Ein Gefühl von Notstand durchzieht die US-Arbeiterbewegung. Vereinzelte organisatorische Erfolge konnten die Arbeitsplatzverluste aufgrund von Werksschließungen und Umstrukturierungen nicht ausgleichen. „Partnerschaften“ zwischen Arbeit und Kapital hatten, auch unter Beteiligung traditionell kämpferischer Gewerkschaften, Zugeständnisse in Höhe von Dutzenden Milliarden Dollar in der Stahl- und Automobilindustrie sowie im Luftverkehr zum Ergebnis. Ursprünglich als vorübergehende Lösungen für angeschlagene Industriezweige eingeführt, sind diese Zugeständnisse schnell zum Standard geworden. Die drei größten Supermarktketten stellten ähnliche Forderungen, und zwangen 59.000 Einzelhandelsbeschäftigte [1] seit Oktober 2003 in einen monatelangen Streik, der trotz mehrfacher strategischer Fehler der Gewerkschaft breite Solidarität und Unterstützung genoss.
Lee Sustar
Wir werden Zeuge, dass die Gewerkschaften immer weniger Druckmittel in Verhandlungen einbringen können. Der Organisationsgrad im Privatsektor fiel von 9,6 Prozent im Jahre 2002 auf 8,2 Prozent in 2003. [2] Im Gegensatz dazu wurden in den 1950er Jahren die Spitzenwerte des Organisationsgrads mit 35 Prozent in der Privatwirtschaft erreicht. Heute steht in einzelnen Wirtschaftszweigen „die Zukunft kollektiver Verhandlungen überhaupt in Frage“, wie die Herausgeber eines jüngst erschienenen Buches über die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit schreiben. [3] Staatsinterventionen gegen die Gewerkschaften nehmen zu, von George W. Bushs Anti-Gewerkschafts-Maßnahmen bis zu Bundes-Insolvenzrichtern, die regelmäßig mit der Neuausfertigung von Arbeitsverträgen drohen.
Die Krise war Ansporn für ein Bündnis bedeutender Gewerkschaftsführer, bekannt als die „New Unity Partnership“ (Neue Einheits-Partnerschaft – NUP), eine tief greifende Umstrukturierung der Arbeiterbewegung zu fordern, mit dem Ziel der Organisierung der Unorganisierten. Sogar über einen förmlichen Bruch mit dem Dachverband AFL-CIO wird viel geredet. [4] Ein weiterer Bruch entstand zwischen den Arbeitergewerkschaften, die den Präsidentschaftsbewerber Richard Gephardt unterstützten, der für sein gewerkschaftsfreundliches Abstimmungsverhalten im Kongress bekannt ist, und Howard Dean, der den Gewerkschaften nichts versprach, aber von den Führern der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU (Service Employees International Union) und der Gewerkschaft AFSCME (American Federation of State, County, and Municipal Employees) für den öffentlichen Dienst als „wählbar“ gesehen wurde. Das Ergebnis war ein doppeltes Debakel für die Arbeiterbewegung: Während SEIU und AFSCME Deans „Wählbarkeit“ propagierten und die Lastwagenfahrergewerkschaft (International Brotherhood of Teamsters) von Gephardts Washingtoner „Beziehungen“ schwadronierte, strömten die gewerkschaftlichen Wähler zu einem Kandidaten, der behaupten konnte, auf beiden Gebieten stärker zu sein – zu John Kerry. Die Arbeiterbewegung trottete nun hinter Kerry her, mit weniger eigenem Profil als je zuvor. [5]
Doch es entstehen andere, hoffnungsvollere Elemente in der Arbeiterbewegung. An der Basis wächst die Bereitschaft zum Widerstand und für politische Aktivitäten außerhalb der Wahlen.
In den letzten Monaten des Jahres 2003 gab es Streiksiege der Beschäftigten der Yale-Universität und der Chicagoer Stadtentwässerung. [6] Kurz danach gelang es einer rebellischen Basis beinahe, die Führung der Lehrergewerkschaft von Chicago in einen Streik gegen einen schlechten Tarifvertrag zu zwingen. [7] In drei wichtigen Teamsters-Ortsverbänden in Chicago, Milwaukee, and Seattle wurden Verantwortliche der konservativen Gewerkschaftsführung abgesetzt. [8] Inzwischen unterstützten die Gewerkschaften eine Reihe von Kundgebungen zugunsten der Rechte von Immigrantinnen und Immigranten als Teil einer landesweiten Kampagne „Freiheitsrechte“, die einer Kundgebung von 100.000 Menschen in New York am 9. Oktober gipfelte. [9] Im Monat danach gingen 20.000 Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Straße um gegen die gesamtamerikanische Freihandelszone (Free Trade Area of the Americas – FTAA) zu protestieren und setzten gegen Polizeigewalt eine Demonstration durch, die die Behörden verhindern wollten. [10] Danach demonstrierten Tausende in verschiedenen Städten im ganzen Land für ihr Recht, den Internationalen Menschenrechtstag zu organisieren. Und im ganzen Jahr 2003 legitimierte die gewerkschaftliche Antikrieggruppe US Labor Against the War trotz ihrer begrenzten Größe Anti-Kriegs- und Anti-Besatzungspolitik der Gewerkschaften – eine lange überfällige und wichtige Entwicklung, vor allem angesichts der jahrzehntelangen Kollaboration mit der US-Außenpolitik im Kalten Krieg. [11]
Sicherheitshalber werden die Gewerkschaften alles auf die Wahlen 2004 werfen. Trotzdem sind die Kämpfe und Aktivitäten der letzten Monate Anzeichen für die Bemühungen der Arbeiterbewegung, ihre Krise in den Griff zubekommen, wenn auch stockend und unterschiedlich. Sowohl Potenzial als auch Grenzen der Gewerkschaften wurden beim Kampf der United Food and Commercial Workers (UFCW) gegen Zugeständnisse bei der Gesundheitsversorgung und andere Kürzungen sichtbar, wobei der Hauptkampf in Süd-Kalifornien trotz der konfusen und widersprüchlichen Strategie der UFCW Arbeitersolidarität in einem seit Jahren nicht mehr gesehenen Ausmaß mobilisierte. Auch wenn das Ergebnis noch nicht klar ist, hat der Kampf bereits konkret gezeigt, dass gewerkschaftlich organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter und ihr Umfeld sich hinter einen Kampf stellen, dessen Themen alle arbeitenden Menschen betrifft, organisierte wie unorganisierte. Nelson Lichtenstein, Historiker der Arbeiterbewegung, sagte zur Los Angeles Times: „Einige Streiks beginnen, über sich selbst hinauszuwachsen, und dies ist einer von ihnen. Er ist zu einem politisierenden Ereignis geworden, das Menschen zwingt, Position zu beziehen, auf die eine oder andere Art.“ [12]
Sich verschärfende Angriffe der Unternehmer von oben, zunehmende Unruhe der Basis von unten, Spaltungen in der Führung, neue Öffnungen für Aktivitäten und Organisierung – all das zusammen ist eine potenziell explosive Mischung. Der Aufgalopp vor dem nächsten AFL-CIO-Gewerkschaftstag 2005 wird darum zu einer viel tiefer gehenden Debatte über die Zukunft der Arbeiterbewegung führen als 1995, als AFL-CIO-Präsident John Sweeny die alte Garde absetzte. Die gewerkschaftliche Linke wird, trotz ihrer Schwäche, die Gelegenheit haben, in diese Debatte einzugreifen und eine Strategie von Basisorganisation, Gewerkschaftsdemokratie, Ablehnung von Zugeständnissen und Gewerkschaftskampagnen, gestützt auf aktive Arbeiterinnen und Arbeiter und den Aufbau von Bewegungen, vorschlagen.
