Am 18. Juli gab Gilbert Achcar, der im Libanon aufgewachsen ist, Alan Maass das folgende Interview; es erschien am 28. Juli in der Wochenzeitung Socialist Worker (USA), die von der International Socialist Organization (ISO) herausgegeben wird.
Interview mit
Die US-Medien machen die Hisbollah für den Angriff Israels verantwortlich, da sie mit der Gewalt „begonnen” habe. Siehst Du das auch so? |
Was man auch immer von Hisbollah und der von ihr durchgeführten Aktion halten mag – und ich habe wegen der absehbaren Folgen meine eigenen Vorbehalte was ihre Angemessenheit betrifft – so kann diese keinesfalls rechtfertigen, was Israel jetzt macht. Dass sieben israelische Soldaten getötet und zwei Soldaten entführt wurden, war eine Kriegshandlung; Libanon und Israel sind zwei Länder, die sich immer noch im Kriegszustand befinden.
Israel setzt sich regelmäßig über die Souveränität des Libanon hinweg: Es hat das Land unzählige Male angegriffen, insbesondere nach 1967 (der erste verheerende israelische Angriff auf den Flughafen von Beirut war 1968); 1967 fand die israelische Invasion in die Shebaa-Farmen, einen kleinen Streifen auf libanesischem Gebiet, statt, 1978 wurde sie auf weite Teile im Südlibanon ausgeweitet und 1982 betraf sie den halben Libanon. Bis 1985 hielt Israel einen großen Teil des Landes besetzt, den Süden bis 2000, und bis heute den Streifen, den es 1967 besetzte. Seit 2000 hat ein anhaltender Krieg niedriger Intensität zwischen Hisbollah und Israel stattgefunden: Scharmützel über die Grenzen hinweg, verdeckte israelische Aktionen im Libanon, einschließlich der Ermordung von Hisbollah-Führern etc.
Aber das, was Israel jetzt im Libanon macht, sind massive Vergeltungsmaßnahmen gegen eine ganze Bevölkerung. Israel nimmt eine gesamte Bevölkerung und ein Land in Geiselhaft und versucht, seine Bedingungen aufzuzwingen. Diese Brutalität ist zutiefst feige, denn welche militärischen Mittel Hisbollah (oder dem ganzen libanesischen Staat) auch immer zur Verfügen stehen, werden diese von der militärischen Überlegenheit des israelischen Staates in den Schatten gestellt. Das ist nicht eine Art von Kampf zwischen Gleichen, auch wenn Hisbollah mit Raketen zurückschlägt. Eine der gewaltigsten Militärmächte der Welt begeht eine unverhüllte Aggression gegen einen der schwächsten Staaten im Nahen Osten und ermordet eine große Zahl Menschen: In weniger als einer Woche bereits über 200 Menschen und die Zahl wird von Tag zu Tag größer. Die überwältigende Mehrheit, über 90 Prozent, der Opfer der israelischen Offensive sind unbeteiligte Zivilist/innen. Sie sind weder KämpferInnen noch politische AktivistInnen, sondern schlicht normale BürgerInnen, Familien und eine beträchtliche Zahl von Kindern, die von israelischen Bomben auf grauenhafte Weise in Stücke gerissen wurden.
Israel zerstört die Infrastruktur des Landes und auch die Lebensgrundlage Hunderttausender Menschen. Libanon ist ein Land, in dem die Sommersaison für Tausende und Abertausende von Menschen sehr wichtig ist, da ein großer Teil der Bevölkerung als SaisonarbeiterInnen in der Tourismusbranche ihr Geld verdient und auf diese Einkünfte für den Rest des Jahres angewiesen ist. Und jetzt werden diese Menschen zu Zehntausenden gefeuert, weil jedem klar ist, dass es im Libanon keine „Sommersaison” geben wird.
Wenn man all das in Betracht zieht und Israels Vorgehen mit egal welcher Grenzoperation von Hisbollah vergleicht, so steht eindeutig fest, dass Israel diese nur als Vorwand benutzt hat, um – mit Rückendeckung der USA und anderer Staaten – zu versuchen das durchzusetzen, was es seit 2004 erzwingen will.
In diesem Jahr gelang ihnen die Annahme einer Resolution im UN-Sicherheitsrat, die nicht nur den Rückzug der syrischen Truppen aus dem Libanon vorsieht, sondern auch die Entwaffnung bewaffneter Gruppierungen im Land, womit vor allem Hisbollah und in zweiter Linie die Palästinenser in ihren Flüchtlingslagern gemeint sind.
