François Sabado
1. In Europa findet gerade eine neue und brutale Phase der Angriffe der herrschenden Klassen zur Beschleunigung der Integration des Kontinents in die kapitalistische Globalisierung und zur Umgestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen statt. Seit den Gipfeltreffen von Lissabon (2000) und Barcelona haben die wichtigsten Regierungen der Europäischen Union eine Strategie entwickelt, wie man den europäischen Bourgeoisien größere Manövrierspielräume verschaffen kann. Diese Strategie reagiert auf die neue Stärke der innerimperialistischen Widersprüche. Diese Widersprüche haben sich anlässlich des Irak-Krieges gezeigt, aber es geht auch um den unbarmherzigen Kampf um die Aufteilung des Weltmarktes. Ein weiterer Ausdruck dieser neuen innerimperialistischen Konkurrenz zeigt sich in der Politik des schwachen Dollars, die das Ziel hat, US-amerikanische Waren und Firmen zu begünstigen. Die herrschenden Klassen in Europa, die die kapitalistische Globalisierung vorantreiben, reagieren auf diesen neuen Wettbewerb mit einer Umstrukturierung der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen.
2. Es geht ihnen darum, die Überreste des „europäischen Sozialmodells“ zu beseitigen, eine Reihe von Maßnahmen zu entwickeln, um die Arbeitskosten zu senken, die Systeme der sozialen Sicherheit abzubauen, die Öffentlichen Dienste zu privatisieren, die Arbeitszeit zu verlängern, wie dies gerade die deutschen, belgischen und französischen Unternehmen machen, indem sie die Maßnahmen zur Verkürzung der Arbeitszeit zunichte machen. Diese Angriffe werden auf der ganzen Linie vorgetragen, vor allem in Deutschland, einem Land, das in bestimmter Weise geradezu die Verkörperung des sogenannten „Wohlfahrtsstaates“ war. Die Regierung Schröder hat in letzter Zeit alle Leinen losgelassen, um auf drastische Weise die Rechte von Erwerbslosen einzuschränken, die Arbeitszeit zu verlängern und die Zuzahlungen in der Krankenversicherung und bei den Medikamenten zu erhöhen. Allein im September und Oktober 2004 hat die deutsche Industrie 41 000 Arbeitsplätze vernichtet. Dies bestätigt einmalmehr, dass es auch unter einer linken (rot-grünen) Regierung im globalisierten weltweiten Kapitalismus keinen Raum für eine keynesianische oder neokeynesianische Politik der Wirtschaftsankurbelung gibt.
3. Diese Politik wird sowohl von rechten Regierungen wie derjenigen von Chirac und Berlusconi, wie von solchen der Linken wie Schröder und Blair durchgezogen. Wir müssen auch anmerken, dass die Regierung Zapatero in Spanien eine Reihe mutiger Maßnahmen zum Rückzug der Truppen aus dem Irak oder in Gesellschaftsfragen (Rechte von Frauen, Heirat von Schwulen usw.) ergriffen hat, aber im Grunde auch eine kapitalistisch-neoliberale Wirtschaftspolitik umsetzt. Die traditionelle Rechte wie die Linke handeln im Rahmen des Neoliberalismus, was dazu führt, die unsozialen und antidemokratischen Angriffe zu verschärfen. Wir müssen uns auf die Bewegungen des Widerstands gegen eine solche Politik stützen. Wir müssen auch eine „konkrete Analyse der konkreten Lage“ entwickeln. Wenn die Rechte an der Regierung und die Linke in der Opposition ist, können die Lohnabhängigen und BürgerInnen bei gewissen Wahlen die Linksparteien benützen, um diese Ablehnung auszudrücken. In diesen Phasen ändert das ihre Beziehung zu diesen Parteien kaum, denn wir befinden uns in einer neuen historischen Epoche, die durch die Entwicklung der