Die Rezession von 2001 und die nur schwache Erholung haben es den Unternehmern erlaubt, ihre Angriffe auf die Arbeiterinnen und Arbeiter auf ein seit der Präsidentschaft Ronald Reagans 1980 beispielloses Maß zu verschärfen. Wie in der Reagan-Ära dienten Steuerkürzungen für die Reichen als ideologisch-politische Verpackung für einen Mehrfrontenkrieg gegen die Arbeiterinnen und Arbeiter. Reallöhne stagnierten oder fielen für die Mehrheit der Beschäftigten, da ein wachsender Teil der Einkünfte in die Profite gelenkt wurde. [13] Um dies auszugleichen, griffen Arbeiterinnen und Arbeiter immer mehr zu Krediten, oft über Kreditkarten mit astronomischen Zinssätzen. Im Jahre 2003 stiegen die Konsumentenkredite auf eine Höhe von 2 Billionen Dollar, und die Zahl der Privatinsolvenzen erreichte 1,6 Millionen. [14] Der Verlust von drei Millionen Arbeitsplätzen seit 2001 führte darüber hinaus zum schlechtesten Arbeitsmarkt seit der großen Krise der 1930er Jahre. Langzeitarbeitslosigkeit stieg zwischen 2001 und 2003 um 70 Prozent; zwei Millionen Menschen sind für 27 Wochen oder länger arbeitslos. [15] Einen Arbeitsplatz zu behalten, ist nur ein Teil des Kampfes. Von den etwa vierzig Millionen Menschen ohne Krankenversicherung 2001 waren fast 26 Prozent bei einem Großunternehmen beschäftigt. [16]
Dank explodierender Produktivität haben die Unternehmer die Rate der Neueinstellungen noch unter dem Niveau der Boom-Jahre der 1990er gehalten: ein Zuwachs von 4,3 Prozent in 2002/2003. [17]
Es gab buchstäblich keine Investitionen in High-tech-Ausrüstung, die angeblich den Produktivitätsschub in den Neunzigern bewirkt hatten. Logische Konsequenz: Weniger Menschen arbeiteten härter um mehr zu produzieren, während ihre Löhne stagnierten oder fielen. [18]
Die Bush-Administration mag die Unternehmeroffensive beschleunigt haben, aber sie hält im Grunde unvermindert seit der Präsidentschaft von Bill Clinton an. Clinton verantwortet die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA), die Wohlfahrts„reform“ und Deregulierung; durch Streichung von Arbeitsplätzen und Kürzung von Sozialausgaben erreichte er einen ausgeglichenen Haushalt, und seine Wirtschaftspolitik war eine direkte Förderung der Banker an der Wall Street. [19] Während Demokraten und Republikaner dieses Programm unterschiedlich fortschreiben wollen, verfolgen sie doch beide eine vom Big Business schon Anfang der 70er Jahre aufgestellte Agenda. Paul Krugmann, Wirtschaftswissenschaftler an der Princeton University und Kolumnist der New York Times, schrieb dazu: „Man kann nicht verstehen, was in Amerika heute passiert, ohne das Ausmaß, die Ursachen und die Konsequenzen des gewaltigen Anstiegs der Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten zu verstehen, insbesondere die Konzentration von Einkommen und Wohlstand in den Händen einiger weniger. [20]
Als Haupthindernis für diese Wohlstandsverschiebung von der Arbeit zum Kapital waren die Gewerkschaften ständig im Fadenkreuz des Amerikas der Unternehmer. Sie nutzten die Krise 2001 und die anhaltende Arbeitslosigkeit, um die praktisch völlig Beseitigung von Flächentarifverträgen in einigen Wirtschaftszweigen zu Ende zu bringen. Dieser Prozess ist am stärksten, wo die organisierten LKW-Fahrer einst das Symbols der Teamsters von Jimmy Hoffa Sr. und von Gewerkschaftsmacht überhaupt waren. Heute steht der Organisationsgrad der Trucker bei 18 Prozent, wobei United Parcel Service (UPS) für aus dem Durchschnitt herausragt. Der vom jüngeren Jimmy Hoffa schlecht geplante und in die Niederlage geführte Streik gegen die LKW-Gesellschaft Overnite hat letztlich nur die Schwäche der Gewerkschaft sichtbar gemacht; die wachsende Stärke der nicht gewerkschaftlich organisierten Federal Express im Transportgewerbe hat den Druck auf die Gewerkschaft erhöht. Aus dem LKW-Sektor dieses Wirtschaftszweigs sind die Gewerkschaften zu großen Teilen herausgedrängt: „Man kann wohl annehmen, dass gewerkschaftliche Tarifverträge in dieser Branche bald nicht mehr haltbar sein werden“, schrieb Michael Belzer, ein früherer Teamster und heute anerkannter Wissenschaftler der Transportwirtschaft. [21]
Selbst dort, wo die Gewerkschaften noch nennenswerte Hebel in der Hand halten, haben die Unternehmer die schwache Ökonomie benutzt, um Zugeständnisse zu fordern, die noch mehr Arbeitsplätze strichen und Löhne und Sozialleistungen begrenzten oder kürzten – und Gewerkschaftsfunktionäre haben dem in den meisten Fällen zugestimmt. Dies gilt sogar für hochprofitable Unternehmen. Selbst bei Verizon, der führenden Telekommunikationsgesellschaft der USA, stimmten die Gewerkschaften nach Aussagen von Managern Zugeständnissen bei der Gesundheitsversorgung und der Arbeitsplatzsicherheit im Werte von 1 Milliarde Dollar zu. [22]
Bei den Fluggesellschaften nutzten die Unternehmer Verluste, um Zugeständnisse zu rechtfertigen, die Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gewerkschaftlicher Erfolge zurückrollten. Entgegen der offiziellen Rechtfertigung, nach der es um Opfer zur Rettung der Airlines nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ging, waren die Zugeständnisse in Wirklichkeit die Lösung der Unternehmer für Überkapazitäten, von der die US-Wirtschaft generell betroffen war. Bei der bankrotten United Airlines belaufen sich die Kürzungen bei Löhnen, Arbeitsplätzen und -vorschriften auf 2,56 Milliarden Dollar in jedem der nächsten vom Vertrag abgedeckten sechs Jahre. [23] (Die United-Mechaniker bestraften dann ihre Gewerkschaft IAM (International Association of Machinists), indem sie beschlossen, zu einer Handwerker-Gewerkschaft zu wechseln.) Bei den ebenfalls bankrotten US Airways erreichte die Gesellschaft Zugeständnisse von 7,9 Milliarden über sieben Jahre und schloss die Pensionskasse der Piloten. [24] American Airlines erpressten mit der Drohung einer Insolvenz 1,8 Milliarden jährlich in einem 4-Jahres-Abkommen – und gaben dann die Existenz bankrottsicherer Pensionspläne für Top-Manager zu. [25] Dazu kommt, dass bereits vor diesen Zugeständnissen, seit den 80er Jahren, die Reallöhne in der Luftfahrt gefallen waren, für Stewardessen etwa um mindestens 20 Prozent. Und dies im am stärksten gewerkschaftlich organisierten Sektor der Privatwirtschaft, wo 2002 etwa 39 Prozent der Beschäftigten Gewerkschaftsmitglied waren. [26]
In der Stahlindustrie sind die etwa 600.000 Ruheständler Hauptziel für Zugeständnisse. Mit ihrer Zustimmung zu einem Restrukturierungsplan durch Insolvenzgerichte hat die Stahlarbeitergewerkschaft USWA (United Steelworkers of America) den Unternehmern erlaubt, die Gesundheitszahlungen für die Ruheständler zu kürzen und die Rentenzahlungen an die Pension Benefits Guarantee Corp. der Regierung zu übertragen, die mit mehr als 11 Milliarden im Minus ist und den Rentnern nur einen Teil dessen auszahlt, was ihnen zusteht. [27] Dies, wie auch gemeinsame Eintreten zusammen mit den Unternehmern für höhere Importzölle auf Stahl, ist die Strategie der Gewerkschaft zur Verteidigung der verbleibenden 124.000 Arbeitsplätze in der Stahlindustrie – um den Preis, die früheren Generationen von Stahlarbeitern fallen zu lassen. Am Ende hat USWA-Präsident Leo Gerard ein Spitzenbündnis mit Wilbur Ross, einem Wall-Street-Finanzier, der die International Steel Group (ISG) auf den Ruinen der LTV Steel and Bethlehem Steel gründete, geschlossen. (U.S. Steel machte einen ähnlichen Zukauf, indem sie die bankrotte National Steel übernahm und 35.000 Rentner und Angehörigen die Zahlungen kürzte.) [28] Ross unterstützte die jetzt ausgelaufenen Stahlzölle für China und andere Länder. Trotzdem hat ISG eine komplette frühere LTV-Stahlhütte nach China transportiert, wo sie in zwei oder drei Jahren die Produktion aufnehmen und weiteren Billigstahl auf den Markt werfen wird. [29]
Die Automobilarbeitergewerkschaft UAW (United Auto Workers) machte bei den Verhandlungen über einen 4-Jahres-Vertrag für 307.000 Arbeiterinnen und Arbeiter im September 2003 ebenfalls beispiellose Zugeständnisse, aber hauptsächlich für künftige Beschäftigte. Neu eingestellte in Delphi, einem früheren Werk von General Motors (GM), und Visteon, einem Ford-Ableger, werden 14 bis 16 Dollar pro Stunde bekommen, etwa 10 Dollar weniger als jetzige Arbeiterinnen und Arbeiter und Beschäftige in Montagewerken. Die genaue Höhe der Lohnkürzungen war nicht sofort bekannt, weil die UAW bereit war, die Verhandlungen abzuschließen, nachdem der Vertrag ratifiziert war. Das Abkommen gibt das 66 Jahre alte Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ auf – und um die Ratifizierung zu sichern, wurden die Stimmen der GM-Arbeiter mit denen von Delphi zusammen gezählt und entsprechend bei Ford und Visteon. [30]
Beschäftigte in Montagewerken sind auch betroffen, indem sie mehr für die Verschreibung von Medikamenten bezahlen müssen. Das Abkommen beinhaltet einen Vertragsbonus (eine für alle gleiche Einmalzahlung – d.Übs.). Die Renten werden zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht und die Grundlöhne in den nächsten vier Jahren nur um 5 Prozent steigen. [31] Tatsächlich sind die Löhne in der Automobilmontage seit 1980 praktisch unverändert geblieben, wenn man die Inflation berücksichtigt. [32] Auf Abteilungsebene öffnet der Vertrag die Türen für mehr „Team Concept“-Arbeit, in der viele Arbeitsplatzbeschreibungen und das nach Alter abgestufte Bewerbungsrecht eliminiert werden. [33] Diese so genannten modernen „operating agreements“ werden helfen, den Arbeitsplatzabbau im Bereich der UAW zu beschleunigen. Am Ende der Vertragslaufzeit werden der UAW, die 1979 ihren Rekord von 1,5 Millionen Mitgliedern hatte, nur noch 600.000 bleiben, viele davon außerhalb der Automobilindustrie. [34]
Die UAW plant, die Zentren ihrer Mitgliedschaft umzubauen, indem sie Neutralitätsabkommen mit den Unternehmern erreicht, die ihr die Organisierung großer Zuliefererwerke gestattet. Im Ausgleich will die UAW Lohnkürzungen akzeptieren und bei der Verbesserung der Qualität mitwirken. Als der Zulieferer Metaldyne Anfang des Jahres ein Fertigungswerk für Einzelteile in New Castle, Indiana von DaimlerChrysler kaufte, stimmte die UAW entsprechend einer Lohnkürzung um ein Drittel im Austausch für die Möglichkeit zu, dieses bislang „gewerkschaftsfreie“ Werk zu organisieren. [35] Die Lohntüten der Arbeiterinnen und Arbeiter werden geshreddert, aber die Basis der Gewerkschaftsbeiträge wird ausgeweitet – so etwa mögen die UAW-Funktionäre hoffen.
