Slobodan Milošević wurde in der vorherrschenden Meinung– insbesondere durch die Chefanklägerin Carla del Ponte, die vor dem Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien in Den Haag die Anklage vertrat – als „Schlächter des Balkan“ hingestellt, als wichtigster Verantwortungsträger für die Konflikte, Kriege und ethnischen Säuberungen, die die Zerstörung Jugoslawiens begleitet haben: Milošević soll eine Politik eines „ethnisch reinen Großserbiens“ vertreten haben, die im Zentrum der Gewalttätigkeiten der neunziger Jahre gelegen und Ursache von praktizierten Genoziden gewesen sein soll.
Miloševićs Verteidiger lehnten diese Thesen als Beschimpfungen ab und stellten ihn als Widerständler gegen eine imperialistische Weltordnung und gegen die Zerstörung Jugoslawiens hin, die von den anderen nationalistischen und antikommunistischen Strömungen gewollt gewesen sei; diese hätten sich bewaffnet und seien von den Großmächten, die das sozialistische Jugoslawien hätten zerstören wollen, für ihre Zwecke eingespannt worden. Die lügnerischen Kampagnen der Verteufelung des „serbischen Kommunismus“ hätten der geplanten bewaffneten Intervention der NATO gegen Jugoslawien (Serbien-Montenegro) und der Anklage von Milošević vor dem Strafgerichtshof, der nur das juristische Instrument dieser besonders von den USA durchgeführten Kampagnen sei, den Boden bereitet.
In beiden Ansätzen sind Elemente der Wahrheit vorhanden, ohne die sie keine Wirkung hätten entfalten können. Doch auf globaler Ebene sind beide falsch in dem Sinne, dass sie beide entscheidende Elemente der Politik des Belgrader Führers – und der Großmächte verhüllen. Wenn man diese Elemente nicht in die Überlegungen mit einbezieht, versteht man das Fiasko des Milošević-Prozesses nicht. Das Fiasko der These, die die Chefanklägerin beweisen wollte, dass nämlich Milošević eine Politik eines Großserbiens betrieben habe, die die im Verlauf des Jahrzehnts im Kosovo und in Bosnien durchgeführten ethnischen Säuberungen propagiert habe. Doch es war auch ein Fiasko für Miloševićs Verteidiger, die völlig unfähig waren, aus seinem Prozess eine Tribüne des Widerstands gegen den Kapitalismus, gegen den Imperialismus und in einem realen internationalistischen Sinn für „Jugoslawien“ zu machen – denn dieses war überhaupt nicht die Orientierung von Milošević.
Um seine Rolle in den großen Konflikten der jugoslawischen Krise (Kosovo, serbisch-kroatischer Konflikt und vor allem im Krieg der „ethnischen Säuberung“ in Bosnien) verstehen zu können, muss man die Analyse um Elemente ergänzen, die in den beiden Thesen völlig ausgespart werden.
Seit Ende der achtziger Jahre befand sich das Milošević-Regime in vollem sozio-ökonomischen Wandel; die in Serbien unter dem Milošević-Regime beschlossenen Gesetze zur Änderung des Eigentums unterscheiden sich qualitativ nicht von denen, die in den neunziger Jahren (bei einigem Widerstand gegen die ultraliberalen Rezepte) im benachbarten Slowenien umgesetzt wurden, das heute Mitglied der EU ist. [1] Es waren der Krieg und die Sanktionen, und eben nicht gesellschaftliche Entscheidungen gegen Privatisierungen, die den Prozess der Privatisierungen verlangsamt haben. Das Etikett „sozialistisch“ bedeutete in Serbien genauso wenig wie in Polen, Ungarn oder Albanien, sich gegen die Logik der Privatisierungen zu wenden.
Aus diesem Grund war Milošević weder ein „serbischer Kommunist“, der die Selbstverwaltung verteidigte, noch ein unbeugsamer Gegner der neuen Weltordnung.
Aber welchen Staat versuchte er auf den Ruinen des Systems und der titoistischen Föderation aufzubauen, und auf welchem Gebiet?
Belgrad war die Hauptstadt von Jugoslawien, die Armee, auf die es zählen wollte, hatte eine von Tito geerbte jugoslawische Tradition; sie war auch mittels ihrer Privilegien an den Erhalt des jugoslawischen Staates gebunden; Serbien war selbst eine multiethnische Republik, die den Kosovo mit seiner albanischen Mehrheit, die Vojvodina mit einer starken ungarischen Minderheit und den Sandschak mit einer starken bosnischen Bevölkerung (slawische Muslime) umfasste. Im Gegensatz zum kroatischen Nationalismus, der seinen Staat auf der Grundlage eines exklusiven Kroatentums zu konsolidieren trachtete, hatte Milošević ein Interesse daran, auf zwei Brettern zu spielen: dem des Jugoslawentums und dem des serbischen Nationalismus; sein „jugoslawisches“ Projekt basierte auf einer serbischen Mehrheit und Herrschaft und verband so beide Ansätze.
Diese doppelte „Linie“ eines reaktionären Bruchs (mit dem Selbstverwaltungssozialismus und mit der von Tito verkündeten Gleichheit aller Nationen) stellte jedoch keine Politik eines „ethnisch reinen“ Großserbien dar: Milošević hat eine solche Orientierung – im Gegensatz zu seinen großserbisch-nationalistischen Gegnern und zeitweiligen Verbündeten – niemals verkündet, weder im Kosovo noch sonst wo: Deswegen kam die Chefanklägerin Carla del Ponte in solche Schwierigkeiten.
