Unser Genosse Livio Maitan, führendes Mitglied der IV. Internationale, ist am 16. September in Rom gestorben. Zu seiner Beerdigung am 19. September versammelte sich eine große Trauergemeinde. Es wehten die roten Fahnen der Internationale und der partito di rifondazione (PRC).
Alain Krivine
Livio Maitan, 1923 in Venedig geboren, absolviert sein Studium mit einem Diplom für klassische Literatur an der Universität Padua und schließt sich zunächst dem sozialistischen Widerstand unter der Besatzung an. Er wird sodann gezwungen, in die Schweiz auszuwandern und lernt dort gegen Ende des Krieges die Internierungslager kennen. Bei der Befreiung wird er Organisator der sozialistischen Jugend, bricht dann aber 1947 mit der Sozialdemokratie und wendet sich der IV. Internationale zu. Von da an wird er einer der bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Strömung in Italien. Er wird es bis zu seinem Tod bleiben.
1948 gehört er schon zur Leitung der „Demokratischen Volksfront“. 1951 wird er Mitglied der Leitung der IV. Internationale und wird dort Weggenosse derjenigen, die es unter den schwierigsten Bedingungen auf sich genommen haben, den Kampf Trotzkis und der linken Opposition fortzuführen: Michel Raptis (Pablo), Ernest Mandel oder etwa Pierre Frank. Von dieser Gruppe wird er der letzte Überlebende sein.
Von einer Leidenschaft für Lateinamerika erfasst wird er sich mit so unterschiedlichen Situationen befassen müssen wie der dramatischen Beteiligung unserer GenossInnen am bewaffneten Kampf gegen die Diktatur in Argentinien oder etwa dem Aufbau der Arbeiterpartei (PT) in Brasilien.
Livio hat die wichtigsten Werke Trotzkis ins Italienische übersetzt und oft dazu auch das Vorwort geschrieben. Er interessiert sich auch für die Entwicklung der chinesischen Revolution, zu der er Artikel und Bücher schreibt. Es ist eine schwere Zeit, in der es gegen den Strom standzuhalten gilt, und zwar sowohl gegen den Druck aus dem bürgerlichen Lager, das die Trotzkisten als „Ultra-Revolutionäre“ bezeichnet, als auch gegen die Angriffe der Stalinisten, die unsere Strömung als „Hitler-Trotzkisten“ titulieren. Aus dieser langen Zeit des Kampfes hinterlässt uns Livio eine ganze Reihe von Werken: Attualità di Gramsci e politica comunista (1955), Teoria e politica comunista nel dopoguerra (1959), Trotzki oggi (1959), Il Movimento operaio in una fase critica (1966), PCI 1945-1969 (1969), Partito esercito e masse nelle crisi cinese (1969), Dinamica delle classe sociali en Italia (1976), Crisi del marxismo versione anni 70 (1080), Destino di Trotsky (1981), Il marxismo rivoluzionario di Antonio Gramsci (1987), Al termine di une lunga marcia, dal PCI al PDS (1990), Anticapitalismo e comunismo: potenzialità e antimoni di une rifondazione (1992), Il Dilemma cinese (1994), Dall’Urss alla Russia (1996), Tempeste nell’economia mondiale (1998), La Cina di Tienanmen (1999), La Strada percorsa, dalla Resistenza all’ nuovi movimenti: lettura critica e scelte alternative (2002). Als sein Herz aufhört zu schlagen, ist er übrigens gerade dabei, ein Buch über die Geschichte der IV. Internationale abzuschließen.
Mit Livios Tod wird eine Seite umgeschlagen, aber eine weitere wird – auch dank ihm – gerade geschrieben, die der Öffnung. Seit den 1990ern haben Livio und andere Führer der Internationale die Erscheinungen der Zersetzung und der Neuzusammensetzung der revolutionären ArbeiterInnenbewegung verstanden. Er wusste, dass dies nicht ausschließlich von der IV. Internationale zu bewältigen ist und dass es darauf ankam, eine neue Ausarbeitung des Programms und eine antikapitalistische Kraft zu befördern, im Bruch sowohl mit den sozialdemokratischen Kapitulationen wie auch mit dem Verrat der Stalinisten. Schon hat sich die Perspektive herausgeschält, einen Beitrag zur Umgruppierung antikapitalistischer Kräfte, gleich welcher Tradition oder Herkunft, zu leisten. Diese Vorgehensweise, die heute von der IV. Internationale umgesetzt wird, ist angesichts der Erklärung des totalen Kriegs durch Bush gegen die Völker und angesichts der beispiellosen Offensive des Kapitals gegen die Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung dringlicher denn je.