Die Doppelmoral der westlichen Medien bei ihrer Darstellung der Situation und die Heuchelei in den Erklärungen Israels sind derart flagrant, dass sie schon an sich eine moralische Aggression darstellen; so wird beispielsweise die Gefangennahme eines einzigen Soldaten durch Palästinenser für Israel zur Rechtfertigung für einen mörderischen und zerstörerischen Überfall im Gazastreifen, während Israel nahezu 10 000 PalästinenserInnen in seinen Gefängnissen hat, die meisten davon ZivilistInnen, die von Israel aus dem seit 1967 besetzten Gebiet unter totaler Verletzung des Völkerrechts entführt wurden.
Diese Doppelmoral ist uns gut bekannt. Noam Chomsky hat es sich seit vielen Jahren zur Aufgabe gemacht, auf die permanenten doppelten Moralstandards und die Heuchelei in den imperialen Ländern und deren Medien hinzuweisen und diese scharf zu kritisieren. Wir erleben derzeit einen neuen abstoßenden Fall genau dieser Doppelmoral.
Es mag zwar sein, dass diese Heuchelei einem durchschnittlichen Publikum in den westlichen Ländern nicht weiter auffällt, dafür aber ohne jeden Zweifel einer überwältigenden Mehrheit in den Dritte-Welt-Ländern – und natürlich in den muslimischen und noch mehr in den arabischen Ländern –, für die diese Doppelmoral unübersehbar und empörend deutlich ist. Deswegen schenken die Menschen den Äußerungen der führenden westlichen PolitikerInnen, dem Gerede der Bush-Administration über Demokratie und andere Lügen keinerlei Glauben.
Was wir stattdessen sehen, ist, dass der Hass nicht nur gegen Israel, sondern gegen die USA und alle anderen westlichen Länder, die Israel unterstützen und mit den Vereinigten Staaten verbündet sind, einen Höhepunkt erreicht hat, der weit über dem liegt, was es davon vor dem 11. September 2001 gegeben hat.
Mit anderen Worten, die USA und der israelische Staat bereiten für den Rest der Welt einschließlich ihrer eigenen Bevölkerungen alptraumhafte Ereignisse vor, im Vergleich zu denen der 11. September, fürchte ich, nur ein Vorgeschmack sein wird. Die Menschen im Westen, vor allem in den USA, müssen sich der Heuchelei ihrer Regierung und des vollkommenen Fehlens jeglicher Gerechtigkeit und selbst humanitären Mitgefühls im Umgang mit der arabischen Bevölkerung der Länder im Nahen Osten bewusst werden. Sie müssen sich darüber klar werden, dass die arabische und muslimische Bevölkerung zu Recht immer mehr spürt, dass sie als Untermenschen betrachtet wird und dass ihr Leben in den Augen von Israel, den USA und ihren Verbündeten keinen Wert hat.
Daher werden sie für die Art von Diskurs empfänglich, die von Usama Bin Ladin und seinesgleichen kommt: Wenn unser [der Araber und Muslime] Leben als Zivilbevölkerung für sie keinen Wert hat, dann braucht auch das Leben ihrer Zivilbevölkerung für uns keinen Wert zu haben. So geraten wir, wegen der kriminell reaktionären Politik der US-Administration und der israelischen Regierung, in eine total infernalische Situation.
Welche Ziele verfolgt Israel mit diesem Angriff? |
Strategisch gesehen betrachten Israel und die Vereinigten Staaten nicht Bin Ladin oder Al Qaida als ihre Hauptfeinde im Nahen Osten – die sind in ihren Augen nur kleine, wenn auch oft nützliche Ärgernisse – sondern den Iran. Es gibt das, was sie die schiitische Achse oder den schiitischen Halbmond nennen. Dieser hat seinen Ursprung im Iran und reicht von den pro-iranischen schiitischen Kräften im Irak über die mit dem Iran verbündete syrische Regierung bis zur Hisbollah im Libanon.
Deshalb sehen sie in Hisbollah einen sehr wichtigen Feind – weil sie mit ihrer Art von Weltanschauung alles aus dem Blickwinkel ihrer Obsession, nämlich dessen, was sie für den wichtigsten Feindstaat halten, sehen. Zur Zeit des Kalten Krieges pflegten sie alles auf der Welt im Rahmen einer Konfrontation mit der ehemaligen Sowjetunion zu sehen. Jetzt sehen sie im Nahen Osten alles aus dem Blickwinkel einer Konfrontation mit dem Iran.
Außerdem hat Israel seine eigenen spezifischen Gründe, um Hisbollah loszuwerden, die Organisation, die den Hauptanteil daran hatte, dass Israel im Jahr 2000 zum Rückzug aus dem Libanon gezwungen worden war. Hisbollah ist eine Organisation, die Israel schon alleine durch ihre bloße Existenz permanent herausfordert. Seitdem Israel sich aus dem Libanon zurückziehen musste, war es entschlossen, sich an Hisbollah zu rächen; und das setzt Israel jetzt auch, unter dem Vorwand der Scharmützel an der Grenze, um.