Milošević betrieb eine Rezentralisierung des Staates der Föderation gemäß die Serben begünstigenden Mehrheitsentscheidungen gegen die Logiken der Konföderation und gegen die Praxis der Abstimmungen im Konsens (bei denen die Vertreter jeder nationalen Gemeinschaft dasselbe Gewicht hatten), wie sie seit Mitte der sechziger Jahre angewandt wurden. Miloševićs Wende von 1989 war keine (unmögliche) „ethnische Säuberung“ des Kosovo (die Albaner stellten dort 80% der Bevölkerung, es ging nicht darum, sie zu vertreiben oder zu töten). Sondern es handelte sich um den Aufbau einer „großserbischen“ Herrschaft über das albanische Volk, die zu einer Art Separation (Apartheid) der Bevölkerungen geführt hätte, eine Rücknahme des Statuts und von Rechten der albanischen Bevölkerung, die ihren Anspruch auf Unabhängigkeit begraben sollte. Die Abschaffung des Kosovo-Statuts, einer quasi-Republik, bedeutete die Unterordnung als einfache Provinz unter Belgrad (vor allem im Schulunterricht) und die Einforderung eines Treueids im Öffentlichen Dienst sowie die Entlassung aller (zahlreichen) Widerspenstigen. Ein Ziel war es, die zahlreichen Abwanderungen von Serben aus der Provinz zu stoppen, indem man den Verkauf von Land an Albaner untersagte, indem man Kolonien für eine Wiederansiedlung schuf, indem man ihnen Beschäftigung auf der Grundlage der Entlassung von Albanern verschaffte und indem man durch diese Taten versuchte, einen Teil der als „infiltriert“ beschriebenen Bevölkerung „nach Hause“, also nach Albanien zu schicken. Schließlich wurden Übergriffe und Brutalitäten der Polizei gegen angebliche separatistische Aktivisten vorgenommen. Der (zunächst friedliche, dann bewaffnete) Wiederstand der Albaner im Kosovo führte zu einem Kampf um Unabhängigkeit und nationale Befreiung gegen die Politik eines „großserbischen“ Staates im Sinne der Herrschaft Belgrads – den die Großmächte und vor allem das jakobinische Frankreich natürlich schlecht unterstützen konnten.
Restjugoslawien (nach dem Ausscheiden der Republiken blieben nur Serbien und Montenegro übrig) gab jeden Bezug auf den Sozialismus auf (Verfassung von 1991), ohne dass die Bevölkerung darüber befragt worden wäre.
Miloševićs „jugo-serbische“ Orientierung erklärt gleichzeitig seine partiellen Konflikte (zu viel „Jugoslawentum“) und seine Annäherungen (mit Unterstützung serbischer Bevölkerungsteile) an serbisch-nationalistische Strömungen, die mit ihren Milizen die wahren Propagandisten einer Politik eines Großserbien waren.
Da diese Strömungen selbst heterogen waren, differenzierten sie sich einerseits je nach Annahme oder Ablehnung eines Bündnisses mit der „sozialistischen“ Partei, sodann gleich dem Milošević-Regime je nach ihrer Einschätzung der Gewalttaten, und schließlich je nach den Entscheidungen der Großmächte.
Wo liegt nun das „schwarze Loch“ der dominierenden Thesen? Von 1992 bis 1999 zog es Milošević vor, die Karte einer Distanzierung von der Gewaltpolitik zu spielen – nicht ohne hinter den Kulissen, also hinter der parlamentarischen Fassade des Regimes, eine paramilitärisch aufgerüstete Polizei einzusetzen, die aus Söldnern bestand. Er zog es vor, die früheren serbisch-nationalistischen Verbündeten in Kroatien und Bosnien zu verraten (was ihm seine Gegner auch vorwerfen sollten) und die internationalen Friedenspläne zu unterstützen, die ein Bündnis mit Franjo Tudjman vorsahen, um dadurch eine Aufhebung der Sanktionen und internationale Anerkennung einzuheimsen. Dies gelang ihm teilweise.
Hinter dem sozialistischen Etikett lassen sich teilweise und vorläufig zwei Varianten des „Übergangs“ nach Tito unterscheiden. Gleich große Unterschiede, wie man sie bei den verschiedenen jugoslawischen Republiken erkennen konnte, ergaben sich auch bei Republiken wie Rumänien, Ungarn oder Polen. Und man kann sehen, was das sozialistische Etikett in einem Polen wert war, in dem die „Ex-Kommunisten“ zum Anknüpfungspunkt der USA im neuen Europa und beim Irak-Krieg geworden sind.
Die Tatsache, dass die Partei von Milošević das „sozialistische“ Etikett beibehielt, war eine katastrophale Falle für die jugoslawische Linke; es sollte bei all denjenigen, die diesem Begriff einen vernünftigen Sinn unterlegen wollen, nicht für bare Münze genommen werden.
Wir möchten hier zusammenfassen, worin in der Praxis die Ähnlichkeiten zwischen dem Milošević und dem Tudjman-Regime trotz ihrer Differenzen und partiellen Konflikte lagen:
Es gab denselben Willen, ein „gesellschaftliches Eigentum“, das gemäß der Verfassung von 1974 „gesellschaftlich“ und nicht territorial gebunden war, durch den Territorialstaat anzueignen; außerdem dieselbe Vetternwirtschaft bei den Privatisierungen;
die von Belgrad und Zagreb zu Beginn der neunziger Jahre in unterschiedlichen Formen, aber mit derselben Logik eines aggressiven Abbaus nationaler Rechte, die in der Zeit von Tito von den in beiden Republiken lebenden Minderheiten erlangt worden waren, vorgenommenen Verfassungsänderungen: der Kosovo verlor dabei seinen einer Republik ähnlichen Status und die AlbanerInnen mussten akzeptieren, gemäß der „universalistischen“ Praxis Frankreichs „serbische“ BürgerInnen zu werden; parallel dazu verlor Kroatien seinen multinationalen Charakter und wurde zum Staat des kroatischen Volkes, die Serben verloren ihren Status als „Volk“;
Bosnien-Herzegowina erfuhr dieselbe ideologische und politische Behandlung, die Rechte und Volksgruppen, die sich dort konsolidiert hatten, wurden als „künstliche Schöpfungen“ von Tito angetan;
beide versuchten, ihre eigenen Konflikte auf der Grundlage einer ethnischen Teilung von Bosnien-Herzegowina zu regeln;
auf der Ebene des politischen Regimes kombinierten beide Regierungen die hinter den Kulissen ablaufenden Aktionen paramilitärischer Kräfte mit parlamentarischem Pluralismus (der im Übrigen ausreichend pluralistisch war, so dass in einigen Regionen oder Städten der eine oder andere in die Minderheit geriet. Ab 1996 wurde Miloševićs Partei in Belgrad und mehreren Großstädten abgewählt.);
keiner von beiden hat sich explizit zur Kriegslogik bekannt; beide haben sie jeweils Kompromisse gesucht, die sie zu Gesprächspartnern der Großmächte gemacht haben, weil sie als „gemäßigter“ galten als die jeweilige extreme Rechte.
