Politisches Büro der LCR
Das Nein hat gewonnen. Das ist ein großartiger Sieg für all diejenigen, die seit vielen Jahren unter den Untaten liberaler Politik zu leiden haben, die seit über 20 Jahren konstant betrieben wird. Es ist ein Sieg für die Lohnabhängigen über einen Verfassungsentwurf, dessen Ziel darin bestand, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts erkämpften Errungenschaften samt und sonders zunichte zu machen. Ein Sieg für die Bevölkerungen, die einer zunehmenden Vermarktung unterworfen werden, durch die die öffentlichen Dienste und die Solidarität zerstört werden. Nach einer bestürzenden Kampagne, für die sämtliche Medien und die Eliten im Dienste des Ja mobilisiert wurden, in der Präsident, Regierung, Unternehmer, institutionelle Parteien eine Angstkampagne organisiert haben, bei der sie vor keiner Form des Drucks und der Erpressung zurückscheuten, hat sich das Nein trotzdem durchgesetzt.
Welch eine Niederlage für diejenigen, die alles eingesetzt haben: Ängste, Beschimpfungen, In-einen-Topf-Schmeißen mit der extremen Rechten, um zu vertuschen, um was es wirklich geht, die dermaßen viele Mittel ins Feld geführt haben, gegen die lachhaft geringen, aber aktiv gestalteten Mittel der VerfechterInnen des "Nein".
Das ist eine Niederlage für diejenigen, die von einer liberalen Gesellschaft ohne Beschränkungen träumen, in der die Widerstände der Lohnabhängigen und der Bevölkerung dieses Landes zerstört würden. Aber sie haben sich im Laufe dieser Kampagne nie zu ihrem Projekt bekannt. Zum Projekt einer Gesellschaft, die auf Profit, Wettbewerb, Konkurrenz und Ungleichheiten als Antriebskräften beruht – anstelle von Gleichheit, Kooperation und Solidarität. Nun ist dies natürlich kein Sieg, der auf einmal alles ändern würde, angesichts der kapitalistischen Dampfwalze; das Europa, wie es ist, wird weitermachen mit Richtlinien, die die sozialen Rechte ins Visier nehmen; die Regierungen werden ihre liberalen Offensiven fortsetzen. Aber vor einem anderen Hintergrund.
Nämlich einem sozialen und demokratischen "Nein", das sich auf Europa, auf die Völker und die abhängig Beschäftigten bezieht und das die Gesellschaft des Profits ablehnt und sich eine andere vorstellen kann. Dieses soziale und demokratische "Nein" richtet sich an ganz Europa, an die Bevölkerungen in Ost und West, die mit voller Wucht von dem Kahlschlag ihrer sozialen Rechte getroffen werden. Das ist eine wunderbare Ermutigung für die zahlreichen Kräfte, die ebenfalls der Ansicht sind, dass ein anderes Europa möglich ist, unter der Bedingung, dass wir uns das liberale und kapitalistische Europa vom Halse schaffen. Jetzt ist es an uns, die wir diese Verfassung abgelehnt haben, europäische Initiativen vorzuschlagen, mit denen ein anderes Europa umrissen wird. Ein Europa, das die sozialen und die demokratischen Rechte nach oben hin angleicht. Ein Europa, das sozialen Konvergenzkriterien, der Einführung eines europäischen gesetzlichen Mindestlohns, einer gemeinsamen Besteuerung des Kapitals, der Schaffung von europaweiten öffentlichen Diensten wirkliche Priorität verleiht. Ein Europa, das allen Frauen das Recht auf Abtreibung und allen hier lebenden AusländerInnen gleiche Rechte gibt. Schließlich ein Europa des Friedens, der Zusammenarbeit, der Solidarität mit dem Süden des Planeten, das der NATO und der in dem Vertrag vorgesehenen Militarisierung den Rücken kehren würde.
