durchzusetzen, zu erklären, weicht das Manifest aus. Die „Krise der Demokratie“ ergibt sich aus: „Während Jahrzehnten wurde die Europäische Union von oben aufgebaut, in Verachtung der großen Diversität der Kulturen und Sprachen – ohne das Volk und häufig gegen es.“
Die ELP wagt nicht, den Aufbau und die gegenwärtigen Institutionen der EU in Frage zu stellen. Das heißt nicht, dass nicht einige Mitgliedsparteien dies tun: die PCF macht’s auf sehr gewundene Weise; auch die PRC, die jedoch lieber kein Referendum fordert, um nicht eine Kampagne zur Verfassung machen zu müssen; die PDS, die „für“ die Verfassung ist, aber (wegen Meinungsverschiedenheiten) vor kurzer Zeit dem Problem ausgewichen ist (vgl. ihr Wahlprogramm); die zerrissene und zögerliche IU hat sich schließlich zu einem Nein durchgerungen.
Die wichtige Frage des „Selbstbestimmungsrechtes der Völker“ wird auf die „sprachliche und kulturelle Diversität“ heruntergekocht. Sodann gibt es im Text Maßnahmen für eine Demokratisierung: „Mehr Macht für das Europäische Parlament und für die nationalen Parlamente sowie für die Wirtschafts- und Sozialkomitees und die der Regionen (...) die am Entscheidungsprozess der europäischen Institutionen beteiligt werden müssen“; „heute wenden wir uns gegen ein Direktorium der Großmächte“. Dann kommt eine Art allgemeine Perspektive: „In der EU befinden sich verschiedenen Interessen im Konflikt (welche?). Für uns schafft dies einen neuen Raum für den Klassenkampf und für die Verteidigung der Interessen der Arbeitenden und der Demokratie, der europäischen Gesellschaft mit ihren Organisationen und Institutionen, darunter auch das Europäische Parlament.“
Dieselbe Vorsicht, die die ELP schon gegenüber der Strategiefrage an den Tag gelegt hat (oder bei der neoliberalen Politik, bei der Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie), finden wir auch angesichts der EU: Die EU stellt das wichtigste politische Projekt der (großen) imperialistischen Mächte in Europa dar. Damit lässt sich nicht spielen: Wer dieses Projekt bekämpft, läuft Gefahr, von Regierungsbeteiligungen ausgeschlossen zu werden!
Wenigstens beim politisch aufgeklärteren Teil der Bevölkerung unserer Gesellschaften und dem organisierten Teil gibt es ein wachsendes Interesse „für Europa“. Die EU stellt erhebliche Mittel bereit, um zu helfen, „europäische Parteien“ aufzubauen.
Der ELP wird wahrscheinlich neben den Grünen, der Sozialdemokratie und den bürgerlichen Parteien (die eifrig um ihren Wähleranteil ringen) ein erster Schritt in Richtung einer solchen „Partei“ gelingen.
Der erste praktische Test sind die Europawahlen, denen diesmal eine größere Bedeutung als in der Vergangenheit zukommt, trotz der Stimmenthaltungen und des fehlenden Interesses in großen Teilen der Bevölkerung. Aber die Gleichzeitigkeit und das Ausmaß der Abstimmung in den 25 Mitgliedsländern der EU (selbst wenn die Hälfte der Wahlberechtigten zum Fischen oder ins Kino gehen werden) bedeuten eine weit wichtigere Volksbefragung als die Meinungsumfragen in den Medien. Die ELP wird Stimmen gewinnen können. Wird sie in der Lage sein, eine Parlamentsfraktion wie die GUE zu bilden? [7] Wird diese vom EU-Parlament anerkannt werden und also Gelder erhalten? Dies würde ihr eine bedeutsame finanzielle Basis verschaffen, um öffentlich vom Atlantik bis zum Bug aufzutreten.