Die US-Regierung bezeichnet Hisbollah als eine Bande von Terroristen. Welche Rolle spielt diese Bewegung im Libanon tatsächlich? |
In all den Jahren wurde die politische Entwicklung im Libanon durch eine Dynamik der einzelnen Gemeinschaften geprägt; es gibt eine gewisse Identifizierung der Gemeinschaften mit dieser oder jener politischen Organisation. Hisbollah schaffte es, die Hauptkraft in der schiitischen Gemeinschaft zu werden, der größten Minderheit im Libanon, wo keine Glaubensgemeinschaft die Mehrheit ausmacht.
Hisbollah konnte diese Rolle aus mehreren Gründen übernehmen. Der Hauptgrund ist die Rolle, die sie bei der Befreiung des Südlibanon von der israelischen Invasion spielte, wo überwiegend die schiitische Gemeinschaft lebt. Aber es gibt noch andere Faktoren. Der zunehmende Einfluss der Hisbollah ist allgemein im Kontext der letzten dreißig Jahre in der gesamten Region zu verstehen; das Scheitern der Linken und der Bankrott der nationalistischen Führungen haben in Bezug auf die Führung von Massenbewegungen ein Vakuum verursacht, das durch Organisationen mit islamisch-fundamentalistischem Charakter gefüllt wurde.
Das wurde durch die iranische Revolution 1979 sehr stark vorangetrieben. Die Druckwelle der Revolution in der Region war beträchtlich, natürlich vor allem unter den Schiiten, weil der Iran ein schiitisches Land ist.
Das Entstehen der Hisbollah war das Ergebnis dieser Druckwelle gemeinsam mit den Bedingungen, die durch die israelische Invasion im Libanon im Jahr 1982 geschaffen worden waren. Hisbollah entstand nach der Invasion, und ihr Aufstieg war mit ihrem Erfolg im Kampf gegen die Besatzung verknüpft.
Ein weiterer Faktor ist die Art, wie Hisbollah ihre soziale Basis aufbauen konnte. Sie erhielt seit ihrer Gründung sehr viel Unterstützung vom Iran. Teheran bildet die Hisbollah aus und finanziert sie, und die Organisation hat die erhaltenen finanziellen Mittel klug eingesetzt. Sie organisiert verschiedene soziale Dienste und ein soziales Netzwerk, das einer beträchtlichen Zahl von schiitischen Familien hilft.
Es ist ihr auch gelungen, das Prestige, das sie durch den Widerstand gewonnen hat, politisch umzusetzen, als sie sich an den Wahlen beteiligte. Hisbollah stellt eine bedeutende Fraktion im libanesischen Parlament, und es gibt sogar Hisbollah-Minister in der libanesischen Regierung.
Es ist also keine „terroristische” Organisation, wie die terroristischen Regierungen von Washington und Israel sie nennen. Es ist eine Massenpartei, die ganz und gar in das legale politische Leben Libanons integriert ist. Abgesehen von einer winzigen Minderheit von Ultrareaktionären betrachtet niemand im Libanon die Konfrontation der Hisbollah mit Israel als „terroristisch”. Auch die libanesische Regierung sieht das als nationalen Widerstand.
Kannst Du erklären, wie der Angriff Israels auf den Libanon mit dem verstärkten Krieg gegen die PalästinenserInnen verbunden ist, seitdem Hamas die Kontrolle über die palästinensische Behörde gewann? |
Es gibt mehrere Verbindungen, auch solche, die zu Washingtons Verschwörungstheorie passen. Hamas und Hisbollah nehmen beide am gleichen regionalen Bündnis teil. Ein Teil der Führung von Hamas lebt im Exil in Syrien, und sie unterhält sehr gute Beziehungen zum Iran. Teheran unterstützt die Hamas. Als die neue palästinensische Regierung gewählt wurde und die westlichen Regierungen und Israel einen Boykott begannen, sprang der Iran als erstes Land mit Hilfeversprechungen ein, um den Boykott zu kompensieren.
Die andere Verbindung ergibt sich aus der stark traumatisierenden Wirkung, die der israelische Angriff im Gazastreifen auf die gesamte Region hat. Was auch immer der ursprüngliche Beweggrund für Hisbollahs Operation zur Gefangennahme der beiden israelischen Soldaten war – ich erwähne das, weil Hassan Nasrallah, der Anführer der Hisbollah, sagte, dass sie seit Monaten geplant war – , so wurde sie, als sie stattfand, im gesamten Nahen Osten als legitime und notwendige Geste der Solidarität mit den Menschen im Gazastreifen gesehen, die von Israel niedergemacht werden. Darum stieß sie auf viel Sympathie.