Die Realität ist, dass die UAW, die den Standard für steigende Löhne in der Fertigung setzte, um einen anständigen Lebensstandard für alle Handarbeiter zu sichern, jetzt Vorreiterin dafür ist, ihn nach unten zu treiben. Man fragt sich, wie die Gewerkschaftsfunktionäre glauben können, dass diese Strategie die 80 Prozent der Beschäftigten in der Automobilteilefertgung ansprechen könnte, die bisher nicht gewerkschaftlich organisiert sind – abgesehen von den Besserbezahlten in den nicht organisierten „Transplants“ von Nissan, Toyota, Mercedes, BMW und anderen.
Das Ausmaß der Konzessionen in der Automobil- und Stahlindustrie, in der Luftfahrt und anderen Branchen mag für manche Gewerkschaftsmitglieder schockierend sein. Und doch sind sie absolut logisch aus Sicht der Partnerschaft zwischen Kapital und Arbeit, die die Strategie der US-Gewerkschaftsführer seit einem halben Jahrhundert prägt. In den Blütezeiten des US-Kapitalismus in den 50-er und 60-er Jahren konnte ein solches Vorgehen wachsenden Lebensstandard für die Arbeiterinnen und Arbeiter bringen, selbst wenn dem Kapital freie Hand zum Auszuschütten enormer Profite gegeben wurde. Seit der Herausbildung einer mehr Konkurrenzgeprägten Weltwirtschaft seit den 1970-er Jahren versuchen die Unternehmer jedoch bei jeder Gelegenheit Zugeständnisse durchzusetzen oder ordnen sie einfach an. Gut bezahlte und von der Basis isolierte Gewerkschaftsbürokraten, die das Primat des Profits akzeptiert haben, waren bis auf wenige Ausnahmen bereit, den Unternehmern bei der Durchsetzung ihrer Kürzungen und „Umstrukturierungen“ im Tausch für die Garantie ihrer privilegierten Positionen zu helfen. Der feurige Arbeiterführer aus den Geschichtsbüchern hat also einer neuen Generation farbloser Technokraten Platz gemacht, die bestens im Verkaufen der Begründungen des Managements für die Forderung nach Zugeständnissen geschult sind –schlechte Wirtschaft, ausländische Konkurrenz, Haushaltsdefizit, Anti-Gewerkschaftsgesetze. Im Balanceakt zwischen Unternehmern und Lohnabhängigen versucht die Gewerkschaftsbürokratie, Konflikten wo irgend möglich aus dem Weg zu gehen.
Doch so sehr die Gewerkschaftsführer sich auch bemühen, immer mehr Konflikte lassen sich nicht vermeiden. Ein solcher Fall ist der Versuch von UPS, sich aus dem Firmenübergreifenden Pensionsfonds der Teamsters im Frachtgewerbe zurückzuziehen. Im Streik von 1997 hatte die Gewerkschaft nicht nur die Möglichkeit der Übernahme von Teilzeitkräften auf Vollzeitstellen erreicht, sondern auch den Pensionsplan der Gewerkschaft verteidigt. Diesmal will UPS, die schon 2002 Zugeständnisse durchgesetzt hatte, die den Erfolg der Teilzeitkräfte wieder zunichte machten, den Weg über den Kongress versuchen. Der Vorschlag, die UPS-Pensionen von denen anderer Firmen zu trennen, würde Tausenden von Teamsters-Rentnern nur noch Pensionen von 12.900 Dollar im Jahr belassen, etwa ein Drittel der heutigen Zahlungen. [36] (Inzwischen haben die Vertrauensleute der Teamsters einer bedeutenden Pensionskürzung zugestimmt und damit eine Serie gewalttätiger Proteste in mehreren Teamsters-Ortsverbänden ausgelöst. [37]
Wenn UPS Erfolg hat, werden die anderen Unternehmer folgen. David Stockman, früherer Budgetdirektor in der Reagan-Administration und jetziger CEO (Vorstandsvorsitzender) des Auto-Zulieferers Collins & Aikman, rief im November die Bundesregierung auf, eine Stiftung zu gründen und die Pensionen der Autoindustrie zu übernehmen. [38] Insgesamt fehlen den Rentenkassen der Unternehmer mindestens 350 Mrd. Dollar. [39] Verschiedene Großunternehmen haben bereits damit gedroht, ihre Pensionskassen zu schließen und der Regierung vor die Füße zu werfen, was die Leistungen drastisch kürzen und die Krise weiter vertiefen würde. [40]
Wie sieht es im öffentlichen Sektor aus, wo die Gewerkschaften mehr Einfluss behalten haben? Eine umfassende Analyse ist schwierig, wegen der vielen und verschiedenen staatlichen Körperschaften, mit denen die Gewerkschaften Verträge haben. (Es sollte angemerkt werden, dass etwa sieben Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes wegen der Anti-Gewerkschaftsgesetze in vielen Staaten und auf Bundesebene nicht mehr das Recht auf kollektive Tarifverhandlungen haben. [41]) Ein kurzer Blick auf die drei größten Städte des Landes macht jedoch klar, dass die Probleme dort dieselben wie in der Privatwirtschaft sind: Outsourcing, steigende Gesundheitskosten und Forderungen nach Produktivitätssteigerung.
In New York hat die größte Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, die 120.000 Mitglieder starke Bezirksgruppe 37 der AFSCME, seit Juli 2002 keinen Tarifvertrag – oder gar eine Lohnsteigerung – mehr erreicht. Sie steht immer noch in einem in die Länge gezogenen Kampf mit Bürgermeister Michael Bloomberg um die Forderungen der Stadt nach stromlinienförmigen Arbeitsregeln, Streichung von Krankheitstagen, Urlaubstagen und mehr. Bloomberg möchte die öffentlichen Schulen zum Modell seiner Pläne machen. Er fordert dort einen „schlanken Vertrag“, der von der Lehrergewerkschaft in vierzig Jahren erreichten Arbeitsregeln über Nacht streichen und die Produktivität massiv steigern würde; außerdem sollen die Hausmeisterdienste privatisiert werden. [42]
Am anderen Ende des Landes waren die Angestellten im Bezirk Los Angeles, Mitglieder der SEIU-Ortsgruppe 660, nicht ganz so aggressiven Forderungen nach Produktivität ausgesetzt, als sie Ende 2003 ihren Vertrag unterzeichneten. Sie stimmten jedoch einem Einfrieren der Löhne in 2004 und einer Steigerung unterhalb der Inflationsrate für die nächsten beiden Jahre zu. Wenn die Kosten der Krankenversicherung des Bezirks steigen, was sehr wahrscheinlich ist, wird das selbst diesen kleinen Zuwachs auffressen. [43] Als nächste im öffentlichen Dienst des Bereichs Los Angeles stehen die Lehrer vor Verhandlungen, die bereits Kürzungen in Bezug auf die Haushaltskrise Kaliforniens hinnehmen mussten und nun wahrscheinlich noch viel mehr aufgeben werden. [44] In Chicago, wo die örtlichen Gewerkschaften schon lange mit der Politmaschine der Demokratischen Partei verwoben sind, sahen sich die Gewerkschaftsführer gezwungen, zu einem Protest gegen die Pläne von Bürgermeister Richard Daley aufzurufen, der noch vor Weihnachten 1000 Beschäftigte hinauswerfen will – die letzte in einer ganzen Serie von Arbeitsplatzvernichtungen und Produktivitätskampagnen. [45] Dieses Muster wiederholt sich überall im öffentlichen Sektor.