Aus diesen Gründen ergab sich eine Art Ping-Pong zwischen den beiden Regimen in Belgrad und Zagreb.
Die Politik von Franjo Tudjman wurde aber umso mehr gedeckt und weiß gewaschen, je mehr sie in Belgrad angeprangert wurde. Und umgekehrt machte die reaktionäre Realität des Tudjman-Regimes die Verteidiger des Milošević-Regimes blind (oder führte sie zu einem komplizenhaften Schweigen) angesichts der schmutzigen Untaten der Milizen des Regimes und des Söldners Arkan und/oder der Milizen der serbisch-nationalistischen Verbündeten der Sozialistischen Partei zu Beginn der neunziger Jahre im Kosovo, in Kroatien und in Bosnien.
Der antiserbische und antisemitische Diskurs von Tudjman, die Rückkehr von Symbolen und Milizen der Ustascha, die in die offizielle kroatische Armee übernommen wurden, die Verteufelung des „serbischen Kommunismus“, um die kroatischen Pseudo-Demokraten besser hinstellen zu können und die Rehabilitierung der Vergangenheit und von faschistischen Führern – all dies wurde in Belgrad angeprangert und daher in den eigenen vorherrschenden Medien verborgen oder heruntergespielt: Der kroatische Nationalismus, so sagte man, sei ausschließlich „defensiv“!
Aber die Zielsetzung „Großkroatien“ hatte für diejenigen, die hinschauten [2], eine sichtbare institutionelle, ideologische und militärische Kraft, und zwar in doppelter Weise:
Auf der Ebene der Innenpolitik ging es darum, ein selektives „Kroatentum“ als Grundlage für eine neue Verfassung zu kreieren und den Status der Serben so zu verändern, dass sie zu einer „Minderheit“ wurden;
die großkroatische Logik wurde auf externer Ebene nach Bosnien-Herzegowina verlängert. Zunächst tat man dies heuchlerisch: Einerseits, indem den Kroaten Bosnien-Herzegowinas das kroatische Wahlrecht verleihen wurde, was als Vorstufe ihrer Eingliederung in einen einzigen Staat gedacht war; sodann ab 1991, als die Souveränität Bosnien-Herzegowinas anerkannt worden war, indem man eine praktische Politik der territorialen Expansion betrieb. Diese wurde in verschiedenen Varianten versucht: Die eine wurde von den Ustascha-Truppen vertreten und hatte das Ziel, ganz Bosnien Kroatien einzuverleiben – wobei sie in der Öffentlichkeit die Integrität Bosnien-Herzegowinas „respektierte“. Die andere, etwas „gemäßigtere“, wurde von Tudjmans Partei HDZ vertreten und arbeitete an der territorialen Umsiedlung der Kroaten Bosnien-Herzegowinas in Herceg-Bosna mit der „Hauptstadt“ Mostar, das an Kroatien angeschlossen werden sollte; man behauptete, für das „Selbstbestimmungsrecht“ des kroatischen Volkes einzutreten, in Symmetrie zu den separatistischen Forderungen der bosnischen Serben.
Der kroatische und der serbische Nationalismus in Bosnien-Herzegowina, die jeweils durch Belgrad bzw. Zagreb unterstützt wurden, vertrat dieselbe Logik einer gewaltsamen und erzwungenen Bevölkerungsverschiebung, die bis heute das Land Bosnien-Herzegowina schwächt. Um dieses durchzusetzen, musste man das „Leopardenfell“ Bosnien-Herzegowina zerstören, in dem kaum eine Gemeinde ethnisch „rein“ war: Das „Recht der ‚Völker’ (im ethnisch-nationalen Sinn) auf Selbstbestimmung“ (Abtrennung) konnte in der Praxis nur durch ethnische Säuberung der Territorien durchgesetzt werden, mit dem Ziel, Staaten zu schaffen, die „sich halten können“ und die sich den Nachbarstaaten anschließen, indem sie jene Teile der örtlichen Bevölkerung, die dieser Aufteilung feindlich gesonnen sind, auf unwiderrufliche Weise in die Flucht treiben.