Sozialdemokratie hin zum Sozialliberalismus und durch den Niedergang der Parteien stalinistischen Ursprungs gekennzeichnet ist. So hat sich die französische PS zu keiner Zeit an den Mobilisierungen des Kampfes gegen die neoliberale Rentenreform beteiligt, hat aber zehn Monate später, bei den Regional- und Europawahlen 2004 dennoch auf Wahlebene die Früchte dieser Kämpfe eingefahren. Die Stimmen für die parlamentarische Linke bedeuteten weder einen Zuwachs an Vertrauen in diese Parteien noch eine deutliche Kontrolle der Massenbewegung durch ihre Apparate. Sie zeugen in den weniger begüterten Schichten der Bevölkerung nur von Angst und Ablehnung der neoliberalen Reformen und von ihrem Willen, deren Ausmaß zu reduzieren, indem man diejenigen abstraft, die sie politisch umgesetzt haben. Wenn die neoliberale Rechte regiert, müssen wir Mobilisierungen mit dem Ziel organisieren, diese Regierungen auf der Straße und an den Wahlurnen davonzujagen. Wir müssen uns aktiv daran beteiligen, denn hier geht es um einen wichtigen Teil unseres Kampfes für eine Alternative zum Neoliberalismus. Die ganze Schwierigkeit besteht für die antikapitalistische Linke darin, als nützliches Werkzeug zu erscheinen, auch auf Wahlebene, um diesen Kampf auch wirklich bis zum Ende führen zu können. Diese Nützlichkeitsproblematik ist in Frankreich bei den letzten Wahlen aufgetaucht. Wenn nun die sozialdemokratische Linke an der Regierung ist und prokapitalistische Maßnahmen durchsetzt, dann lehnen breite Teile der einfachen Bevölkerung diese Politik ab und drücken dies in ihrem Wahlverhalten aus. In diesem Fall machen wir ohne Wenn und Aber eine Mobilisierungspolitik gegen diese Regierungen und versuchen couragiert, die Notwendigkeit einer wirklichen Alternative klar zu machen. Wir möchten daran erinnern, dass Rifondazione Comunista 1998 zu recht die Zustimmung zur Politik der italienischen Mitte-Links-Regierung verweigert hat, was dann zum Sturz der Regierung geführt hat. Wir müssen mit abrupten Veränderungen der politischen Lage rechnen und unsere taktischen Ziele darauf einrichten. Dies umso mehr, weil – je brutaler die durchgezogene Politik ist und obgleich sie einige Erfolge erzielen konnte und die Welt der Arbeit zurückgewichen ist, hat diese Brutalität zu einer Ablehnung des Neoliberalismus, zu Spannungen und einigen Elementen einer politischen Krise in den meisten traditionellen europäischen Parteien geführt. Es gibt eine Krise der Rechten – in Italien, in Frankreich mit dem Duell zwischen Chirac und Sarkozy, in Portugal mit dem Rücktritt der Regierung Santana und den vorgezogenen Neuwahlen – aber auch eine Krise der sozialliberalen Linken, in der einige Teile der Sozialdemokratie meinen, dass die Anpassung an den Neoliberalismus zu weit geht, besonders wenn es eine starke Ablehnungsfront in der Gesellschaft gibt. Dies erklärt die Differenzierungen in Deutschland mit dem Auftauchen der „Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ oder den Auftritt von Laurent Fabius in der PS gegen die Europäische Verfassung. Die Strömungen brechen nicht mit dem Rahmen der neoliberalen Politik, sie meinen jedoch, dass sie zu weit geht und dass die Spannungen und politischen Krisen die Legitimität der neoliberalen Projekte untergraben. Man mussdie Entwicklung dieser Strömungen und aller Differenzierungen aufmerksam verfolgen, um Unterstützung zu finden beim Aufbau des Widerstands gegen die Angriffe des Kapitals.