Wenn die Unternehmer – öffentliche wie private – mutig genug sind, solch aggressive Forderungen aufzustellen, dann, weil sie Hand in Hand mit dem seit Jahrzehnten gewerkschaftsfeindlichsten Bewohner des Weißen Hauses zusammen arbeiten. Seit seiner Amtsübernahme hat George W. Bush Zwangsschlichtungen bei Streiks im Luftverkehr angedroht, das Taft-Hartley-Gesetz gegen die Hafenarbeiter bei West Coast angewandt, die Gewerkschaften aus weiten Teilen des neuen Heimatschutzmuseums ausgesperrt, neue Regeln zur Kürzung der Bezahlung von Überstunden von Millionen Beschäftigten gefordert, den Gewerkschaften Beschränkungen bei ihren Finanzen auferlegt und so weiter. In ihrer Häufigkeit und Aggressivität erinnern diese Angriffe des Weißen Hauses auf die Gewerkschaften an die Regierungszeit der Republikaner von 1920.
Diese gewerkschaftsfeindliche Welle bereitete den Grund für den größten Arbeitskampf seit Ende der 90er Jahre: Streik und Aussperrung im Einzelhandel
Anders als die mächtigeren Gewerkschaften in der Schwerindustrie und im Luftverkehr, hatte die Einzelhandelsgewerkschaft United Food and Commercial Workers (UFCW) wenig Rückzugsraum, als sie mit einer neuen Runde harter Forderungen bei Gesundheitskosten und Löhnen konfrontiert war. Jetzt, wo Wal-Mart ihren Konkurrenten Kroger als größten Einzelhändler der USA überflügelte, entschlossen sich die großen Supermarktketten (und einige kleinere regionale) die Macht der UFCW mit einer landesweiten Serie simultaner Angriffe im Herbst 2003 zu brechen. Ein monatelanger Streik gegen örtliche Ketten in St. Louis endete mit einem Teilsieg; ein zwei Monate dauernder Ausstand bei einer Kroger-Kette in West-Virginia endete mit einer Teilniederlage. [46] Aber die Entscheidungsschlacht sollte im südlichen Kalifornien geschlagen werden.
Die Zahlen erklären warum. Etwa 59.000 Menschen sind bei den drei größten Supermarktketten beschäftigt: Vons/Pavilion (Safeway), Ralphs (Kroger) und Albertsons. Gewerkschaften und Unternehmer sind sich einig, dass die Entscheidung im südlichen Kalifornien Vorbildfunktionen für die ganze Branche haben wird, vor den kommenden Tarifverhandlungen in Indianapolis, Chicago, Denver und anderen Städten.
Selbst gemessen an dem heute harten Klima für Gewerkschaftsverhandlungen sind die Forderungen der kalifornischen Unternehmer verheerend. Sie wollen einen Vertrag, der die Beschäftigten zwingen würde, einen Anteil der Gesundheitskosten zu tragen, der sich nach UFCW-Schätzungen auf 95 Dollar pro Woche belaufen würde – ein riesiger Betrag für schlecht bezahlte und oft nur in Teilzeit tätige Angestellte. Außerdem sollen Neueingestellte nur noch niedrigere Löhne erhalten. Manager sollen das Recht erhalten, bisher gewerkschaftlich organisierte Arbeit ohne Beschränkung auszulagern und in größerem Ausmaß über die zu leistenden Arbeitsstunden zu bestimmen. Die UFCW-Führer mussten eine Grenze setzen. [47] Am 11. Oktober 2003 zogen Streikposten vor den Läden von Safeway's Vons and Pavilions auf; am nächsten Tag sperrten Ralphs und Albertsons ihre Beschäftigten aus.
Anders als die Stahl- und Luftfahrtbosse können sich die drei größten Supermarktketten nicht auf Armut berufen. Ihre zusammen gerechneten operativen Profite stiegen von 5,1 Milliarden Dollar 1998 auf 9,7 Milliarden Dollar 2002. [48] Doch der Druck von Wal-Mart zwingt sie, sich entscheidend zu bewegen, solange es noch möglich ist – und sie haben die feste Unterstützung des Großkapitals. „Wenn die Gespräche zur Beilegung des Einzelhandelsstreiks im mittleren und südlichen Kalifornien wieder aufgenommen werden, werden die Unterhändler der Supermärkte einen treuen, aber unsichtbaren Verbündeten mit am Verhandlungstisch sitzen haben: die Börsenanalysten der Wall Street“, schrieb die Los Angeles Times Ende Dezember. Mia Kirchgaessner von der Investmentbank Sanford C. Bernstein & Co. schrieb, Streik und Aussperrung seien „eine der besten Investitionen, die die Einzelhändler tätigen könnten,” und eine, „die sich wahrscheinlich noch nach Jahren bezahlt machen wird.” [49]
In Los Angeles, wo die Gewerkschaften in den letzten Jahren die größten Fortschritte bei der Organisierung schlecht bezahlter Immigrantinnen und Immigranten gemacht hatten, wäre eine Niederlage für die UFCW ein besonders verletzender Schlag. Von Anfang an nahm die Bezirksgruppe Los Angeles des Gewerkschaftsbundes unter Führung von Exekutivsekretär Miguel Contreras die UFCW unter ihre Fittiche. Auch die UFCW-Führung weiß, was auf dem Spiel steht. Anfang Dezember rief die Gewerkschaft zu einem nationalen Treffen aller örtlichen Vorsitzenden und Spitzenfunktionäre in Los Angeles auf. „Wir wollen die Frage genau hier stellen: ‚Wie können wir den Streik gewinnen?’ Denn wir können ihn nicht verlieren“, sagte Greg Denier, der Pressesprecher der Gewerkschaft. [50]
Zu verstehen, dass der Streik zu bedeutend ist um ihn zu verlieren, ist jedoch nicht dasselbe, wie zu wissen, wie man ihn gewinnen soll. Die UFCW organisierte eine seit Jahren beispiellose Gewerkschaftssolidarität; und doch schreckt sie vor einer Taktik zurück, die den Kampf gewinnen könnte. Zunächst zog die Gewerkschaft ihre Streikposten von den regionalen Verteilzentren ab, die die Warenhäuser versorgen, scheinbar unter Druck der Teamsters, die etwa 6000 Fahrer und Lagerarbeiter der Gesellschaft vertreten. Als nächstes zog sie ihre Streikpostenketten von der Ralphs-Kette ab, um ein „Zeichen des guten Willens“ gegenüber der von den Buschbränden im Herbst schwer getroffenen Bevölkerung im südlichen Kalifornien zu setzen – obwohl die UFCW in West-Virgnia immer noch im Streik gegen die Gesellschaft stand. (Später kam heraus, dass die drei Ketten ihre Profite in der Zeit von Streik und Aussperrung teilen, und so den Versuch der Gewerkschaft unterlaufen, sie gegeneinander auszuspielen.) Kurz vor Thanksgiving schickte die Gewerkschaft ihre Streikposten wieder vor die Läden, nachdem sich die Teamsters bereit erklärt hatten, Streikgeld an die Mitglieder zu zahlen, die die Streikpostenketten respektierten [und die Läden nicht belieferten – Anm. d. Übs.] Aber einen Monat darauf wurden sie wieder abgezogen, offenbar weil Teamsters-Chef Hoffa sich daran störte, weiter Streikgelder zu zahlen. [51]
Übers.: Björn Mertens |