Chirac und Raffarin, die genau diese liberale Politik betreiben, die in dem Vertragswerk in Marmor gemeißelt ist, sind soeben einmal mehr schwer abgestraft worden. Diejenigen, die uns Chaos und Krise prophezeit haben, haben für ihre Politik keine Legitimität, weniger denn je. Sie müssen abtreten. Das Parlament, das mit nahezu 90 % diese Verfassung ratifiziert hätte, repräsentiert nicht das wirkliche Land. Diese Nationalversammlung muss aufgelöst werden, es muss Neuwahlen geben. Soll es Chirac überlassen bleiben, einen zukünftigen Plan B auszuhandeln, mit dem dem Lager des sozialen Nein der Sieg gestohlen würde? Lassen wir diese Regierung noch zwei Jahre mit dieser antisozialen Politik weitermachen? Die Abstimmung zeigt, dass es eine große Krise der politischen Vertretung gibt: Hätte diese Abstimmung im Parlament stattgefunden, hätten fast 90 % der Abgeordneten und der Senatorinnen und Senatoren den Vertrag ratifiziert. Die nächste Nationalversammlung muss nach dem Verhältniswahlrecht gewählt werden. Die Unternehmer, die mit voller Kraft für ein Projekt mobilisiert waren, das hauptsächlich ihr Ding ist, haben einen Rückschlag hinnehmen müssen. Es liegt an uns, diese Schwächung der Rechten und der Unternehmer zunutze zu machen, ohne [den regulären Termin der nächsten Wahlen im Jahr] 2007 abzuwarten, um zum sozialen Gegenschlag auszuholen. Um eine Umverteilung des Reichtums und der Arbeit, die öffentlichen Dienste zu retten und auszuweiten, die Sozialversicherung zu verteidigen und umfassender zu gestalten. So gesehen zeigen die Kämpfe, die vor kurzem von den Beschäftigten von IBM und von Total geführt worden sind, den richtigen Weg. Nämlich den Weg hin zu einer Verallgemeinerung der Kämpfe. Auf der Linken haben die Führungen der Sozialistischen Partei und der Grünen durch eine Allianz mit der Rechten die Verfassung durchbringen wollen. Auch sie sind schwer abgestraft worden, wie insgesamt alle Kräfte, die sich zu der Bilanz ihrer Regierungsbeteiligung und ihrer liberalen Politik bekennen. Es gibt ganz offensichtlich in diesem Land zwei verschiedene Linke. Eine liberale Linke, die die Zwänge eines immer brutaleren und immer zügelloseren Kapitalismus akzeptiert und die liberalen Gegenreformen begleitet. Es ist die Linke, die das Desaster des 21. April 2002 hervorgerufen hat, die nicht gegen die Projekte der Rechten ankämpft, die das gleiche Wirtschafts- und Sozialprogramm vertritt wie die Rechte.
Das soziale und demokratische "Nein" ist das entscheidende Ereignis dieser Kampagne gewesen. Es hat die richtigen Fragen gestellt, eine verlogene Kampagne bekämpft und für die wirkliche Debatte gesorgt, die im Lande geführt wird: für oder gegen den Liberalismus, zustimmen oder ablehnen – in Anbetracht der Brutalität der Unternehmeroffensive. Tausende Debatten und Hunderte von Veranstaltungen haben stattgefunden, tausend Komitees sind entstanden und haben es geschafft, die ganze Maschinerie zu stören, dank der die liberale und antidemokratische Gaunerei dieser Verfassung unaufgeregt ratifiziert werden sollte. Das Nein, das all diejenigen zusammengebracht hat, die seit vielen Jahren kämpfen und Widerstand leisten, enthält die Hoffnung auf eine andere Welt, auf ein anderes Europa, auf eine andere Politik. Dieses Nein stellt die Zukunft dar. Es wird von den Kämpfen der Jungen und der abhängig Beschäftigten getragen, es kommt aus den Kämpfen der globalisierungskritischen Bewegungen, es hat das Zusammengehen von Mitgliedern der LCR, der PCF, der ökologischen Bewegung und SozialistInnen für ein antiliberales Nein sowie das Zusammenkommen von politisch Aktiven mit GewerkschafterInnen und Aktiven in Verbänden und Bewegungen möglich gemacht. Dieses kraftvolle Zusammengehen, diese Erhebung des Frankreichs von unten ist das große Ereignis dieser Kampagne. Das Engagement von zahlreichen Gewerkschaftsaktiven, von Gewerkschaftsgruppen, von Attac ist für den Erfolg der Kampagne ausschlaggebend gewesen. Und dies hat es möglich gemacht, dass nun zahlreiche Hindernisse für das Zusammenkommen der Kräfte beseitigt sind. Es muss fortgesetzt werden. Deswegen schlagen wir eine nationale Zusammenkunft der 1000 Komitees für das Nein vor, auf der gemeinsam über das Wie weiter entschieden wird. Gegen die Rechte und die Unternehmer aktiv bleiben; eine Alternative zum liberalen Kapitalismus in Europa wie in Frankreich vorlegen, eine Alternative, die denen wieder Hoffnung gibt, die immer zahlreicher werden und sich nicht mit den ehernen Gesetzen dieser kapitalistischen Gesellschaft abfinden. Wir schlagen vor, dass die politischen Kräfte, die sich in dem antiliberalen Rahmen des so genannten „Aufrufs der 200“ zusammengefunden haben, sich bald treffen sollten, um Perspektiven dieser Art zu befördern und weiterzuentwickeln.
Auf europäischer Ebene sollte ein Europäisches Sozialforum es recht kurzfristig möglich machen, die Umrisse eines anderen, eines sozialen, solidarischen und demokratischen Europas zu bestimmen. Es sollte diskutiert werden, wie ein demokratischer Verfassung gebender Prozess in Gang gesetzt werden kann.
Veröffentlicht in Rouge, [Wochenzeitung der Ligue communiste révolutionnaire, französische Sektion der IV. Internationale] vom 2. Juni 2005 |
Aus dem Französischen übersetzt von Friedrich Dorn. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 404/405 (Juli/August 2005).