4. Unter diesem Gesichtspunkt illustrieren die Ergebnisse des Referendums über die EU-Verfassung in der französischen PS recht gut die Entwicklung der Sozialdemokratie und die Rückwirkungen auf den gesellschaftlichen Widerstand innerhalb dieser Parteien. Im gesamteuropäischen Rahmen verfügt die PS noch über einige Besonderheiten. Sie ist die einzige sozialdemokratische Partei, in der über 40 Prozent der Mitglieder Nein zur europäischen Verfassung sagen. Solches gibt es in keiner anderen sozialdemokratischen oder sozialistischen Partei. Die sozialistische „Linke“ in den anderen Parteien, so in Spanien und Portugal, ruft zumeist zur Abstimmung mit Ja auf. Diese 40 Prozent Nein-Stimmen bleiben eine Besonderheit und stellen einen Anker bei den kommenden Kampagnen, die möglichst einheitlich geführt werden müssen, für das Nein zur Verfassung dar. Doch die 60 Prozent Ja-Stimmen in der französischen PS bedeuten eine Wende in der Entwicklung dieser Partei. Wie das wichtigste Führungsmitglied (Hollande) betont hat, stellt dieses Ja die Integration der französischen Sozialdemokratie in die europäische Sozialdemokratie dar, somit auch einen erheblichen Bruch mit den Besonderheiten der Parti Socialiste von Epinay [1]. Von den Anhängern wird das Ja als wichtiger politischer Akt der Anerkennung dessen, was die Parteiführung den „Linksreformismus“ genannt hat, hingestellt. Dieser Linksreformismus ist weder links noch reformistisch, sondern stellt einen Bruch mit der Geschichte der PS seit ihrer Verankerung in der „Linksunion“ dar. Das Ja der PS in Frankreich bedeutet also die Vertiefung eines Prozesses der Anpassung dieser Partei an die gegenwärtige kapitalistische Wirtschaft und Politik. Diese drücken der traditionellen Linken, wenn sie die Regierung übernimmt, aufs Auge, frontale Angriffe auf den Lebensstandard und die Arbeitsbedingungen der arbeitenden Bevölkerung durchzuführen.
5. In diesem für die Arbeitenden sehr ungünstigen Rahmen lehnen die Lohnabhängigen, ja sogar die Bevölkerungsmehrheit den Neoliberalismus ab. Dies führt zu immer kürzeren Zyklen des Regierungswechsels; die Gewählten werden regelmäßig wieder abgewählt. So zeigt sich der Widerstand bei Wahlen und Nachwahlen, bei denen es Mehrheiten gegen die gerade Regierenden gibt; gegen die Rechte in Frankreich, Italien, Spanien und demnächst wahrscheinlich Portugal, gegen die sozialliberale Linke in England oder Deutschland. Die Lohnabhängigen, die soziale Niederlagen und blockierte Kampfesperspektiven verdauen müssen, versuchen den Stimmzettel zu nützen, um den Regierenden eins auszuwischen. Hinsichtlich der gesellschaftlichen Kämpfe ist die Lage von Land zu Land sehr unterschiedlich. In Italien gab es einen starken Generalstreik von einem Tag, an dem sich mehr als sechs Millionen Streikende beteiligt haben. In den Niederlanden erfolgten die größten Streiks der letzten Jahre gegen die Sozialreformen der Regierung. In Deutschland gab es eine Demonstrationswelle gegen die Agenda 2010 und Hartz IV von Kanzler Schröder, sowie Arbeitsniederlegungen gegen Entlassungen, die allerdings zu Misserfolgen führten. In Frankreich endeten die Streiks gegen die Rentenreform oder die Privatisierung des Elektrizitätsunternehmens EDF mit Niederlagen. Auf der Ebene der Kämpfe und sozialen Bewegungen hat jede nationale Konjunktur ihre Besonderheiten, die von den Höhen und Tiefen des Klassenkampfes, doch das gesellschaftliche und politische Kräfteverhältnis führt regelmäßig zu gesellschaftlichem Widerstand. Das Problem liegt nicht auf dieser Ebene. Die Schwierigkeiten liegen anderswo. Die Koordinaten der historischen Periode, die Bilanz des vergangenen Jahrhunderts, die Hindernisse, auf die jede Perspektive gesellschaftlicher Veränderung stößt, haben grundlegende Konsequenzen auf die kämpferischsten und fortgeschrittensten Teile der Gesellschaft: Die Kämpfe führen nicht zur Entwicklung eines Bewusstseins der Notwendigkeit der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft, und noch weniger zu einem revolutionären Bewusstsein. Die sozialen Bewegungen, Parteien und Gewerkschaften, auch klassenkämpferische Strömungen, wachsen nicht organisch. Der von revolutionären und antikapitalistischen Strömungen bei Wahlen besetzte Raum, wie der der LCR bei den Präsidentschaftswahlen 2002 oder der des Linksblocks bei den letzten Wahlen in Portugal, sind eher Ergebnis der Krise der traditionellen Linken (vor allem der Kommunistischen Parteien) als einer Selbsttätigkeit der Massenbewegungen.
