Palästina

Arafats Hinterlassenschaft

Will man die Politik des Ende November 2004 verstorbenen Palästinenser-Präsidenten Jassir Arafat bilanzieren, müssen seine unbestreitbaren Erfolge – allen voran das Verdienst, die PalästinenserInnen zu einer politischen Einheit zusammengeführt zu haben – aufgewogen werden gegen seine Versäumnisse und den die letzten 25 Jahre weitgehend dominierenden Verrat. Arafats Vermächtnis ist geprägt durch eine Reihe von ungelösten Problemen, wie sein Leben überschattet war von Kontroversen und so manchem Rätsel.

Roland Rance

Unklar ist schon der Ort, an dem Arafat 1929 das Licht der Welt erblickt hat. Ob Jerusalem, Kairo oder Gaza, fest steht, dass Arafat, ein Abkömmling der angesehenen palästinensischen Husseini-Familie, wie viele PalästinenserInnen seiner Generation die Kindheit abwechselnd in Palästina und Ägypten verbringt. Dieses Pendeln zwischen zwei Ländern findet mit der Teilung Palästinas und dem israelischen Sieg über die arabischen Armeen 1947/48 ein Ende. Allerdings bleibt Arafats Familie vom Flüchtlingsschicksal verschont. Arafats Elternhaus in der Jerusalemer Altstadt steht bis 1967, bevor es von den Israelis im Zuge der Besetzung Ostjerusalems geschleift wird – zu einem Zeitpunkt, als sich Arafat bereits dem palästinensischen Befreiungskampf angeschlossen hat. Er übernimmt die Führung des palästinensischen Studentenverbands. 1959 gelingt es ihm, aus dieser Position heraus die palästinensische Befreiungsbewegung Fatah aufzubauen.

In dieser Zeit bemühen sich die meisten arabischen Staaten einschließlich Ägyptens unter dem nationalistischen Nasser-Regime, unter strenger Geheimhaltung auf Kosten der PalästinenserInnen mit Israel zu einem Abkommen zu gelangen. In einem offenbar auf Geheiß der US-Regierung unternommenen Versuch, eine willfährige Palästinenserorganisation ins Leben zu rufen, gründet Nasser 1964 die PLO, mit deren Führung der Diplomat Ahmed Shukeiri betraut wird. Trotz rhetorischer Beschwörung des bewaffneten Kampfs als „einzigem Weg zur Befreiung Palästinas“ attackiert die PLO unter Shukeiri nur vereinzelt Israel, während Arafats Fatah und andere kleine Guerilla-Organisationen Dutzende Angriffe ausführen.

Als Israel im 67er-Krieg den Rest Palästinas besetzt, kann Arafat die Gelegenheit für sich nutzen. Der Krieg offenbart die Ineffizienz, ja Feigheit der regulären arabischen Armeen. Nicht umsonst kann Arafat Jahre später damit prahlen, die PLO habe 1982 beim israelischen Angriff auf die Beiruter Müllhalden mehr Männer verloren als alle arabischen Armeen zusammen 1967 bei der Verteidigung Jerusalems. Jedenfalls geraten in der Folge dieses Krieges Hunderttausende PalästinenserInnen, die oft eine militärische Ausbildung erhalten haben, unter direkte israelische Herrschaft.

Mit dem immer repressiveren Besatzungsregime und der Aufnahme der Siedlungstätigkeit nehmen auch die Guerrilla-Angriffe und die israelischen Vergeltungsmaßnahmen sprunghaft zu. In der Schlacht von Karameh 1968 kann die Fatah einen israelischen Angriff auf ihre Stellungen in Jordanien abwehren. Es ist – trotz hoher palästinensischer Verluste – das erste Mal, dass die israelische Armee eine militärische Niederlage einstecken muss. Mit einem Schlag mobilisieren sich die PalästinenserInnen – und mit ihnen die ganze arabische Welt. Innerhalb eines Jahres übernimmt die Fatah die Kontrolle über die PLO und verdrängt Shukeiri und seine ägyptischen Unterstützer. Allein 1969 greift die PLO Israel über 2000 Mal an. Für viele radikale westliche AktivistInnen der 68er-Bewegung wird Arafat zu einem Helden, auch wenn er angesichts seiner konservativen sozialen Einstellungen in den Augen der 60er-Generation als Symbol wenig glaubwürdig ist.