In diesem Rahmen treten Livio und seine GenossInnen – organisiert um die Zeitung Bandiera rossa – der linksradikalen Organisation Democrazia proletaria bei, die später an der Gründung der PRC beteiligt sein wird, zusammen mit Zehntausenden von GenossInnen der PCI, die den Sozialdemokratisierungskurs ihrer Partei nicht mitmachen wollen. Ab 1991 wird Livio bei jedem Kongress in die Führung der Partei gewählt. Schon bei der Gründung dieser Partei hatten die italienischen GenossInnen der IV. Internationale mit Zustimmung der PRC-Leitung entschieden, sich am Aufbau dieser Organisation zu beteiligen. Sie machen die Positionen der Internationale mit Publikationen wie Bandiera rossa oder wie künftig mit dem breiteren Organ ERRE bekannt. Einige unsrer GenossInnen nehmen verantwortliche Positionen für die Partei im Senat, in den Regionalgliederungen oder in der Leitung der Tageszeitung Liberazione ein. Die Anwesenheit von Fausto Bertinotti [des Generalsekretärs der PRC, d. Red.] und zahlreicher GenossInnen und Leitungsmitglieder der PRC bei der Trauerfeier für Livio belegt diese Integration.
Kontinuität, Öffnung: Livio ist auch ein Genosse mit einer großen Menschlichkeit, in krassem Gegensatz zu der Karikatur, die so manche von den „alten Trotzkisten“ zeichnen. Ihm ist der Dogmatismus von jeher ein Graus und er schlägt sich gegen alle sektiererischen Abweichungen, die es leider in der Bewegung gibt. Er meidet den Flitter und die Medien und legt eine Einfachheit an den Tag, die die jungen GenossInnen überrascht. Als ich in noch jungen Jahren in die Leitung der Internationale kam und von der Erfahrung aller langjährigen Leitungsmitglieder beeindruckt war, kommt der Kontakt zu Livio am leichtesten von allen zustande. Er liebt es zu diskutieren und stundenlang zuzuhören, um die GenossInnen, ihr Leben, ihre Probleme kennen zu lernen. Er hat auch eine große Fähigkeit, sich nicht von Tagesereignissen blenden zu lassen, und er bewahrt sich immer ein gesundes Maß an Humor.
Livio bewahrt bis zum Schluss drei Leidenschaften: die Revolution, das Leben und den Fußball. Gelegentlich bedeutet ihm sogar der letztere mehr als eine Sitzung oder Zusammenkunft, die nicht immer gerade begeisternd ist. Mit 70 noch betreibt er in Paris diesen Sport mit einer Amateurmannschaft von GenossInnen der LCR [franz. Sektion der IV. Internationale, d. Red.].
Seit einigen Jahren nun ging es mit seiner Gesundheit bergab und er musste in Rom bleiben und sich telefonisch über die aktuellen Entwicklungen in unsrer Bewegung auf dem Laufenden halten lassen, im besonderen was die LCR anging, die er mit viel Aufmerksamkeit verfolgte.
Sein Ableben hat in der gesamten internationalen Bewegung tiefe Anteilnahme hervorgerufen, wie die Dutzenden von Botschaften bezeugen, die von allen Kontinenten kamen und 3 Tage lang in der Tageszeitung Liberazioneabgedruckt wurden.
Für uns ist jetzt ein Loch entstanden. Es ist vorbei mit seinen scharfen Einwürfen und seinen Scherzen, seinen Analysen und seinen auf den Punkt gebrachten Redebeiträgen, in denen man immer das Gefühl hatte, etwas zu lernen. Vorbei auch diese wilden Begegnungen, bei denen er uns zwischen zwei Gläsern die Umschwünge der italienischen Politik vermittelte. Ciao Livio, wir werden weitermachen.
Alain Krivine ist Leitungsmitglied der Ligue communiste révolutionnaire (LCR), französische Sektion der IV. Internationale. Übersetzung aus dem Französischen: D. B. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 396/397 (November/Dezember 2004).