Um diese Logik zu legitimieren, haben Belgrad und Zagreb (wie ihre Verbündeten vor Ort) eine verlogene Gleichsetzung aufgemacht: „Muslim“ im ethnisch-nationalen Sinn = religiöser Muslim = Islamist = möglicher Terrorist. Sie benutzten die von Alija Izetbegović 1970 abgefasste islamische Erklärung, die zu Anfang der 1990er Jahre neu aufgelegt worden war, sowie alle Widersprüchlichkeiten der Politik von Izetbegović für ihre Propaganda – was nicht gerade half, das Vertrauen in den gemeinsamen Staat zu stärken. Alija Izetbegović schwankte zwischen einem islamischen Projekt (und war in den „Friedens“gesprächen bisweilen bereit, auch einen muslimischen Duodezstaat zu akzeptieren) und dem bosnischen muslimischen Nationalismus, der zunächst die Grenzen von Bosnien-Herzegowina sichern wollte; und er kam innerhalb der bosnischen Muslime in Konflikt mit jenen Tendenzen, die den Widerstand mit Laizismus und der Bevölkerungsvermischung Bosniens verbanden. [3]
In der Propaganda von Belgrad und Zagreb gab es auch Dimensionen sich selbst erfüllender Prophezeiungen: Die Gewalttaten gegen die muslimische Bevölkerung, die in die Zange genommen wurde und etwa 70 Prozent der über 100 000 Toten des Bosnien-Krieges zu beklagen hat, führte unter der muslimischen Bevölkerung zu einer gewissen Radikalisierung in Richtung Islamismus; die legitime Solidarität der muslimischen Welt und das Eintreffen von Mudschaheddin in Bosnien gaben den Thesen von der islamistischen Gefahr, wie sie von Belgrad und Zagreb in die Welt gesetzt wurden, eine gewisse Glaubwürdigkeit.
Es war jedoch vor allem in Regionen mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit wie in Tuzla, wo die „Bürger“parteien den meisten Zulauf bekamen und somit die oben erwähnte Gleichsetzung dementierten. Die Partei von Alija Izetbegovic, die SDA, wurde ihrerseits von mehreren Strömungen und Spaltungen durchzogen, die sich vom islamischen Fundamentalismus entfernten. Das Projekt eines islamischen Staates war im bosnischen Kontext nicht attraktiv – sogar bei denen, die einen Aufschwung der Religion propagierten, um sich gegen die Übel der Günstlingswirtschaft und der korrupten Praktiken der Integration in den Staatsapparat zu schützen.
Es gab daher unterschiedliche islamistische Strömungen, aber es war eine Lüge, zu behaupten, Bosnien-Herzegowina wäre wegen der „islamistischen Gefahr“ auseinander gebrochen; wenn der Islamismus zugenommen hatte, dann in erster Linie als Reaktion auf die Angriffe gegen die muslimische Bevölkerung.
Die These vom „einzigen serbischen Angreifer“ wurde zu Anfang des Krieges durch den Diskurs aus Sarajevo bestätigt. An zwei Fronten zu kämpfen und jene anzuprangern, die von den USA unterstützt wurden, war sicherlich schwierig: Der Widerstand der multiethnischen und keineswegs nur muslimischen Armija in Sarajevo brauchte Waffen. Kroatien und Herceg-Bosna lagen am Wege jeder dem Widerstand geleisteten Hilfe – und es war auch das einzig mögliche „Hinterland“ für muslimische Flüchtlinge. Aber dieses „Hinterland“ war eine Falle, eine Geiselname, die zur Unterdrückung des Diskurses auf desaströse Weise führte. [4] Im Rahmen der Solidaritätsbewegung gegen die „ethnischen Säuberungen“ gab es starken Druck von kroatischer Seite, nur einen Aggressor zu benennen (und eine Art von – serbischem – Vergewaltiger); dies ist der Frauenbewegung nur zu gut bekannt, besonders Rada Ivekovic, einer kroatischen Feministin, die als „Hexe“ verteufelt wurde, weil sie zu sagen gewagt hatte, auch Kroaten hätten Vergewaltigungen begangen. [5]
Die Instabilität der nacheinander konzipierten „Friedenspläne“ vor Dayton war grundlegend mit der Nicht-Vollendung und somit der Fortsetzung des Kampfes vor Ort der beiden Staatsprojekte, des bosnisch-serbischen und des bosnisch-kroatischen, verbunden, dessen Verlauf man auf den Karten studieren kann. Radovan Karadzić und Ratko Mladic, die an der Spitze der bosnisch-serbischen nationalistischen Milizen standen, und Mate Boban, der an der Spitze der bosnisch-kroatischen nationalistischen Milizen stand, wurden bis Dayton zu den „Friedensgesprächen“ hinzugezogen. Sie trafen sich im österreichischen Graz und vor Ort konnte man die Milizen beider Seiten sehen, wie sie zusammen in der Umgebung von Sarajevo, das „von einem Aggressor“ belagert war, anstießen.
Die einen hatten die Waffen und die Infrastruktur der jugoslawischen Volksarmee erhalten, die sich aus Bosnien-Herzegowina zurückgezogen hatte; die anderen wurden direkt von der kroatischen Armee unterstützt. Darin lag der entscheidende Grund für die Kriege der ethnischen Säuberung und für die Tatsache, dass die muslimische Bevölkerung (etwas weniger als 45% der Gesamtbevölkerung) in die Zange genommen wurde und etwa 70% der Toten zählt.
Die Diplomatie der USA enthielt sich zu Beginn eines direkten Eingreifens in die jugoslawische Krise. Der IWF unterstützte eher eine zentrale Steuerung der jugoslawischen Verschuldung und wollte daher Privatisierungen in der ganzen Föderation durchsetzen.
Nach den Abspaltungen von Slowenien und Kroatien folgten die USA einer Logik, die sich der Politik Deutschlands annäherte und die kroatische Propaganda gegen den „serbischen Kommunismus“ aufgriff, wodurch der wirkliche Charakter des kroatischen Regimes verhüllt wurde.
Washington kritisierte die „Friedenspläne“ der UNO und der EU für Bosnien. Dies ermöglichte den USA, auf einen Schlag mehrere Optionen zu haben:
Sie stellten sich als Freunde der (albanischen und bosnischen) Muslime gegen den serbischen Kommunismus hin, womit sie versuchten, die muslimische Welt ihre Politik im Irak und ihr Schweigen zu Tschetschenien „schlucken“ zu lassen;
sie wollten die Versuche einer gemeinsamen autonomen europäischen Politik ... sowie die Versuche der UNO als lächerlich erscheinen lassen.