Kurz vor Weihnachten kehrte die UFCW an den Verhandlungstisch zurück und bot die Zustimmung zu Kürzungen im Bereich der Gesundheitsvorsorge an, die von GewerkschaftsführerInnen mit $ 350 Millionen beziffert wurden; die UnternehmerInnen wiesen dies zurück, und die Gespräche wurden tags darauf beendet. [52]Nach mehr als 3 Monaten Kampf sahen sich die meisten Arbeiter ihrer Gesundheitsunterstützung beraubt. Das Einschreiten des AFL-CIO verlieh dem Kampf etwas neue Energie mit einer lebhaften Versammlung am 31. Januar mit 20.000 Gewerkschaftsmitgliedern aus dem ganzen Bezirk Los Angeles. Tage später jedoch stifteten die UFCW-FührerInnen dadurch Verwirrung, dass sie plötzlich eine verbindliche Schlichtung zur Beilegung des Streiks vorschlugen. [53]
Supermarkt-Beschäftigte der UFCW retteten ihre Krankenversicherung und kehren nach 20 Wochen Streik an ihre Arbeitsplätze zurückMit einer Mehrheit von 86% nahmen die UFCW-Mitglieder in Süd-Kalifornien den neuen Tarifvertrag an, der für 70.000 Beschäftigte in fast 900 Geschäften gilt, darunter die drei Supermarkt-Ketten Safeway, Kroger und Albertsons.Pressemitteilung der UFCW vom 3.3.2004 John Kerry besuchte UFCW-Streikposten: Ich werde Bushs Steuergeschenke für die Reichen zurücknehmen und Geld für die Unterstützung von Familien ausgeben„Wenn ich Präsident bin, werde ich Bushs Steuergeschenke für die reichsten Amerikaner zurücknehme, um den Amerikanern ohne Krankenversicherung die Gesundheitsunterstützung zu geben, die sie und ihre Familien so dringend brauchen.“ John Kerry, der voraussichtliche demokratische Kandidat für die Präsidentschaftswahlen im November, besuchte letzten Donnerstag die Streikposten.Pressemitteilung der UFCW vom 1.3.2004 Starke internationale Unterstützung für Supermarkt-StreikHandelsgewerkschaften in der ganzen Welt verfolgen sehr genau den Supermarkt-Streik in Süd-Kalifornien. Ihnen ist bewusst, dass eine ähnliche Situation schnell in Europa, Asien, Australien oder anderen Teilen der Welt entstehen kann, wenn es der UFCW und ihren Mitgliedern nicht gelingt, die Krankenversicherung, die Löhne, Renten und andere Zahlungen der Einzelhandelsbeschäftigten zu verteidigen.Pressemitteilung der UFCW vom 24.2..2004 Quelle: http://www.union-network.org/UNIsite/Sectors/Commerce/index_ufcw_strike.htm |
Und sogar als der AFL-CIO sich um Solidaritätsaktionen in den gesamten USA bemühte, konnte die UFCW nicht einmal alle eigenen örtlichen Führerungen in Marsch setzen. In Chicago hatte der große UFCW-Bezirk 881 sich geweigert, an einer öffentlichen Kampagne gegen die Lebensmittelkette Safeway teilzunehmen und versucht, einen separaten Vertrag mit diesem Unternehmen auszuhandeln, der sogar auf die Schließung vieler Läden in den Dominicks-Ketten hinauslief. Das ganze interne Durcheinander wurde deutlich, als die UFCW – im vierten Monat des Arbeitskampfs – die Anzahl der streikenden und ausgesperrten Arbeiter mit 59.000 statt mit den 70.000 bezifferte, von denen sie zuvor immer gesprochen hatte. Etwa 11.000 Arbeiter in kleineren Supermarktketten, deren Eigentümer bereit sind, den Mustervertrag später zu unterschreiben, hatten weitergearbeitet.
Die unregelmäßige Streikführung der UFCW-Führung hat Geschichte. Entstanden durch einen Zusammenschluss im Jahr 1979 hat die Gewerkschaft ständig kleinere Gewerkschaften geschluckt, völlig außerhalb ihrer Zuständigkeit, und in den meisten Fällen deren eigene Verwaltungen beibehalten. [54] Das Ergebnis ist eine Gewerkschaft, die groß, aber kaum geschlossen ist – dominiert von mächtigen, und manchmal korrupten, regionalen Chefs und überbezahlten Spitzenleuten. [55] Die Gewerkschaft ist berüchtigt für den Streikbruch bei Hormel meatpackers in Austin, Minnesota im Jahr 1985/1986, wo die Arbeiter der UFCW-Ortsgruppe P-9 sich gegen Kürzungen wehrten. Der damalige UFCW- Präsident William Wynn behauptete, dass Nachgeben notwendig sei, um ein Zeichen in der Fleischwarenindustrie zu setzen. Das Ergebnis seiner Strategie war die Transformation eines Industriezweigs mit Spitzenlöhnen in Ausbeuterbetriebe für niedrig bezahlte Immigranten. [56]
Der Henker bei der Bezwingung der Ortsgruppe P-9 war Joseph Hansen, der deren Unterhändller wurde und einen grob gewerkschaftsschädigenden Vertrag aushandelte. Heute ist er der UFCW-Sekretär für Finanzen und für das Sammeln von Solidaritätsspenden beim Kampf im Einzelhandel verantwortlich. Douglas Dority, der UFCW-Präsident wurde, als Wynn im Zusammenhang mit Bestechungsvorwürfen zurücktrat, war auch persönlich an der Bezwingung der Ortsgruppe P-9 beteiligt. Die Wirkung dieses Verrats ist noch immer erkennbar: UFCW-Funktionäre ließen vor kurzem in einem Tyson-Werk in Wisconsin zu, dass ein 11-Monats-Streik von 400 Fleischverarbeitern sang- und klanglos einging. [57]
Im Jahr 2002 veröffentlichte der SEIU-Spitzenfunktionär Stephen Lerner ein Dokument über eine Strategie, um den Rückgang der Gewerkschaften umzukehren. „Die Arbeiterbewegung ist, wie sie gegenwärtig besteht, unfähig, Größe und Macht von Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten auszudehnen“, schrieb er und fügte später hinzu: „Wir können nicht auf Konsens warten. Eine Gruppe aktiv organisierender Gewerkschaften muss wie eine Arbeiterbewegung zu handeln beginnen und zeigen, wie die Arbeiterbewegung insgesamt vorgehen sollte.“ [58]
Ein Jahr danach hatte diese Gruppe Gestalt als die New Unity Partnership (Neue Einheit Partnerschaft – NUP) angenommen. Ihr Kern sind drei Gewerkschaftsvositzende und Absolventen von Elitehochschulen: Andrew Stern von den SEIU, John Wilhelm von der Gewerkschaft der Hotel- und Restaurantangestellten (HERE) und Bruce Raynor von der Textilgewerkschaft UNITE. Daran beteiligt ist auch die Gewerkschaft der ungelernten Arbeiter (LIUNA), und, außerhalb des AFL-CIO, die Vereinigung der Zimmerleute, die sich im Jahr 2001 aus der Föderation zurückgezogen hatte. Die Pläne der NUP wurden im August 2003 am Vorabend des Treffens des Exekutivrates des AFL-CIO den Medien zugetragen, um Sweeney die Show zu stehlen und selber die Tagesordnung der Arbeiterbewegung zu bestimmen. Auch wenn die Frage einer formalen Trennung noch offen ist, wird Sweeney zweifellos vor großen Problemen stehen, wenn er seine Wiederwahl auf dem AFL-CIO-Kongress 2005 erreichen will.