6. Unter diesen Bedingungen entstand außerhalb des Würgegriffs der Probleme der traditionellen Arbeiterbewegung vor allem in der Jugend die globalisierungskritische Bewegung. Hier handelt es sich um einen Zusammenschluss von entscheidender Bedeutung für den Aufbau eines Kräfteverhältnisses gegen die Projekte des Neoliberalismus, aber auch zur Erneuerung der linken Generationen und der antikapitalistischen Gruppen. Diese Bewegung muss auf der Höhe der Angriffe des Kapitals, des Prozesses der kapitalistischen Globalisierung und der bewaffneten Globalisierung sein, wie sie sich im Krieg zeigt, der den Irak verwüstet. Daher hat sie eine große strategische Bedeutung für eine breite Einheitsfront gegen die Globalisierung, eine Front aller Strömungen, aller Erfahrungen, aller Vereinigungen, aber sie stellt auch einen Ort für Diskussion und Austausch über Fragen einer politischen und programmatischen Alternative dar.
7. In diesem Rahmen müssen die Elemente einer Alternative um drei Achsen herum entwickelt werden:
a) Die Politik der Aktionseinheit: Die gegenwärtige Phase, in der wir politisch eingreifen, ist für die ArbeiterInnenbewegung eine defensive Phase, eine Phase des Widerstands. Dies müssen wir positiv aufgreifen und uns an allen diesen Bewegungen und Kämpfen, auch den elementarsten, beteiligen, um den Arbeitenden und den jungen Leuten Selbstvertrauen zu geben und zu – ggf. partiellen – Siegen zu kommen. In diesem Rahmen müssen wir eine Politik einheitlicher Mobilisierungen und eine Politik des Aufbaus einheitlicher, demokratischer und pluralistischer Massenbewegungen verfolgen. Dies muss auch unsere Politik beim Aufbau der Antikriegsbewegung im Rahmen der globalisierungskritischen Bewegung sein. So fällt auch unsere Antwort auf die Frage der Europäischen Verfassung aus. Besonders in Ländern, in denen Volksabstimmungen stattfinden werden, starten wir eine Kampagne der Einheit aller linken Kräfte, die gegen die Verfassung sind, für ein Nein.
b) Elemente einer programmatischen Antwort: Die Neugründung eines programmatischen Projektes, das die soziale Frage im weitesten Sinn mit dem Feminismus und der Ökologie in antikapitalistischer Zielsetzung verbindet. Man muss in allen Staaten, in denen sie sich stellt, auch die nationale Frage berücksichtigen und sie mit der sozialen Frage verbinden. Die programmatischen Antworten müssen von den Forderungen der Massenbewegungen ausgehen und sie „bis zum Ende“ weitertreiben. Ein roter Faden muss unser Vorgehen leiten: Die Logik der sozialen Rechte, die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse muss vor der Profitlogik und der kapitalistischen Rentabilität rangieren! So wie dies in der Wahlkampagne der LCR gesagt wurde: „Unser Leben gilt mehr als ihre Profite!“ Es handelt sich um ein demokratisches und soziales Notprogramm, das die Frage einer anderen Aufteilung des Reichtums und des Eingriffs in das Privateigentum der Großunternehmen und des Kapitals stellt, entweder durch Verteidigung und Ausweitung der öffentlichen Dienste, oder durch Maßnahmen, die die Macht der Unternehmer beschneiden. Ein solches Programm kann (wie dies der Linksblock in Portugal macht) in fünf Punkten formuliert werden: Beschäftigungsplan gegen Arbeitslosigkeit und Prekarisierung; Kampf gegen die Umwandlung der Krankenhäuser in Aktiengesellschaften; Recht auf freie und kostenlose Abtreibung; Papiere für die illegal Eingewanderten, sowie Kampf gegen die Korruption. Wir wissen aber, dass jeder ernsthafte Plan gegen die Prekarisierung unter den gegebenen Bedingungen des liberalen Europa zu einem Zusammenstoß mit den Unternehmern und der Regierung führt, zu einem Bruch mit dem gegenwärtigen Gleichgewicht der kapitalistischen Wirtschaft.