Entscheidend waren die inneren politischen Auseinandersetzungen in den USA und weltweit. Angesichts der Orientierung der Republikaner, die für Isolationismus eintraten, ging es für Clinton darum, die USA in Bosnien mit den europäischen Partnern wieder ins diplomatische Spiel zu bringen, um dadurch die NATO voranzubringen. Die Umstände und die diplomatischen Entscheidungen von Dayton 1995 sollten ihm dies ermöglichen.
Frankreich und Großbritannien versuchten zunächst, Jugoslawien zu erhalten; dann versuchten sie, auf Belgrader Seite die von Deutschland Zagreb gewährte Unterstützung auszugleichen. Doch den europäischen Regierungen war schließlich ihr „Aufbau Europas“ wichtiger als ihre Meinungsverschiedenheiten: Sie schlossen sich also Deutschland bei der Anerkennung der Unabhängigkeit Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas an, um dadurch die Fassade einer „gemeinsamen europäischen Außenpolitik“ zu retten.
Der Krieg zwischen Kroaten und Muslimen 1992/1993 öffnete einigen die Augen und brachte eine Neuausrichtung der Bündnisse, ohne dass sich der Diskurs (vor allem jener der USA, die auch weiterhin von dem einen Aggressor sprachen) änderte. Jedoch wurden die Grundlagen für eine neue Realpolitik der Beteiligten gelegt: Diese bestand in der Suche nach einer Stabilisierung des Balkans, die durch eine Vereinbarung zwischen dem von Milošević geführten Serbien und dem Kroatien Tudjmans erreicht werden sollte. Dabei wollte man die radikalsten nationalistischen Kräfte in beiden Regimen ausbooten und Sarajevo zu Kompromissen zwingen.
Die Angriffe der NATO in Bosnien 1995 kurz vor den Verhandlungen in Dayton waren keineswegs gegen Milošević gerichtet; denn dieser konsolidierte damals gerade seine Herrschaft gegenüber den ultranationalistischen Führern in Bosnien. Daher wurden die Sanktionen teilweise aufgehoben, was (außer einer Beschleunigung der Privatisierungen) im Kosovo dazu führte, dass man feststellte, dass die von Ibrahim Rugova nach der Änderung des Statuts der Provinz vertretene Politik des friedlichen Widerstandes gescheitert war.
Der Waffenstillstand von Dayton wurde auf der Grundlage von zwei Gesamtpaketen erreicht. Die Bombardierungen der NATO gegen Ziele der bosnischen Serben spielten dabei nur eine geringe Rolle und waren Sand in die Augen, um es den USA zu ermöglichen, mit dem „Teufel Milošević“ ein Abkommen eingehen zu können (in Washington sagte man, man habe eine harte Politik betrieben, die Milošević „zum Kompromiss gezwungen“ habe – die Wirklichkeit sah ganz anders aus).
Richard Holbrooke hat betont, der politisch-militärische Teil des Abkommens sei global und regional und eben mit der Hoffnung entworfen worden, die ganze Region zu stabilisieren; heute jedoch kann man die Sackgassen deutlicher erkennen:
Es gab weder Gewinner noch Verlierer, daher war der unterzeichnete Vertrag äußerst widersprüchlich: Der bosnische Präsident unterzeichnete ihn, weil er Präsident von Bosnien-Herzegowina blieb und weil dessen Grenzen erhalten blieben; die anderen, weil die ethnischen Säuberungen durch die Schaffung von zwei „Einheiten“ in Bosnien-Herzegowina gebilligt wurden und weil Bindungen von jeder „Einheit“ mit den Nachbarstaaten ermöglicht wurden.
Franjo Tudjman unterzeichnete im Namen der Kroaten und Slobodan Milošević im Namen der Serben und beide wurden durch diese Unterschriften auf internationaler Ebene in Bosnien-Herzegowina und in ihren Ländern bestätigt.
Franjo Tudjman hatte erst akzeptiert, in Dayton zu unterschreiben, als die „serbische Frage“ in Kroatien durch die ethnische Säuberung von mehreren Hunderttausenden Serben im Verlauf des Sommers 1995 „geregelt“ worden war. Dadurch fiel ihr Anteil an der Bevölkerung in Kroatien von 12 auf 5 Prozent, was den Großmächten, dem Haager Tribunal und ... Milošević durchaus bekannt war.
Slobodan Milošević hatte die ethnische Säuberung des Serben aus Kroatien im Vorfeld der Vereinbarungen von Dayton durchaus hingenommen, denn dies sorgte für die internationale Anerkennung und das Schweigen über seine Politik im Kosovo. Darüber hinaus versuchte Serbien, die aus Kroatien fliehenden Serben in die Republika Srpska und in den Kosovo zu führen, um dort die serbische Präsenz zu verstärken. Außerdem gewann er zu Lasten seiner früheren bosnisch-serbischen Verbündeten: Kurz vor den Abkommen von Dayton wurden Ratko Mladić und Radovan Karadzić als direkt Verantwortliche für das Massaker von Srebrenica vor dem Haager Tribunal angeklagt. Dies ermöglichte es Milošević, an ihrer Stelle die Vereinbarungen von Dayton zu unterzeichnen – „im Namen aller Serben“! Muss man noch betonen, dass er dies mit einer gewissen Legitimation von Seiten der bosnischen Serben nur tun konnte, weil die Republika Srpska, das Produkt der von Mladić und Karadzić durchgeführten ethnischen Säuberungen, auf der Ebene der Verfassung als eine der beiden Einheiten Bosnien-Herzegowinas anerkannt worden waren? Die Enklave Srebrenica war von Sarajevo aufgegeben worden. Aber sie sollte von den Streitkräften der NATO und der UNO beschützt werden – was eben nicht geschah.