Kernargument der NUP ist, dass die Gewerkschaften so schwach sind, dass sie nicht mehr länger die Standards auch für unorganisierte Arbeiter in denselben Branchen setzen können. Dies wiederum schwächt ihre Durchsetzungskraft gegenüber den Unternehmern und ihre Anziehungskraft auf nicht organisierte Arbeiter. Lerner argumentiert:
„In ihrem fehlgeleiteten Einsatz ums Überleben haben die Gewerkschaften durch planloses Organisieren verschiedenster Bereiche nur ihre Kampfkraft verwässert. Versuche, neue Mitglieder zu gewinnen, um Verluste wieder gutzumachen – ein bisschen im öffentlichen Bereich hier, ein bisschen Kleingewerbe dort – diese Gewerkschaften werden zu ‚allgemeinen Arbeitervereinen’. Sie werden ‚Hansdampf in allen Gassen und Meister von keinem’; sie versuchen, die Verhältnisse in vielen Industriezweigen zu verbessern, wo sie aber jeweils zu wenige Arbeiter vertreten. ‚Allgemeines Sammeln aller Arbeiter’ erlaubt einer Gewerkschaft nur, ihren Rückgang in ihren Kernbereichen zu verschleiern.“ [59]
Bis hierhin gibt es wenig zu diskutieren. Was strittig ist, ist die im durchgesickerten Dokument skizzierte Lösung der NUP: eine radikale Umstrukturierung von oben, bei der kleine Gewerkschaften mit größeren verschmelzen sollen; neu abgegrenzte Organisationsbereiche für 15 Kern-Industriezweige; Abschaffung örtlicher Gewerkschaftsräte würden zugunsten ernannter Funktionäre; 77 Prozent des Budgets würde für Organisation zugeteilt, der Rest für Politik vergeben. Und für die Basis? „Die Arbeiter würden nicht mehr als die Beitragszahler sein, die sie schon allzu oft gewesen sind, – auch wenn sie hin und wieder in Busse getrieben, in die gleichen T-Shirts gesteckt und zu irgendeinem von der Spitze verfügten Zweck 'mobilisiert' würden“, schrieb die Gewerkschaftsjournalistin JoAnn Wypijewski. [60]
Manche haben die NUP mit dem Committee for Industrial Organization (Komitee für betriebliche Organisation) verglichen, der Strömung innerhalb des alten AFL, die sich später abspaltete, um den unabhängigen Congress of Industrial Organizations (Kongress betrieblicher Organisationen – CIO) im Jahr 1936 zu bilden. Der Unterschied ist natürlich, dass der CIO als Antwort auf eine von SozialistInnen und Kommunisten geführte aufständische Streikbewegung geschaffen wurde, die im Jahr 1934 in drei Städten Generalstreiks organisierte. Wie Herman Benson von der Association for Union Democracy (Vereinigung für Gewerkschaftsdemokratie) schrieb: „Der ideologische Duft der [NUP-] Pläne erinnert an die altmodischen Dispute früherer Jahre; eine seltsame Verbindung zwischen dem alten AFL-Konservatismus mit seinen rigide abgegrenzten Organisationsbereichen und dem alten radikalen Industrie-Gewerkschaftswesen mit seinen aufgrund abstrakter Diagramme proklamierter fiktiver Gewerkschaften.“ Benson bemerkt, dass Lerner die Diskussion über Gewerkschaftsdemokratie als „zu eng“ bezeichnet und schließt daraus, dass „die NUP eine Gewerkschaftsdemokratie als eine Unannehmlichkeit, sogar als ein Hindernis zu sehen scheint“. [61]
Politisch ist die NUP völlig widersprüchlich. Sie sammelt Progressive, wie Heck und Wilhelm, mit dem altgedienten Gewerkschaftschef Terrence O'Sullivan und dem konservativen Douglas McCarron von den Zimmerleuten, der ein Bündnis mit George W. Bush schmiedete. Doch die vermeintlichen Linken sind sogar hier bereit, im Namen des Pragmatismus eine Wende nach rechts zu machen: Streng, Wilhelm und O'Sullivan baten andere Gewerkschaftsführer, sie bei der Spende von 1000 $ oder mehr für Wiederwahl des republikanischen Sprechers Dennis Hastert zu unterstützen. Diese drei, zusammen mit McCarron, bestellten Tische für ein Dinner des republikanischen Kongresswahlkampfkomitees.
Es ist diese Betonung des politischen Realismus, die die SEIU dazu führte, Howard Dean als Präsidentschaftskandidaten zu unterstützen und mit Sweeney und den Gewerkschaften der einfachen Arbeiter zu brechen, die auf Richard Gephardt ausgerichtet waren. Sterns ewiger Rivale, AFSCME-Präsident Gerald McEntee, schloss sich ihm später an, um einen weiteren Keil in die oberste Gewerkschaftsführung zu treiben. Trotz aller Reden über Innovation und Bereitschaft mit Traditionen zu brechen drängt die SEIU, die treibende Kraft der NUP und die größte Gewerkschaft im AFL-CIO, die organisierte Arbeiterschaft so, einen Kandidaten zu unterstützen, der viele gewerkschaftsfeindliche Ziele verfolgt, u.A. Privatisierungen. So sieht der Kern der radikal klingenden Rhetorik der NUP aus: eine schlankere und schäbigere Arbeiterbürokratie, die an Mitgliedermobilisierungen (aber nicht an Gewerkschaftsdemokratie) interessiert ist, um die Unorganisierten zu organisieren und Stärke in Tarifverhandlungen zu gewinnen. Die politische Strategie der NUP ist auch keine Innovation. Es ist im Grunde genommen ein Wiederverpacken der langweiligen Tradition des Bestrafens der Feinde und des Belohnens der Freunde – die sich dann ebenfalls als Feinde erweisen. Da sich die Wahl 2004 nähert, will die NUP, wie der Rest des Gewerkschaftsestablishments, einen Kandidaten der Demokratischen Partei unterstützen, ganz gleich, wer es sein wird. Die NUP steht genauso wie Sweeney der Entwicklung einer von den Demokraten unabhängigen politischen Alternative feindlich gegenüber.
Wenn es zum Kampf gegen Zugeständnisse kommt, hat die NUP auch keine Alternative. In Chicago zum Beispiel plant die SEIU-Gruppe 73, das Outsourcing von Hausmeisterstellen im öffentlichen Dienst zu akzeptieren. Als Gegenleistung für die Wahrung des Rechts, jene Arbeiter zu vertreten, akzeptiert die Gewerkschaft eine Lohnkürzung um $ 5 pro Stunde. Mitgliederbeiträge werden vermutlich nicht gekürzt. Die Frage bleibt: Wie kann die Arbeit die Unorganisierten organisieren, wenn sie sogar den Status quo ihrer gegenwärtigen Mitgliedschaft nicht halten kann? Die NUP hat keine Antwort.
Dennoch ist die mit der Bildung der NUP ausgelöste Debatte zu begrüßen. So wie Sweeneys Vertreibung des konservativen Lane Kirkland im Jahr 1995 die Tür für mehr Aktivismus und Öffnung nach links auftat, so erzwingt die NUP-Debatte auch eine erneute Diskussion über den Zustand der organisierten Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaften sind seit geraumer Zeit in einer tiefen Krise, aber erst jetzt läuten die Alarmglocken. Die Rivalitäten und Trennungen an der Spitze, zusammen mit dem Aktivismus um den Streik im Lebensmittelbereich, bestimmen den Rahmen der Diskussionen und Kämpfe, in denen lang gepflegte Gewissheiten der Arbeiterbewegung in Frage gestellt werden: von der Streikpostentaktik bis zur bedingungslosen Unterstützung für die Demokratische Partei. Außerdem schaffen ihre Rivalitäten für diese oder jene Gruppe eine Tendenz, Konkurrenten durch Organisieren neuer Aktivitäten, Protesten und Anderem zu überbieten. Und je mehr Ressourcen in dieses Organisieren gesteckt werden – sogar bei einem mangelhaften bürokratischen Projekt –, um so besseres Potential bleibt den Aktivisten für die notwendige persönliche Arbeit in den Betrieben, die für das Wiedererstarken der Gewerkschaft wesentlich ist.
Die jüngsten Proteste gegen die Freihandelszone FTAA in Miami lieferten einen Blick auf Probleme, die auf die Gewerkschaft zukommen. Der AFL-CIO fasste auf hoher Ebene einen Beschluss, nach langer Abwesenheit nicht nur wieder auf den Straßen zu protestieren, sondern sich auch zu öffnen und Bündnisse mit Autonomen, GlobalisierungsgegnerInnen und internationalen UnterstützerInnen zu schmieden. Sowohl Sweeney als auch NUP-Führer Raynor waren vor Ort, um zur Menge zu sprechen, und alle drei prangerten das brutale Vorgehen der Polizei an. Die Politik war oft widersprüchlich – Gesten internationaler Solidarität kamen genauso vor wie Forderungen nach höheren Zöllen –, aber die dominierende Nachricht war die von Arbeitern, die sich über die Grenzen zu einem gemeinsamen Kampf zusammenschlossen. Dies war ein ganz anderer Ansatz als beim Kampf gegen die NAFTA in den frühen 1990ern. Arbeiter aus Südfloridas Baugewerbe, entlassene TextilarbeiterInnen aus North Carolina, und Stahlarbeiter aus dem Mittleren Westen zeigten sich offen für radikale und sozialistische Gedanken. Schließlich warf die harsche Behandlung der Gewerkschaften durch den Staat ein Licht darauf, was auf die kämpfenden Arbeiter in den kommenden Monaten und Jahren zukommt. Es war die unverblümte Botschaft des Kapitals an die Arbeit, die real besagt: Unsere Tage, Gewerkschaften als angesehene Partner zu behandeln, sind vorbei – und, wie wollt ihr damit umzugehen?