In dieser Phase ändert die PLO ihre Charta und verschreibt sich dem Ziel eines demokratischen, laizistischen Staates in Palästina. In Europa finden zahlreiche Geheimtreffen mit israelischen DissidentInnen statt. Vieles spricht dafür, dass Arafat schon damals die Absicht hegt, diese Treffen zu nutzen, um mit Israel zu einem Abkommen zu gelangen, das ihm die Anerkennung als Führer eines Rumpfpalästinas sichert.

Im Gegensatz zu den radikaleren Organisationen wie Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) lehnt Arafat die Strategie arabischer Revolutionen als Weg zur Befreiung Palästinas ab und sucht lieber das Bündnis mit bestehenden arabischen Regimes. Er versucht, den Druck auf Israel auf diplomatischer Ebene zu erhöhen und seiner Strategie durch die Androhung bewaffneter Angriffe über die Grenzen hinweg Nachdruck zu verleihen.

Mit der Katastrophe des libanesischen Bürgerkrieges in den 70er-Jahren und der israelischen Invasion 1982 wird diese Strategie auf die Probe gestellt. Quer durch die Flüchtlingslager schließen sich PLO-Mitglieder aus Enttäuschung über die Unfähigkeit der PLO, die PalästinenserInnen zu verteidigen, und Empörung über die immer offensichtlicher zutage tretende Korruption dem Aufstand gegen Arafats Führung an, was 1984/85 im „Lagerkrieg“ gipfelt. Doch die abtrünnigen Kämpfer setzen auf die falsche Karte, indem sie die „politische“ gegen eine „militärische“ Strategie ausspielen, anstatt sich die entscheidende Frage zu stellen, wie eine wirkliche Massenbewegung aufgebaut werden kann, die die politische und die militärische Dimension miteinander verbindet.

Der unsichere Waffenstillstand, der auf diese Krise folgt, hält bis zur ersten Intifada an, die im Dezember 1987 ausbricht. Obwohl es sich offensichtlich um einen Massenaufstand gegen die israelische Besatzung handelt, wird die Intifada von vielen auch als Aufstand gegen Arafat und die zunehmend ungreifbare Exilführung verstanden. Erstmals seit dem „arabischen Aufstand“ 1936–1939 wird spürbar, welche Kraft von einem zivilen Massenaufstand gegen Besatzung und Unterdrückung ausgehen kann. Trotz brutaler Repression ist Israel nicht in der Lage, die Intifada niederzuschlagen, und muss Arafat zu Hilfe rufen, um ihm die Aufgabe zu überlassen, an seiner Stelle das palästinensische Volk zu regieren. Nur zu bekannt ist die Aussage des israelischen Ministerpräsidenten Rabin, Arafat solle „ohne den Obersten Gerichtshof und ohne die Menschenrechtsbewegung“ herrschen – zwei Faktoren, die Israel daran hindern, sich zügelloser Barbarei hinzugeben.

Arafat enttäuscht die israelischen Erwartungen nicht. Die letzten zehn Jahre seit Unterzeichnung des Oslo-Abkommens und der Rückkehr Arafats und seines Anhangs nach Palästina haben den palästinensischen Widerstand empfindlich geschwächt und demoralisiert. Die Hinwendung zu islamischfundamentalistischen Kräften und der Taktik von „Selbstmordanschlägen“ legen Zeugnis davon ab, dass es Israel mit Hilfe Arafats gelungen ist, die in der ersten Intifada maßgeblichen Basiseinrichtungen zu zerschlagen.

Was Arafat hinterlässt, ist damit eine gespaltene Palästinenserbewegung, politische Unterdrückung und finanzielle Korruption sowie die Wahrscheinlichkeit eines erbitterten, wenn nicht blutigen Nachfolgekampfs, in dem diskreditierte Persönlichkeiten, die meist auf den Rückhalt Israels und der USA setzen können, darin wetteifern, den PalästinenserInnen weitere Katastrophen zu bereiten.

Aus dem Englischen: Tigrib



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 398/399 (Januar/Februar 2005).