c) Eine Position zur Macht- und Regierungsfrage. Die Frage nach einer Alternative zum Kapitalismus muss auch auf die Macht- und Regierungsfrage eine Antwort geben. Die Frage stellt sich in den Diskussionen im Innern der Linken. Sie wird uns auch auf direkte oder indirekte Art bei unseren Interventionen gestellt. Diese Frage spaltet die ArbeiterInnenbewegung seit langem. Sie spaltet auch die Linke links von den sozialistischen Parteien, besonders die antikapitalistischen Strömungen, die zur kommunistischen Bewegung gehören. Dies ist auch eine Meinungsverschiedenheit zwischen der Konferenz der antikapitalistischen Linken und der europäischen Linkspartei, die aus verschiedenen kommunistischen Parteien besteht, von denen die meisten an eine Regierungsbeteiligung mit der Sozialdemokratie glauben. In Frankreich würde eine neue Regierung der „pluralistischen Linken“ die Sozialistische Partei, aber auch die PCF und die Grünen umfassen. In Deutschland beteiligt sich die PDS (die aus der alten SED hervorgegangen ist) auf Länderebene an Koalitionen mit der SPD. In Spanien verfolgt die Leitung der Izquierda Unida (Vereinigte Linke) eine Politik der „linken Mehrheit“ und unterstützt die Regierung Zapatero. Linke Sektoren wie unsere GenossInnen von Espacio Alternativo lehnen diese Politik ab und verteidigen eine Politik der „Linksopposition“ zur Regierung. Vor kurzem hat die Führung von Rifondazione Comunista eine Wendung vollzogen, die das Ziel hat, an einer von Romano Prodi, dem früheren Präsidenten der Europäischen Kommission, geführten Mitte-Links-Regierung teilzunehmen! Unsere GenossInnen schlagen zwar ein Wahlabkommen gegen die Rechtsparteien vor, führen aber gleichzeitig den Kampf gegen eine Regierungsbeteiligung von Rifondazione an einer solchen Regierung, eine Regierung, die wie in der Vergangenheit die prokapitalistische und neoliberale Politik früherer Regierungen fortsetzen würde. Außerhalb Europas sind wir in Brasilien mit dem Problem der Regierungsbeteiligung konfrontiert. Aber die Bilanz der Regierung Lula nach zwei Jahren bestätigt ihre ersten Schritte. Sie hat die Politik des IWF und der Finanzmärkte akzeptiert und die Landreform nur auf Sparflamme entwickelt, sie hat eine Reduzierung der Pensionen der BeamtInnen nach neoliberalem Vorbild durchgezogen und vor allem die Arbeitslosigkeit und Armut nicht eingedämmt. Das Ergebnis war eine Politik der Demobilisierungen und der Desillusionierung der Anhängerschaft der PT. Es stellt sich die Frage des Austritts der Linken, vor allem unserer Genossen der Tendenz Sozialistische Demokratie, aus der Regierung. Man kann heute keine Alternative zur Regierung Lula aufbauen ... und in dieser Regierung sitzen. Für unsere Strömung muss die Regierungsfrage mit der allgemeinen Politik verbunden sein. Wir treten für Regierungen des antikapitalistischen Bruchs, der gesellschaftlichen Umgestaltung ein, die den Weg in Richtung Sozialismus ebnen. Denn tatsächlich kann man nicht die wichtigsten Forderungen der einfachen Bevölkerung erfüllen, ohne mit den Institutionen der kapitalistischen Wirtschaft zu brechen. Aus diesem Grund kann die antikapitalistische Linke nicht an Regierungen teilnehmen, die sich in diesem Rahmen bewegen. Das hat beispielsweise unsere GenossInnen in Portugal dazu geführt, jede Beteiligung oder Unterstützung einer PS-Regierung abzulehnen, im Gegensatz zur Kommunistischen Partei, die an und für sich sehr gegen die PS eingestellt ist. Unsere GenossInnen lehnen auch jedes allgemeine parlamentarische Abkommen mit der PS ab und werden von Fall zu Fall, von Maßnahme zu Maßnahme, von Gesetz zu Gesetz abstimmen; was für die Arbeitenden gut ist, werden sie annehmen und was schlecht ist, ablehnen.