Trotz all der armseligen Führung zeigt der Streik im Einzelhandel und die Aussperrung das Potential für eine ganz andere Art des Kampfes auf – für eine, die mehr auf kämpferische Aktionen setzt. Die großen Solidaritätsversammlungen der Arbeiter des Lebensmittelbereiches haben den Gewerkschaften über Südkalifornien hinaus Sympathien entgegen gebracht – von LehrerInnen, ElektrikerInnen, MedienarbeiterInnen, solchen im Gesundheitsbereich, Beschäftigten im öffentlichen Dienst, und anderen. Höhepunkt war eine ‚Stoppt die Arbeit’-Versammlung durch die ILWU, die ihr vertraglich zugesichertes Recht nutzte, um während der Arbeitszeit eine Versammlung abzuhalten, um die Docks zu schließen und einen lauten Massenstreik mit einer Versammlung, zusammen mit der UFCW, im November zu veranstalten. Befragt, warum die Werftarbeiter eine solche Aktion durchführen, antwortete ein ILWU-Mitglied ganz einfach: „Ein Unrecht gegen einen Einzelnen ist ein Unrecht gegen alle“. [62]Viele Arbeiter und UnterstützerInnen aus Los Angeles haben sich den Protesten angeschlossen und ihre Gewerkschaften und örtliche Gruppen mobilisiert. Eine der phantasiereichsten Aktionen fand während der Erntedankwoche statt, als die Lastwagenfahrer vor den Streikketten stoppten und die Stimmung großartig war. Die Versammlungen spiegeln die ungeheure Vielfalt der US-amerikanischen Arbeiterklasse von heute wider – Schwarze, Weiße, Latinos, Asiaten, alle vereint im gemeinsamen Kampf.
Die Unterstützung der Lastwagenfahrer stellte, auch wenn sie nur einen Monat dauerte, einen Bruch mit dem bei Streiks leider zur Routine gewordenen Durchbrechen der Streikpostenketten dar. Der Gewerkschaftsexperte Harley Shaiken von der Universität Kalifornien-Berkeley nannte die Entscheidung der Lastwagenfahrer, die Streikposten zu unterstützen, „die Wiedergeburt der Arbeitersolidarität“. Als die Funktionäre der Lastwagenfahrergewerkschaft ihre Entscheidung zurücknahmen, weigerten sich viele Basismitglieder hier mitzumachen. In zwei Verteilzentren, in denen UFCW-Mitglieder mit den Lastwagenfahrern zusammen arbeiten, widersetzten sich die UFCW-Arbeiter den Führern; sie weigerten sich, die Streikposten zurückzuziehen, und hielten die Einrichtungen geschlossen. [63] Bedauerlicherweise hatten die UFCW-Mitglieder nicht den Mut, ihre Streikposten auf andere Warenhäuser zu verteilen.
Wenn die UFCW-Führungsstrategie schwankend und widersprüchlich ist, dann deshalb, weil es zu wenig Basismitglieder in der Organisation gibt, die einen solchen Kampf vorwärts treiben könnten, wie das eigentlich in jeder Gewerkschaft heutzutage ist. Weil die Gewerkschaften durch den Druck der Unternehmer zu Aktionen veranlasst wurden, haben sie Aktionen begonnen und Debatten eröffnet, die den Kontext für solche Organisationen schaffen können. Bis die Basis der Gewerkschaft fähig ist, solche Kämpfe zu bestehen, ist das wahrscheinlichste Szenario weiterhin von Zögern bestimmt, einen Kampf aufnehmen, und zurückzuweichen, wenn die Unternehmer zum Gegenschlag ausholen.
Mit welchem Resultat auch immer: Der Aktivismus und die Solidarität bei Streik und Aussperrung haben neue Standards für die Arbeiterbewegung gesetzt. Es hat sich als überzeugend erwiesen, dass Arbeiter – organisiert oder nicht – in einem solchen Kampf gemeinsam stehen und ihm enorme materielle Unterstützung gewähren. Weiter zeigt der Kampf im Einzelhandel, dass die Gewerkschaftsbewegung das Potential besitzt, den Schritt zu machen, den die GewerkschaftsführerInnen in den verlorenen Streiks der 90er Jahre nicht gemacht haben, nämlich den Einsatz von Streikbrechern durch die Unternehmer zu stoppen. Die Frage ist, ob und wann die Basis den Druck verstärkt, auch so zu handeln.
Das Ergebnis des Kampfes im Einzelhandel wird an den harten Zahlen bei den Löhnen, Sozialleistungen, Arbeitsbestimmungen etc. gemessen werden, und dies zu Recht. Jedoch gibt es ein weniger sichtbares aber dennoch bedeutsames Kriterium: ob der Kampf helfen kann, Netzwerke von Aktivisten in der UFCW mit verschiedenen Gewerkschaften zu knüpfen. Es ist nicht nur wichtig für die Solidarität künftiger Kämpfe, sondern auch für die Diskussion, wie die Arbeiterbewegung wiederbelebt werden kann und wie die ersten Schritte in Richtung einer Basisorganisation auszusehen haben.
Die Möglichkeit, so zu handeln, besteht –nicht nur in Südkalifornien. Es gibt eine Verbindung zwischen der Stärke der Arbeiter, die vier Monate in LA gestreikt haben und der Entschlossenheit der Stahlarbeiter in Arkansas, die gegen die FTAA in Miami trotz polizeistaatlicher Repressalien auf die Straßen gegangen sind. Die Fahnen der Gewerkschaften bei der großen Demonstration für ImmigrantInnenenrechte in New York erinnerten an die besten Traditionen der organisierten Arbeiter hinsichtlich Solidarität und Gerechtigkeit, wie die ILWU-Arbeitsniederlegung zur Unterstützung der Arbeiter im Lebensmittelsektor.
Diese Proteste und Kämpfe, die trotz der enormen Verluste, die die Bewegung erlitten hat, auf sie zukommen, werfen einen Blick auf das Potenzial der Arbeit, um den kommenden Herausforderungen gewachsen zu sein.
Es ist ein halbes Jahrhundert her, dass die antikommunistische McCarthy-Hexenjagd SozialistInnen als eine deutlich organisierte Strömung innerhalb der Gewerkschaften physisch entfernte – eine Strömung, die zum Kampf hätte mobilisieren und die Gewerkschaftsführung zur Verantwortung hätte ziehen können. Die Wucht des Aufschwungs, die Inflation und das Vertrauen, das mit einer Vollbeschäftigung kam, brachten eine Streikwelle von den späten 60er bis zu den frühen 70er Jahren – eine Rebellion, die von der Antikriegs- und der Black-Power-Bewegung beeinflusst war, besonders in der Automobilindustrie. Der Aufstand der Basis jener Jahre schuf die Möglichkeit organisatorische Verbindungen zwischen SozialistInnen und militanter Basis zu erneuern.
Viele sozialistische Organisationen schickten ihre Mitglieder „zur ‚Kolonialisierung“ in die Industrie, um jene Kämpfe entwickeln zu helfen. Hier waren die International Socialists am systematischsten und spielten bei der Etablierung von Basisgruppen eine wichtige Rolle in verschiedenen Gewerkschaften, am wichtigsten bei den Teamsters (Lastwagenfahrer). Andere solcher Gruppen entwickelten sich unabhängig, solche wie Bergarbeiter für Demokratie, die ihre korrupten FührerInnen verjagten, die einen reformbereiten Rivalen umgebracht hatten.