Wie jetzt im Libanon nahm Israel die Entführung eines israelischen Soldaten im Gazastreifen zum Vorwand, um die gesamte Bevölkerung im Gazastreifen als Geisel zu nehmen und dabei in einen Zerstörungs- und Mordwahn zu verfallen, der den Kriterien des staatlichen Massenterrorismus entspricht, der schlimmsten Art in der Geschichte.
Inwiefern ist der Krieg im Libanon mit den anderen Kriegen, die die USA und Israel im Nahen Osten führen, vergleichbar? |
Für Israel und die USA ist, wie gesagt, das gesamte Bündnis der Hauptfeind, mit dem Iran als zentralen Teil des Bündnisses. Hauptziel ist das iranische Regime, das sie, auf die eine oder andere Weise, loswerden wollen.
Das syrische Regime ist eher ein zweitrangiger Feind. Ich glaube nicht, dass es wirkliche Bestrebungen für einen Sturz dieses Regimes gibt. Offizielle israelische Stellen erklären, dass sie nicht das Entstehen eines neuen Irak an ihren Grenzen wünschen, weil sie wissen, dass dem so wäre, wenn das syrische Regime zusammenbrechen würde: eine chaotische Situation, die Israels Sicherheit stark bedrohen könnte.
Natürlich würden sie die syrische Regierung gerne zu einem Bruch mit dem Iran bringen. Und außerdem wollen sie Teheran zwingen, sich nach ihren Regeln zu richten. Da sie aber keinerlei Vertrauen in das iranische Regime haben, wünschen sie, sie könnten es, in welcher Weise auch immer, stürzen. Das ist ihr grundlegendes Ziel, in der Sprache Washingtons heißt das „regime change”.
Wegen des vorherrschenden Abklatsches der imperialistischen Kalten-Krieg-Mentalität wird Hisbollah als bloßer Handlanger des Iran hingestellt. Nun ist es für niemanden ein Geheimnis, dass Hisbollah sowohl mit Damaskus als auch mit Teheran eng verbunden ist. Und es wäre von Hisbollah unklug gewesen, wenn sie den Angriff vom 12. Juli ohne jegliche Absprache mit ihren Unterstützern unternommen hätte.
Na und? Anders als bei den afghanischen Mudschaheddins, als sie gegen die sowjetische Besatzung ihres Landes kämpften, wurden die Waffen von Hisbollah natürlich nicht in den USA hergestellt oder von den USA geliefert! Es ist absolut normal für Kräfte, denen viel mächtigere Feinde gegenüber stehen, dass sie sich um Unterstützung von außerhalb bemühen. Hisbollah muss von irgendwo her die Mittel bekommen, um Widerstand leisten zu können.
Oder glaubt man in Washington, man sei alleine aufgrund seiner „Manifest Destiny” (offenkundigen Bestimmung) berechtigt, überall dort zu intervenieren, wo es einem passt, beispielsweise durch Unterstützung der iranischen so genannten Volksmudschaheddin bei ihren grenzüberschreitenden Angriffen gegen den Iran aus dem US-besetzten Irak, nachdem man vor nicht allzu langer Zeit weit bedeutendere Contras gegen die nicaraguanische Regierung unterstützt hat – wogegen der Iran kein Recht hat, seine GlaubensgenossInnen im Libanon oder in Palästina zu unterstützen? Diese Dreistigkeit wird nur noch von der US-amerikanischen Kritik am Iran übertroffen, wenn sie diesem seine Einmischung im Irak vorwirft – einem Land unter US-Besatzung!
Die Tatsache, dass Hisbollah Verbindungen zu Syrien und Iran hat, bedeutet nicht im mindesten, dass es keinen legitimen nationalen Widerstandskampf führt – ebenso wie die Tatsache, dass die VietnamesInnen von diesem oder jenem kommunistischen Land unterstützt wurden, nicht im mindesten bedeutet hat, dass sie nicht für die Befreiung ihres Landes gekämpft hätten.
Gilbert Achcar lehrt Politikwissenschaften an der Universität Paris-VIII. Zu seinen jüngsten Büchern zählen eine Sammlung von Essays über Islam, Afghanistan, Palästina und Irak (Eastern Cauldron, London 2004) und The Clash of Barbarisms (2. Ausg. 2006; dt.: Der Schock der Barbarei. Der 11. September und die „neue Weltordnung”, Köln: Neuer ISP Verlag, 2002). In Kürze erscheint ein Band mit Gesprächen mit Noam Chomsky (Perilous Power, Paradigm Publishers). |
Aus dem Englischen übersetzt von der Redaktion des Berner Bulletins „in Bewegung für Freiheit und Sozialismus“ und Friedrich Dorn. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 418/419 (September/Oktober 2006).