Eine weitere Frage: Wird die ELP wirklich als eine Partei funktionieren können? Mit Kampagnen, regelmäßigen politischen Stellungnahmen sowie gleichzeitigen Interventionen und Mobilisierungen, und einem wirklich europäischen inneren Funktionieren? Diese „Partei“ ist keine Partei in dem Sinne, wie man das Wort gewöhnlich versteht. Es ist nicht einmal eine Föderation oder Konföderation. Im Kongresssaal machte sich ein starker Geruch von nationaler Autonomie breit. Und die Statuten stärken diesen Geist, weil sie Einstimmigkeit verlangen.
Dies führt zu zwei großen Fragenkomplexen: Wie werden sich die Beziehungen zwischen den (ex)KPen aus dem Osten und den Bruderparteien im Westen gestalten, wobei man wissen muss, dass über zehn Jahre nach dem Fall der Mauer sie sich in ganz unterschiedlichen Kontexten entwickelt haben, trotz des einigenden Bandes der EU: Die einen grenzen sich penibel vom Stalinismus ab und passen sich der Restauration eines armseligen Kapitalismus an; die anderen finden sich dem widersprüchlichen Druck von Sozialdemokratie, der globalisierungskritischen Bewegung und der antikapitalistischen Linken ausgesetzt.
Die zweite Schwierigkeit bezieht sich auf die Kohärenz der Führungsspitze der ELP. Auf den ersten Blick gibt es große Differenzen zwischen der PCF, der PRC und der PDS bei der Suche nach einem neuen Programm. Die Zersetzung des Stalinismus war ein langsamer und quälender Prozess, der in jedem Land ganz unterschiedlich ablief. Mit der Gründung der ELP als neuem Rahmen auf europäischer Ebene werden die Beziehungen zwischen Führungsmitgliedern und einfachen Mitgliedern wieder aktiviert. Ohne auf die alten Rivalitäten zwischen den KPen eingehen zu wollen, die sich im Führungskreis der ELP durchaus wieder zeigen können. Wir möchten nur ein Beispiel anführen: Während die PRC versucht hat, die stalinistischsten Parteien fernzuhalten (die portugiesische und die griechische KP), hat die PCF die KP Portugals unterstützt. Diese trat der ELP nicht selbst bei, konnte jedoch verhindern, dass Bertinotti den portugiesischen „Linksblock“ als Beobachter aufnehmen lassen konnte.
Im Übrigen besteht auch die alte Rivalität zwischen der PRC und der PCF weiter fort, deren politische Profile sich in den letzten fünf Jahren immer weiter auseinander entwickelt haben. Bezeichnenderweise war es die PDS (die von allen die gemäßigtste ist, wiewohl sie noch stalinistische Schlacken mit sich führt), die Bertinotti (und die PRC) in den Sessel des Vorsitzes der ELP gedrängt haben soll.
Die vielen Widersprüche, die die ELP durchziehen, werden sie nicht unbedingt lähmen. Denn es ist eine andere politische Dynamik am Werk: die Übereinstimmung der wichtigsten Parteien, ein neues Experiment einer Regierung der „linken Mitte“ oder der „pluralistischen Linken“ versuchen zu wollen.
Die PCF, die wegen ihrer Regierungsteilnahme noch traumatisiert und zerrissen ist, hat keine Bilanz erstellt, und eine wahrscheinlich mehrheitliche Strömung möchte dasselbe noch einmal machen. Die PDS hat ihre ersten Schritte in der Regierung des Landes Berlin unternommen (und eine scharfe Sparpolitik durchgesetzt) und schielt nun auf eine Regierungsbeteiligung mit einer (geschwächten) SPD und den Grünen. Die PRC möchte Berlusconi davonjagen und sich an einer Regierung Prodi beteiligen. Die Izquierda Unida (Vereinigte Linke) ist der Regierung der PSOE nicht beigetreten, doch die Entscheidung wurde ihnen von Zapatero abgenommen. Für den Synaspismos stellt sich das Problem nicht, weil die Rechte kürzlich gesiegt hat. In den kommenden zwei bis drei Jahren (also kurzfristig) könnte sich in Europa ein neuer Zyklus von „Mitte-Links“- Regierungen eröffnen.
Es ist kein Ritual, zu sagen, dass vieles von der politischen und sozialen Lage in Europa und den Mitgliedsländern der EU abhängen wird.