Hier einige „Kollateralschäden“ dieser Vereinbarungen, die das Haager Tribunal interessieren sollten:
Im Prozess gegen General Krstić wurde das Massaker von Srebrenica vor dem Haager Tribunal als „Völkermord“ behandelt. Der General wurde nicht verurteilt, weil er dieses Massaker oder den Genozid gewollt hatte, sondern weil er nicht eingegriffen hatte, ihn zu verhindern. Das Tribunal hatte überhaupt keinen Beweis für eine Befehlskette, die gezeigt hätte, dass Milošević in die Entscheidung über das Massaker eingebunden gewesen wäre (er wäre wahrscheinlich auf ähnlichen Grundlagen verurteilt worden wie Krstic) – aber die Großmächte waren direkt dafür verantwortlich, die Zivilbevölkerung nicht beschützt zu haben.
Franjo Tudjman starb 1999, ohne dass er je angeklagt worden wäre, während seine Armee und sein Regime direkt in die Gewalttaten gegen Serben in Kroatien und in die ethnischen Säuberungen in Herceg-Bosna, besonders in Mostar, verwickelt gewesen sind.
Schließlich verlor der von Ibrahim Rugova geführte friedliche Widerstand der Albaner in Dayton jede Hoffnung auf internationale Anerkennung – und der Aufbau der Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) ergab sich aus dieser Feststellung.
Dayton bedeutete somit, dass sich die starken Mächte der Region konsolidieren konnten. Die Hoffnung auf eine internationale Anerkennung der selbst ausgerufenen Republik Kosovo/Kosova wurde zunichte gemacht.
Daher ergaben sich Kritiken an der Strategie des friedlichen Widerstandes, wie sie von Ibrahim Rugova und seiner Partei LDK (Demokratische Liga des Kosovo) seit den von Belgrad 1989 vorgenommenen Änderungen der Verfassung verfolgt worden war. Als Ergebnis von Dayton entstand eine alternative Widerstandsstrategie für die Unabhängigkeit, die auf eine Internationalisierung des Konfliktes mittels Gewalt abzielte.
Die Befreiungsarme des Kosovo (UÇK) hatte sehr unterschiedliche ideologische Ursprünge. Sie begann 1995 mit ihren Aktionen gegen den serbischen Polizeiapparat, was zu Repressalien führte, die umso maßloser ausfielen, als der Widerstand weit über die UÇK hinausging und weil ganze Familien, besonders in den Dörfern, um einige ihrer Mitglieder in jener Organisation herum solidarisch sein konnten: Je mehr die UÇK unterdrückt wurde, desto populärer wurde ihr Kampf – obgleich sie eine randständige, in ihrem Verhalten (auch gegenüber anderen Sippen) äußerst sektiererische und unfähige Gruppe war, die Popularität ihres politischen Gegners Ibrahim Rugova in Frage zu stellen.
Zwischen 1996 und 1998 wurde die UÇK nicht nur von Belgrad, sondern auch von allen westlichen Diplomaten, auch denen der USA, als „terroristisch“ eingestuft; sie verlangten von Belgrad nur eine gewisse Mäßigung. Ende 1998, nachdem die Gewalttätigkeiten zugenommen hatten, überzeugte sich Madeleine Albright, dass die USA aus der Angelegenheit einige geostrategische Vorteile ziehen konnten – wodurch laut Richard Holbrooke die beiden Errungenschaften von Dayton weitergeführt würden.
In globaler Hinsicht ging es darum, den Kosovo-Konflikt mit dem Ziel zu instrumentalisieren, die Neudefinition der NATO und deren Ausweitung nach Osteuropa zu bestärken, Militärbasen der USA in dieser Region und vor allem auf dem strategisch bedeutsamen Balkan mit seinen Meerzugängen in Albanien und Rumänien aufzubauen und an der Integration des europäischen Aufbaus im Rahmen der Beziehungen zu den USA gegen jede autonome politische Versuchung der EU zu arbeiten.
Von Seiten der UÇK ging es darum, sich auf den anfänglichen Diskurs der USA gegen den serbischen Kommunismus und zugunsten einer Verteidigung der Albaner zu stützen, um die nach Dayton laufende Dynamik der internationalen Konsolidierung des Milošević-Regimes zu brechen und zu versuchen, eine Anerkennung des Rechtes auf Selbstbestimmung zu erreichen.
Wenn man führen will, muss man handeln, sofern man nicht in Misskredit fallen möchte. Um aber Bombardierungen der NATO auf ein europäisches Land zu legitimieren, brauchte man nichts weniger als einen „Hitler“ und eine Bedrohung durch einen „Völkermord“ an den AlbanerInnen.
Wie Saddam Hussein wurde so auch Slobodan Milošević als „Hitler“ katalogisiert. Am 25. März 1999 titelte Le Monde: „Bill Clinton bemühte Churchill gegen Hitler, um die Intervention zu rechtfertigen“ Als Untertitel ergab sich: „Der amerikanische Präsident möchte die serbischen Fähigkeiten einschränken, den Genozid fortzusetzen“. [6]
In Wahrheit hatte die US-amerikanische Diplomatie drei Ziele ausgemacht a) eine substantielle Autonomie des Kosovo – aber keine Unabhängigkeit, somit b) Beherrschung durch Belgrad unter Beibehaltung der Grenzen, in der Hoffnung, Belgrad dazu zu bringen, c) das Wichtigste zu akzeptieren: die NATO. Hier war man weit davon entfernt, zu denken, in Belgrad regiere ein Hitler, der im Kosovo einen Genozid vorbereite.