8) Wir treten in eine neue Phase des Aufbaus antikapitalistischer Organisationen und revolutionärer Strömungen und Parteien ein. Die neuen Gegebenheiten der Epoche setzen die Suche nach neuen Wegen zum Aufbau einer breiten antikapitalistischen Partei auf die Tagesordnung. Dies setzt zuerst eine Debatte über die Inhalte voraus (das Programm, das Profil und die politischen Konturen, die eine Alternative zum Sozialliberalismus braucht, besonders über Fragen der Regierung). Wir müssen auch nach Zusammenführung und Konvergenz von politischen Kräften anderen Ursprungs und anderer politischer Kultur streben, damit die bestehenden Organisationen überwunden werden können. In jedem Fall des Auftauchens solcher neuer Kräfte ist der Dialog zwischen politischen Strömungen und Organisationen wesentlich. Der Inhalt und dynamische Organisationsformen sind umso entscheidender, als die antikapitalistischen Strömungen heute mit folgendem Widerspruch konfrontiert sind: Sie können einen bedeutsamen politischen Raum einnehmen (wie etwa der Linksblock in Portugal oder die schottische Sozialistische Partei SSP), ohne dass dies einem Niveau großer Selbsttätigkeit der Massenbewegungen entspräche. Ihre Entwicklung rührt vor allem aus der Krise der traditionellen Linken her, aus der sozialliberalen Entwicklung der Sozialdemokratie und dem Niedergang der KPen, die mit den Besonderheiten der jeweiligen nationalen Konjunktur verbunden sind. Plötzlich sehen sich unsere antikapitalistischen oder revolutionären Organisationen Spannungen und Widersprüchen zwischen ihrer bedeutsamen Eingliederung ins politische Geschehen, ins Medienleben, in die institutionelle und politisch-organisatorischer Realität gegenüber, die weit über ihren direkten Einfluss hinausreichen. Daher müssen wir große Anforderungen an uns selbst stellen, um unsere Organisationen aufzubauen, indem wir gleichzeitig ihre Unabhängigkeit wahren und ihre Fähigkeit steigern, die politische und gesellschaftliche Selbstaktivität der unteren Schichten der Bevölkerung voranzubringen.
François Sabado ist Mitglied des Politischen Büros der Ligue communiste révolutionnaire (französische Sektion der IV. Internationale) und des Exekutivbüros der IV. Internationale. Vor kurzem vertrat er die LCR und die Leitung der IV. Internationale auf dem Kongress von Espacio Alternativo (in der die mit der IV. Internationale verbundenen GenossInnen im spanischen Staat organisiert sind) und dem Kongress der Revolutionär-sozialistischen Partei PSR, portugiesische Sektion der IV. Internationale, eine Komponente des Linksblocks), die beide im Dezember 2004 stattfanden. |
Übersetzung: Paul Kleiser |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 400/401 (März/April 2005).