Wegen ihrer unsozialen und reaktionären Brutalität haben die heutigen Rechtsregierungen indirekt der Idee des „kleineren Übels“ Vorschub geleistet, weil keine starke radikale Alternative vorhanden war. So erscheint die Sozialdemokratie als einzig wirksames Mittel, um die Rechte bei Wahlen schlagen zu können.
Dies stellt auch für die antikapitalistische Linke eine Herausforderung dar. Sie wird bei den Mobilisierungen und den Kämpfen ganz vorne zu finden sein, in einer Aktionseinheit mit allen Kräften der sozialen, politischen und Bürgerrechts-Linken, um für unsere Forderungen und gegen die Regierung der Bosse kämpfen. Sie wird aber nicht den Zwängen (der immer undemokratischeren Wahlgesetze) ausweichen können, bei Wahlen genauso erfolgreich sein zu müssen wie auf der Straße. Der Druck auf die antikapitalistische Linke wird steigen (in dem Maße, wie sie über gesellschaftliches und politisches Gewicht verfügt), einer „Regierung der Linken“ beizutreten. [8]
Es wäre ein schwerer Irrtum, dem nachzugeben, außer wenn es sich um eine Regierung handelte, die wirklich und radikal mit der neoliberalen Politik bräche. Dies käme nur im Fall zustande, wenn sehr starke gesellschaftliche Mobilisierungen zu einer Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, aber auch in den gesellschaftlichen Organisationen und in den Gewerkschaften geführt hätten.
Die ELP ist nicht unsere Partei. Ihr Gravitationszentrum liegt weiter rechts, als man dies ursprünglich vor 18 Monaten hätte vermuten können, als das Problem einer „europäischen Partei“ erstmals auf die Tagesordnung gesetzt wurde.
Aufgrund einer Enttäuschung hat die PRC ihre Strategie geändert: die enorme gesellschaftliche Radikalität hatte sich nicht auf die politische Ebene ergossen (bei Wahlen und mehr Mitgliedern). Seit Juni 2003 hat die PRC den Weg in Richtung Bündnis mit der linken Mitte und Regierungsteilnahme, auch unter Führung von Prodi, eingeschlagen. Dies ist ein schwerer Irrtum und Auslöser größter Verwirrung in ganz Europa. Die PRC hatte Hunderte von politischen Kadern in anderen KPen verlockt, erzogen und motiviert. Sie hatte eine Pilotfunktion bei einem modernen Radikalismus, der politischen und geistigen Erneuerung, bei der Entwicklung einer radikalen und „außerparlamentarischen“ Partei, die der europäischen antikapitalistischen Linken sehr nahe stand. Sie ist immer noch von der gesellschaftlichen Radikalität geprägt (ganz im Gegensatz zu den andern KPen in der ELP), aber sie hat ihre politische Perspektive geändert. Aber die ELP hat sich nun zwischen der sozialliberalen und der antikapitalistischen Linken aufgestellt.
Sollte die ELP (oder eine ihrer wichtigsten Mitgliedsparteien) an einer Regierung mit der Sozialdemokratie auf der Grundlage eines neoliberalen Programms teilnehmen, wird eine neue Lage auf der Linken und ein anderes Kräfteverhältnis zur antikapitalistischen Linken geschaffen werden.
Wir werden uns in den Kämpfen und Mobilisierungen finden und wir sind bereit zur Aktionseinheit für konkrete Forderungen und Ziele. Die politische Diskussion und der Kampf werden eine andere Wendung nehmen, die dann von der konkreten Politik der Regierung abhängig sein wird.
Dies sind keine Prognosen, sondern politische Lagen, die unsere Aktionen anleiten werden. Die Debatte geht weiter, auf der Grundlage der angehäuften sozio-politischen Erfahrungen um grundlegende Fragen der Lebens- und Arbeitsbedingungen herum. Die Nähe bei den Mitgliedern und den Organisationen der kommunistischen/alternativen und der antikapitalistischen Linken stellen eine günstige Bedingung dar, um auf der Linken einen politischen Klärungsprozess durchführen zu können.
François Vercammen ist Mitglied des Exekutivbüros der 4. Internationale. Übersetzung: Paul B. Kleiser |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 394/395 (September/Oktober 2004).