Doch der erste Verhandlungsabschnitt war in Rambouillet von Frankreich und Großbritannien vorgenommen worden, die aus dem Kosovo ihr „Dayton“ der Außenpolitik der EU machen wollten. Hubert Védrine und Robin Cook übernahmen die ersten beiden Teile des Triptychons der Vereinigten Staaten, also die Ablehnung einer substantiellen Autonomie und die Garantie der bestehenden Grenzen; aber die NATO-Frage wurde ausgeklammert und für die Diplomaten trat „das Schlimmste“ ein: Im Februar 1999 weigerten sich die Albaner des Kosovo, das von Belgrad akzeptierte Projekt ihrerseits zu unterschreiben – eben weil es die Unabhängigkeit des Kosovo beerdigte. Die militärische Option blieb als Drohung bestehen.
Dieser Misserfolg der ersten Phase von Rambouillet Ende Februar wurde von Jean-Michel Demetz in der Zeitschrift L’Express unter dem Titel kommentiert: „Der doppelte Misserfolg von Madeleine: Im Kosovo weder Abkommen noch Militärschlag: Die amerikanische Außenministerin ist enttäuscht“. [7]
Es wurde eine neue Frist zugestanden, mit der Entscheidung, die Verhandlungen am 23. März wieder aufzunehmen. In der Zwischenzeit wurde die UÇK von Madeleine Albright überzeugt, das Autonomie-Abkommen zu unterzeichnen, wobei sie ihnen mündlich eine Präsenz der NATO, rasche Wahlen und eine Volksabstimmung binnen dreier Jahre zusicherte.
Für die USA war das Ziel ein Eingreifen der NATO, um dadurch Soldaten in Serbien stationieren zu können; es genügte, sie als maßgeblichen Bestandteil des Abkommens durchzusetzen und die erwartete Ablehnung von Seiten Belgrad mit Bomben zu „bestrafen“. [8]
Der „Feldzug aus der Luft“ weitete sich zu einem Krieg aus, ohne dass ein Mandat der UNO vorgelegen hätte.
Die NATO stand kurz davor, auseinander zu brechen. [9] Es war offensichtlich, dass die Bombardierungen im Kosovo eine Katastrophe ausgelöst hatten (800 000 AlbanerInnen flohen aus der Provinz, die Zivilbevölkerung wurde auf dem „Höhepunkt“ der Luftschläge – z.T. irrtümlicherweise, teilweise gewollt – zur Zielscheibe, weil der US-Kommandant hoffte, die serbische Bevölkerung würde sich gegen Milošević wenden). Doch trat offensichtlich das Gegenteil ein; der wegen des als ungerecht empfundenen Bombenhagels entstehende Patriotismus stärkte im Gegenteil unmittelbar die Position von Milošević und führte die Opposition in eine Falle. [10] Der Belgrader Journalist Stanko Cerovic, ein erklärter Gegner von Milošević, hat dies voll Bitternis analysiert. [11]
Am 22. Mai 1999 (also mitten im Krieg) traf die kanadische Anklägerin Louise Arbour, Staatsanwältin am Haager Tribunal, die Entscheidung, Slobodan Milošević, der damals noch Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien war, sowie mehrere hohe Verantwortungsträger des Regimes aus Politik und Militär wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verletzungen der Gesetze und Bestimmungen im Krieg“ anzuklagen. Die Anklage bezog sich auf den Zeitraum vom 1. Januar 1999 (als das umstrittene Massaker von Radcak mit ungefähr 45 Toten stattfand) bis zum Ende des Krieges im Juni 1999. Laut Pierre Hazan [12] wurde diese Entscheidung der kanadischen Anklägerin [13] „präventiv“ getroffen, wobei sie eher im Gegensatz zu den Großmächten als unter ihrem Druck agierte. Dieser These zufolge habe sie befürchtet, dass die Regierungen der NATO-Länder angesichts eines Krieges, der sich zu einem regelrechten Fiasko auswuchs, mit dem Belgrader Führer ein Abkommen um jeden Preis abschließen wollten. Im Gegensatz dazu möchten wir festhalten, dass die Anklage von Milošević genau in die Richtung ging, die die NATO bei der Legitimierung ihrer Handlungen in ihrer Propaganda auch beschritten hatte [14] – wir können allerdings einräumen, dass Louise Arbour (wie Carla del Ponte) selbst Opfer jener Propaganda geworden ist.
Man verkündete also im Voraus eine Anklage von Milošević wegen eines Genozids im Kosovo: Dort gebe es, so verkündete Clinton, Hunderte von Leichengräbern, einige Dutzend Srebrenicas, Zehn-, wenn nicht Hunderttausende von Toten – was den Krieg rechtfertige. [15] Um den deutschen Kriegseinsatz „durchzupauken“, was vor allem für die Grünen in der Koalition keine Leichtigkeit war, musste man die „Nie wieder Auschwitz“-Karte spielen. Der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping verkündete am 9. April 1999, es gebe einen „Hufeisenplan“ zur Vertreibung der AlbanerInnen, der seit November 1998 im Kosovo umgesetzt würde.
Das Problem dabei war, dass
der „Hufeisenplan“ ein Schwindel war, der vom Haager Tribunal dann auch nicht mehr aufgegriffen wurde;
Man nach Kriegsende internationale Beobachter in den Kosovo schickte, um unter dem Schutz und in Anwesenheit der NATO die angeblich massenhaft verscharrten Leichen mit allen modernen Mitteln zu suchen (vgl. El Pais, 23. November 1999). Die Ergebnisse jener Nachforschungen standen in keinem Verhältnis zu den erhobenen Vorwürfen.
Laut dem Bericht von Human Right Watch von 2001 [16] dürfte die Massenvertreibung von AlbanerInnen während des Krieges mehreren Zielen gedient haben: Veränderung der ethnischen Zusammensetzung des Kosovo; Verhandlungen über die territoriale Aufteilung des Kosovo, aber auch Ziele, die mit dem Krieg der NATO direkt verbunden waren, nämlich eine Destabilisierung der Nachbarstaaten, um eine Intervention mit Bodentruppen zu erschweren.
