IV. Internationale

Brasilien-Resolution

1. Die Entwicklung der Situation in Brasilien bestätigt die in der Resolution des Internationalen Komitees von Februar 2005 gegebene Charakterisierung der Politik der Lula-Regierung als Koalitionsregierung mit VertreterInnen des Kapitals, die von der parlamentarischen Rechten abhängt und eine liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik verfolgt und somit unfähig ist, auf die wesentlichen Probleme der Armut und Ausgrenzung zu antworten und sich den imperialistischen Plänen entgegenzustellen. Alle Maßnahmen und Beschlüsse der Lula-Regierung seit einem Jahr weisen in dieselbe Richtung: die Diktate der Finanzmärkte zu akzeptieren, die Politik des Budgetüberschusses zu konsolidieren, um die Schulden zurückzuzahlen, keine wirkliche Agrarreform in Angriff zu nehmen, was von der Landlosenbewegung MST scharf kritisiert wird, die Arbeitslosigkeit nicht wirklich zu verringern, die Löhne nicht zu erhöhen und die Ungleichheit nicht zu bekämpfen. Diese Regierung ist ohne Zweifel eine neoliberale Regierung.

2. Zu dieser den Interessen der breiten Bevölkerung widersprechenden Politik kamen im vergangenen Jahr Enthüllungen über die politischen Methoden und die Korruption, die sich in nichts von jenen der traditionellen bürgerlichen Regierungen unterscheiden. Dutzende ParlamentarierInnen wurden von Mitgliedern der Leitungsorgane der PT und der Regierung gekauft. José Dirceu, die Nummer zwei der Regierungsclique, musste zurücktreten. Die PT und das politische Leben Brasiliens wurden durch ein wahres Erdbeben erschüttert.

3. Die sozioökonomische, politische und ethische Entwicklung der Regierung bestätigt auch die politischen Schlussfolgerungen, die wir aus unserer Charakterisierung der Regierung und ihrer Politik gezogen hatten: RevolutionärInnen können sich nicht an einer neoliberalen Regierung beteiligen; RevolutionärInnen können sich nicht an der Regierung Lula beteiligen, die ihre ganze Politik auf die Einhaltung der Kriterien der Finanzmärkte und der neoliberalen Gegenreformen ausrichtet. Trotz der Kritik an der Korruption und dem Funktionieren der Partei hat sich die Mehrheit der PT-Linken einschließlich der GenossInnen der DS-PT bei den letzten Leitungswahlen nicht für eine Politik des Bruchs mit der Regierung eingesetzt. Die Anhäufung von neoliberalen Maßnahmen seit drei Jahren, kombiniert mit der Korruption, schuf sogar neue Bedingungen für einen Bruch mit der Regierung. Die Mehrheit der GenossInnen hat diese Option ausgeschlagen.

4. Die Kandidatur Lulas bei den Wahlen 2006 bedeutet eine Bestätigung seiner neoliberalen Politik. Angesichts dieser Kandidatur ist positiv zu bewerten, dass RevolutionärInnen eine einheitliche, antikapitalistische Alternative gegen die Rechte und die herrschenden Klassen vorschlagen. Die PSOL hat beschlossen, mit Heloísa Helena als Präsidentschaftskandidatin anzutreten, um bei dieser Gelegenheit ein Programm zur Verteidigung der Interessen und Forderungen der einfachen Bevölkerung zu propagieren und mit Neoliberalismus und Kapitalismus zu brechen. Sie wird alle Angriffe der Rechten, die Forderungen der Finanzmärkte und alle Folgen der neoliberalen Gegenreformen anprangern. Ebenso wird sie gegen die Bilanz der Politik der Lula-Regierung Stellung beziehen. In Solidarität mit dem Kampf der lateinamerikanischen Völker und insbesondere mit der bolivarianischen Revolution in Venezuela wird die Kandidatur von Heloísa antiimperialistischen Charakter haben. Die Kandidatur kann Millionen von BrasilianerInnen die Möglichkeit bieten, ihren Widerstandswillen gegen die Angriffe des neoliberalen Kapitalismus zum Ausdruck zu bringen und die Dinge zu ändern. Diese Kandidatur kann über einzelne Strömungen und Organisationen hinaus eine radikale, eine antikapitalistische Linke zusammenführen und das ursprüngliche Grundsatzprogramm der PT sowie deren Werte, die von der Führung unter Lula seither aufgegeben wurden, wieder aufgreifen.

5. Im Übrigen ist die brasilianische Linke weiterhin stark gespalten: Ein wichtiger Teil dieser Linken verbleibt in der PT. Andere Organisationen wie die KP Brasiliens und andere stärker bewegungsorientierte Teile, aber auch die PSTU werden ihre eigenen Positionen vertreten. Die Kräfte der IV. Internationale sind leider nach wie vor gespalten. Die DS-PT engagiert sich weiterhin innerhalb der PT, hat ihre Regierungsbeteiligung bekräftigt und ist stärker in der Parteileitung eingebunden: Einer der DS-Verantwortlichen bekleidet den Posten des Generalsekretärs der PT. Ein anderer Teil engagiert sich im Aufbau der PSOL und bildet den Zusammenschluss „Kollektiv DS – IV. Internationale“, der sich an der Bildung einer neuen Strömung in der PSOL beteiligt, die sich provisorisch „Enlace“ (Verbindung) nennt. Um die Fortsetzung der Diskussion und Möglichkeiten eines Zusammengehens aller antikapitalistischen Teile zu fördern, bekräftigt das Internationale Komitee die Aufrechterhaltung der Beziehungen zu allen Teilen der IV. Internationale in Brasilien, die alle vollberechtigte Mitglieder der Internationale bleiben.

6. Das Internationale Komitee schlägt die Eröffnung einer Diskussion über die brasilianische Situation vor. Ziel dieser Diskussion ist insbesondere, eine erste Bilanz der Entwicklung der PT in den letzten 20 Jahren, der Politik der brasilianischen Sektion und der Diskussionen und Beschlüsse der Internationale zu ziehen. Das Internationale Komitee schlägt die Wiedereröffnung eines internen Sonderbulletins über diese Frage vor. Es empfiehlt den brasilianischen GenossInnen, eine Einleitung zu dieser Diskussion vorzulegen. Die Texte dürfen höchstens 20 000 Zeichen umfassen.

7. Das Internationale Komitee stellt fest, dass die GenossInnen der DS-PT nicht an der Sitzung von Februar 2006 teilgenommen haben. Im Wunsch, die Diskussion mit den GenossInnen fortzusetzen, beauftragt es das Büro, möglichst bald ein Treffen mit diesen zu organisieren.

Internationales Komitee der IV. Internationale, 14. Februar 2006



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006).