Während die Teamsters for a Democratic Union (TDU) als Reformgruppe überlebten, führte der Beginn der Rezession in den frühen 70ern und die folgende Offensive der Unternehmer zum Untergang praktisch jeder Basisorganisation. Nach Dekaden konservativer Sozialpartnerschaft und des völligen Fehlens von SozialistInnen in den Gewerkschaften waren die Bemühungen um die Konsolidierung von Basisorganisationen besonders schwierig. Kim Moody schreibt dazu:
„Das Fehlen einer gut organisierten sozialistischen Linken in den meisten dieser Bewegungen bedeutete, dass das von der modernen Gewerkschaftspraxis nach dem 2. Weltkrieg ererbte, fragmentierte Bewusstsein, trotz Erschütterung durch einzelne Aktionen, nicht von einem breiteren Klassenbewusstsein oder einer signifikanten Bewegung in Richtung einer unabhängigen Arbeiterklassenpolitik ersetzt wurde. Sogar die sichtbareren Basisorganisationen hatten untereinander wenig Kontakt. Sie kämpften ihre Schlachten mit ihren Unternehmern größtenteils innerhalb der Sphären ihres eigenen „privaten Wohlfahrtsstaats“. Des Weiteren kämpften sie von einer Position einer vermeintlichen Arbeitsplatzsicherheit aus, während die neue Kampfbereitschaft die Reallöhne für die meisten Gruppen über der Inflationsrate hielt. Wie oben bemerkt, wuchs die Wirtschaft schnell, die Wucht der fallenden Profitrate war noch marginal. Der „gesunde Menschenverstand“ dieser Zeit wurde von Aktionen erschüttert, an denen sich Millionen von Arbeitern ebenso wie die Antikriegs- und die sozialen Bewegungen beteiligten. Aber innerhalb der Arbeiterklasse gab es weder sozialistische Linke noch eine linke Ausrichtung auf die Arbeiterkämpfe, die stark genug war, um diese beiden Richtungen zusammen zu bringen. Dieses fragmentierte Bewusstsein überlebte nicht nur, ermutigt durch die moderne Gewerkschaftspolitik, sondern wurde jetzt wieder durch die Wahrnehmung wirtschaftlicher Unsicherheit in der Klasse verstärkt, was es der Bürokratie erlaubte, ihre Autorität wieder durchzusetzen und in den 80er Jahren eine neue Periode des Rückzug und der Zugeständnisse zu eröffnen. [64]
Dieser Rückzug lastet schwer auf der Gewerkschaftsbewegung. Das Stimmverhalten der AutoarbeiterInnen, Stahlkocher und Maschinisten, die in den letzten Jahren verheerende Konzessionen akzeptierten, ist Ergebnis des Rückzugs der letzten 20 Jahre. Lohnerhöhungen in den späten 90ern – verbunden mit Mehrarbeit – glichen teilweise Verluste aus den 80ern aus. Unternehmer und GewerkschaftsführerInnen gleichermaßen schlossen geschickt Verträge mit Vorruhestandsregelungen und Niedriglöhnen für Neueingestellte ab, um so die gewerkschaftliche Stärke ohne unnötige Konfrontation zu unterminieren. Wegen ihres Misstrauen, ob die Gewerkschaftsbosse wirklich einen Kampf führen zu wollen, akzeptierten die Arbeiter einen solchen Abschluss zu Lasten der Arbeitersolidarität. Mangels politischer Alternative meinten auch gute GewerkschafterInnen, keine andere Wahl zu haben. Viele sind klassenbewusst und über den wachsenden Druck auf ihr Leben verbittert, aber sie sind zynisch geworden oder ohne Selbstvertrauen zu einem Kampf.
Anderswo fühlten die Unternehmer sich für schärfere Maßnahmen stark – oder herausgefordert –, während ArbeiterInnen versuchten, eine Grenze zu setzen und durchsetzungsfähigere und reformorientierte FührerInnen wählten. Beispiele hierfür sind die LehrerInnengewerkschaft von Chicago und die Ortsgruppe 100 der Transportarbeitergewerkschaft in New York, zu der U-Bahn- und BusfahrerInnen gehören. In beiden Fällen wurde mit Unterstützung wichtiger AktivistInnen, die SozialistInnen sind, eine neue Führung gewählt, um den Mauscheleien und Zugeständnissen der alten Garde ein Ende zu machen. Doch in beiden Gewerkschaften haben die neuen Führungen in den letzten beiden Jahren ihre angekündigten Ziele bei weitem nicht erreicht und Tarifverhandlungen außergewöhnlich in die Länge gezogen. Sie konnten das machen, weil es keine Basisorganisation gab, die anstelle von zaudernden Führungen zu Aktionen hätte aufrufen können. Im Gegensatz dazu konnten Basisbewegungen in den 70er Jahren wilde Streiks durchführen oder die von der alten Garde dominierte Lastwagenfahrer-Gewerkschaft zu offiziellen Streiks zwingen.
Der Fall der Lastwagenfahrer in den 90ern macht die Grenzen der Führung reformistischer Gewerkschaft ohne große Basis im Hintergrund deutlich. Die Wahl des Reformers Ron Carey 1991 wäre ohne die langjährige Arbeit der TDU und anderer AktivistInnen in der Gewerkschaft unmöglich gewesen. Der erfolgreiche UPS-Streik von 1997 – der das ganze Land in Bann schlug und breite Unterstützung fand – hätte das Tempo für die gesamte Arbeiterbewegung bestimmen sollen. Stattdessen wurde Carey wegen Korruptionsvorwürfen (die das Bundesgericht Jahre später als haltlos bewertete) aus seinem Posten gejagt, ohne Unterstützung des AFL-CIO oder der TDU. Gewiss war es schwierig, gegen die Heftigkeit der Regierungsintention, ihn zu beseitigen, eine erfolgreiche Verteidigungskampagne aufzubauen. Aber dies wäre eine Gelegenheit gewesen, sich gegen staatliche Einmischungen in Arbeiterangelegenheiten zu wehren, wie sie sich in jüngster Zeit verstärkt haben.
Es soll hier nicht gesagt werden, dass die Wahl von Reformern irrelevant sei. Sweeney ist Kirkland vorzuziehen. Die Wahl von Carey war ein enorm großer Schritt für die Lastwagenfahrer, und James P. Hoffas anschließende Wahl war ein riesiger Schritt rückwärts. Und es soll auch nicht gesagt werden, dass GewerkschafterInnen noch warten sollten, bevor sie Reformer ins Amt wählen. Eher geht es darum, dass die Wiederbelebung der Arbeiterbewegung nicht von oben, von einzelnen Reformern oder Initiativen wie der neuen NUP kommen wird, sondern sich aus der Quelle speist, die sie immer hatte: der Basis. Dies ist zwangsläufig ein langfristiger Prozess.
Wo stehen nun SozialistInnen in den Gewerkschaften heute? Im Gegensatz zu den 30er und selbst den 70er Jahren sind SozialistInnen in den Gewerkschaften selten innerhalb derselben Branchen und Gewerkschaften konzentriert. Manche sind aktiv seit den 70ern, und eine jüngere Generation von SozialistInnen hat sich in den letzten Jahren herausgebildet. Die Frage ist, wie man sich von individuellen und kleinen Gruppen von SozialistInnen in einer bestimmten Gewerkschaft hinbewegt zur Initiierung von Aktivitäten, die zu der Art von Basisorganisation führen kann, die Gewerkschaftspolitik auf lange Sicht beeinflussen kann. Während diese Aktivität manchmal die Kandidatur als Gewerkschaftsfunktionär einschließt, ist das Ziel einer Basisorganisation verschieden.
Das Ziel muss es sein, die eigenen Fähigkeiten der Arbeiter, beharrlich für ihre Interessen zu kämpfen, zu steigern, um das Fundament vorzubereiten, wenn SozialistInnen eines Tages um die Führung in den Bewegungen der Arbeiterklasse kämpfen. Dies ist keine abstrakte Debatte darüber, wie die Welt aussehen sollte, sondern ein Streit über Ideen, Strategien und Taktiken der Arbeiterbewegung – davon, wie man mit einer beleidigenden Aufsicht umgeht bis zur Frage, wie man einen Streik gewinnt. So zielt Basisstrategie, die im Arbeitsalltag verwurzelt ist, auch auf eine Verbindung der Tageskämpfe mit einer tieferen sozialistischen Analyse der Welt und dem Herausbilden einer politischen Alternative. Auf diese Art und Weise werden die Verbindungen zwischen sozialistischer Organisation und der Arbeiterbewegung allmählich wieder hergestellt werden.
Heute steht das Streikniveau auf einem historischen Tief. Aber die Aktionen um den südkalifornischen Streik, die den Siegen in Yale und dem Chicagoer Kanalisationsstreik und dem Beinahe-Streik in der LehrerInnengewerkschaft in Chicago folgten, zeigen neue Möglichkeiten des Aufbaus einer Arbeiterbewegung auf, die weiß, wie man kämpfen muss.
Die seit mehr als zwei Jahrzehnten offensichtliche Krise der Arbeiterbewegung nähert sich in den kommenden Monaten und Jahren der Belastungsgrenze. Sie wird wahrscheinlich den organisatorischen Ausdruck in Form von Spaltungen und Fusionen annehmen, aber sie eröffnet auch eine politische Debatte in der Bewegung auf einem Jahrzehnte lang unerreichten Niveau.
In diesem Zusammenhang werden SozialistInnen Gelegenheit haben, dass ihre Ideen Gehör finden, aber sie werden auch ihre Strategien in der Praxis testen können. Wo GewerkschaftsführerInnen versuchen, die Krise mit bürokratischer Umstrukturierung auf Kosten der Arbeiterdemokratie zu beheben, werden SozialistInnen ihre Vorstellungen von Basisaktivismus, Kampfgeist, Widerstand gegen Konzessionen und Solidarität an der Basis als Gegenvorschlag vorbringen.
In jedem Fall garantiert die wachsende Aggressivität der UnternehmerInnen mehr und mehr, dass heftige Konfrontationen im Kommen sind. Eine zuversichtliche, wohlorganisierte Gruppe von SozialistInnen in den Gewerkschaften, wenn auch klein, kann einen wichtigen Beitrag zum Basiswiderstand leisten, der Gestalt annimmt.
Übersetzung: H.K. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 394/395 (September/Oktober 2004).