Der Bericht bringt auch eine Bilanz der auf Anordnung des Haager Tribunals innerhalb von zwei Jahren der Nachforschungen ausgegrabenen Leichen: Es seien 4 300 AlbanerInnen von den serbischen und jugoslawischen Sicherheitskräften getötet worden – diese Ziel liegt jedenfalls niedriger als die Todesrate von Srebrenica mit dem binnen Stunden durchgeführten Massenmord.
Während der deutsche Außenminister Joschka Fischer den NATO-Krieg mit der „humanitären Katastrophe“ des Genozids gerechtfertigt hatte, meinte ein offizieller Bericht der deutschen Sicherheitsdienste vom 12. Januar 1999: „Der Osten des Kosovo ist noch nicht in den bewaffneten Konflikt einbezogen. Das öffentliche Leben in den Städten Prischtina, Urosevic, Gnjilan usw. ist in der ganzen Zeit des Konfliktes auf relativ normaler Grundlage weitergegangen. Die Aktionen der Sicherheitskräfte waren nicht gegen die albanischen Kosovaren als ethnische Gruppe gerichtet, sondern gegen einen militärischen Gegner (die UÇK) und seine wirklichen oder vermeintlichen Anhänger.“ [17]
Schließlich hat der Oberste Gerichtshof des Kosovo in Prischtina nach einer Untersuchung am 6. September 2001 festgestellt, dass es im untersuchten Zeitraum im Kosovo keinen Völkermord gegeben habe. (vgl. Depesche der AFP vom 7. September 2001).
Was wissen die Parlamentarier des EP oder die Abgeordneten des US-Kongresses davon? Was meint das „republikanische“ Frankreich dazu, das sich weigert, der korsischen Bevölkerung ein Statut zuzugestehen, oder das sich geziert hat, die Charta der Minderheitensprachen des Europarates anzunehmen? Weshalb haben die deutschen Grünen den Krieg im Kosovo und nicht den Irak-Krieg unterstützt – während doch die Massaker in den Kurdendörfern des Irak unvergleichlich schlimmer waren als die Repression im Kosovo? Und welche Bilanz ziehen sie nun? Welche Rechenschaft haben des Europäische Parlament und der Kongress der Vereinigten Staaten für einen Krieg verlangt, der viele negative Konsequenzen gezeitigt hat?
Einige Männer und Frauen (die gestern häufig Antiimperialisten gewesen sind) stellten die begangenen Gewalttaten und die Schwierigkeiten, von innen Widerstand zu leisten, fest und kamen zum Schluss, man müsse ein militärisches Eingreifen der Großmächte fordern oder die Intervention unterstützen. Und angesichts des Scheiterns der Friedenspläne der UNO und der EU müsse man die Hoffnung auf die NATO richten, die zum bewaffneten Arm der UNO umzugestalten sei, wodurch sie zu einem „Gendarm“ der „zivilisierten Welt“ werde. Die Strömungen, die dieser Ideologie anhängen, begrüßten den Krieg der NATO zwischen März und Juni 1999 im Kosovo als „verspätet, aber willkommen“ – als legitim, wiewohl er nach dem Völkerrecht eigentlich illegal war.
Wir haben diese Illusionen von Anfang an kritisiert und die zahlreichen Mobilisierungen gegen den Krieg der NATO unterstützt, indem wir die Sackgassen und Lügen des angeblich „humanitären“ Krieges, der weder das Leben noch das Recht geschützt hat, angegriffen haben.
Die Länder des Balkan sind heute eindeutig in ein euro-atlantisches Projekt der „Integration“ eingebunden, das mit einer demokratischen Entscheidung über den Gesellschaftstyp, also einer wirklichen Selbstbestimmung der betroffenen Volksgruppen über die Formen und Inhalte der Staaten, in denen sie leben wollen, und die ihre Interessen und ihre Würde verteidigen könnten, nichts zu tun hat. Der Kosovo wurde zu eine riesigen US-Militärbasis (Bondsteel) umgebaut. Die Verallgemeinerung von prekären Staaten auf dem Balkan, die angegriffen werden und wegen ihrer Übernahme neoliberaler Politiken unfähig sind, den sozialen Zusammenhalt zu sichern, zeigt, dass die Region nach dem NATO-Krieg – und sechs Jahre nach dem Sturz von Milošević – keineswegs stabilisiert wurde.
Wir haben die Schwarz-Weiß-Logiken (entweder Milošević oder die NATO) immer abgelehnt, nicht, weil wir beide auf dieselbe Ebene stellen, sondern weil die Entscheidung für die eine oder die andere Seite weder nötig war noch etwas geklärt hat. Die Mobilisierungen mussten und müssen auf zwei Ebenen erfolgen:
auf der Ebene der geostrategischen Kämpfe, der europäischen und der weltweiten „Ordnung“, zählte Milošević nicht; daher ging es darum, die Kriegseinsätze der NATO und die neoliberalen und imperialistischen Logiken der USA und der EU – und natürlich ihre Propagandalügen – zu bekämpfen;
aber gemessen mit der Elle eines sinnhaften Widerstandes gegen die imperialistische Weltordnung musste man sich eindeutig von der reaktionären Politik eines Milošević abgrenzen, weil sie jede multinationale Annäherung zwischen den Völkern verhinderte und das sozialistische Projekt in den Dreck zog. Seine Politik führte das serbische Volk in die schlimmsten Sackgassen und dadurch wurde er zum wichtigsten Architekten seines eigenen Sturzes.
Juli 2006 |
Übersetzung: Paul B. Kleiser |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr.