Frankreich

Was ist los mit der französischen Linken?

Die politischen Differenzen in der französischen Linken im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen haben international viele Diskussionen ausgelöst. François Duval von der nationalen Führung der LCR hat kürzlich die Position seiner Organisation in einem Bericht für die Europäische Antikapitalistische Linke erläutert.

François Duval

Viele Freundinnen und Freunde aus der antikapitalistischen Linken in Europa (und anderswo) sind beunruhigt über das, was derzeit in Frankreich geschieht, und fragen nach der politischen Orientierung und dem Verhalten der LCR. [1] Dieser Text will einige Informationen geben, um dem „nicht-französischen Publikum” das Verständnis der Situation in Frankreich zu ermöglichen, und erklären, wie die LCR versucht hat, mit der Situation umzugehen.

Zweifellos: Dass es bei den nächsten Präsidentschaftswahlen (Ende April 2007) – mindestens! – vier Kandidatinnen und Kandidaten links von der Sozialdemokratie geben wird, ist alles andere als das bestmögliche Ergebnis. Das wirft unweigerlich einige Fragen auf:


Dramatische Situation in Frankreich? Ja, aber …


Zunächst einmal muss man einen vollständigeren und ausgewogeneren Überblick der langfristigen Trends der französischen Situation geben. Allgemein betrachtet man die Zeit seit 1995 als Phase vielfältiger und mächtiger sozialer Bewegungen in Frankreich mit großen Streiks und mächtigen Demonstrationen und sogar mit politischen Erfolgen der Linken. Man kann leicht aufzählen

Alle diese Ereignisse waren sehr wichtig. Sie zeigen die Stärke des Widerstands – sowohl des sozialen wie des politischen Widerstands – gegen Liberalismus und Raubtierkapitalismus. Sie rufen ganz offensichtlich nach einem politischen Ausdruck in Form des Entstehens einer politischen Alternative, die sich in einer neuen breiten antikapitalistischen Partei verkörpert, einer neuen politischen Vertretung der Ausgebeuteten und Unterdrückten.

Aber diese Ereignisse sind nur eine Seite der Situation. Wenn man die andere Seite betrachtet, sieht man das besonders niedrige Niveau der „durch Streik verlorenen Arbeitstage”, den durch Niederlagen der Arbeiterschaft – oder sogar ohne jeden Widerstand – durchgesetzten Erfolg der neoliberalen Reformen, den sehr niedrigen Organisationsgrad in Gewerkschaften und Parteien, eine zunehmende Stimmenthaltung bei Wahlen, eine Schwemme von Gesetzen zugunsten der Polizei und gegen Jugendliche und Einwanderinnen und Einwanderer, eine ununterbrochene Wanderung der politischen Elite einschließlich der Führungen von Gewerkschaften und Sozialdemokratie nach rechts und so weiter.

Auf dem Gebiet von Politik und Wahlen gab es in Wirklichkeit auch keinen ständigen Anstieg der Ergebnisse der radikalen und/oder revolutionären Linken. Nur wenige Wochen nach den Präsidentschaftswahlen 2002 lagen die zusammengerechneten Ergebnisse von LCR und LO (Lutte Ouvrière) bei durchschnittlich 2,5%. 2004 erreichten die gemeinsamen Listen (LCR und LO) einen Durchschnitt von 3 bis 5 Prozent.

Tatsächlich ist die Situation in Frankreich komplexer und kontrastreicher:

Das bedeutet keinen „Abschwung” wie in den 1980-er und frühen 1990-er Jahren. Aber zumindest bedeutet es, dass die Situation instabil und veränderlich ist. Die kurzen Phasen sozialer Explosion führten nicht zur Umkehr des Kräfteverhältnisses zwischen den herrschenden Klassen und der arbeitenden Klasse. Und da die Zeiten sozialer Bewegungen zwar intensiv aber sehr kurz sind, bleiben die Erfahrungen, die wichtige Teile der arbeitenden Klasse und sogar von Gruppen politisch aktiver sammeln, sehr unterschiedlich. Dies ist das erste wesentliche Hindernis bei jedem Versuch, Widerstand in politische Alternative zu verwandeln. Und dieser Punkt erklärt vieles von dem, was seit Mai 2005 geschehen ist.


Nach dem Sieg


Tatsächlich waren wir nach dem 29. Mai 2005 mit den Folgen eines gescheiterten Rendezvous’, falscher Hoffnungen und verdrehter Debatten konfrontiert. Um es einfach zu machen: Es war nicht so leicht – und manchmal unmöglich – das Bündnis gegen die EU-Verfassung in ein Wahlbündnis für 2007 umzuwandeln.

Die revolutionäre Linke (vor allem die LCR), die französische KP, eine Plattform innerhalb der Grünen Partei, eine Plattform innerhalb der Sozialistischen Partei, Aktive aus der Gewerkschaftsbewegung, aus Verbänden, der feministischen Bewegung, aus der Bewegung für globale Gerechtigkeit und Tausende normaler Menschen mit linken Ideen waren sich einig, gegen die EU-Verfassung vorzugehen. Das war ganz offensichtlich die reichhaltige Basis, auf der wir hätten aufbauen müssen. Aber einiges hätte politisch geklärt werden müssen.

Eine gemeinsame Ablehnung der neoliberalen EU-Verfassung bedeutet nicht, dass alle diese Menschen sich automatisch – oder auch nur einfach – auf ein gemeinsames Herangehen an die Wahlen einigen könnten. Genauer gesagt: spezielle Wahlen, allgemeine Wahlen, bei denen es um die politische Macht, die Regierung, die Parlamentswahlen geht. Oder, um es mit „alten” Worten zu sagen: die Staatsmacht.

Die weitest verbreitete Erklärung für das Scheitern des Prozesses zur Findung eines gemeinsamen Kandidaten der antiliberalen Linken ist: wegen des Sektierertums der LCR und/oder des Hegemoniegebarens der französischen KP (und ihres Wunschs, die Bewegung zu kontrollieren).

Die Erklärung ist so weit verbreitet, weil sie so einfach ist, und so leicht und so bequem obendrein. Ich teile diese Erklärung nicht. Genau deshalb, weil sie zu einfach, zu leicht und zu bequem ist. Und weil sie nicht politisch ist.

Wenn das einzige Problem das Sektierertum der LCR gewesen wäre, was wäre dann geschehen? Es hätte ein Bündnis mit einem gemeinsamen Kandidaten der gesamten antiliberalen Linken gegeben, nur eben ohne die LCR! Doch das ist nicht geschehen…

Wenn das einzige Problem das Hegemoniegebaren der KP-Führung gewesen wäre, was wäre dann geschehen? Es hätte ein Bündnis mit einem gemeinsamen Kandidaten der gesamten antiliberalen Linken gegeben, nur eben ohne die KP! Doch auch das ist nicht geschehen…

Meine Erklärung ist, dass der Prozess für ein Bündnis und einen gemeinsamen Kandidaten aus entscheidenden politischen Gründen scheiterte. Er scheiterte, weil es eine zentrale politische Meinungsverschiedenheit in einer zentralen politischen Frage gab – und immer noch gibt: Welche Art von Beziehungen kann die antiliberale Bewegung im Hinblick auf Fragen von Regierung, Parlamentsmehrheit und Staatsmacht mit der Führung der Sozialistischen Partei haben?


Sektierertum der LCR – wirklich?


Ich möchte es möglichst deutlich sagen. Wir meinen, dass unsere Organisation ein gutes Programm hat, das sich auf dringendste soziale und demokratische Maßnahmen stützt. Aber wir sind uns völlig darüber im Klaren, dass das antiliberale Bündnis nicht einfach unser Programm übernehmen kann! Und wir sind bereit, Kompromisse einzugehen, solange diese Kompromisse nicht im Gegensatz zu unseren eigenen Vorschlägen stehen.

Übrigens hatten auch die 29. Mai-Kollektive [5] ein Programm beschlossen. Mit vielen Punkten waren wir einig. Wir hatten auch Differenzen, von denen ich einige nenne:

Trotzdem hat die LCR bei den Debatten über das Wahlprogramm keine Ultimaten gestellt. Wir haben nur gesagt, dass diese Punkte (und einige andere) kein absolutes Hindernis für ein Bündnis sind, sondern vorläufig ungeklärten Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen können.

Natürlich war das Hauptproblem nicht, dass diese sehr „vorsichtigen” Anmerkungen nicht von allen Aktivistinnen und Aktivisten der „antiliberalen Kollektive” akzeptiert wurden. Die meisten von ihnen stimmten ohnehin mit unseren weitergehenden Forderungen überein. Das Hauptproblem war die Orientierung der KP, die auch die bei weitem bedeutendste politische Strömung in diesem Prozess war.

Im Frühjahr 2006 versuchte die LCR dann mehrere Monate lang, eine offene und aufrichtige Debatte mit der KP zu organisieren. Gemeinsame Arbeitsgruppen zu jedem Thema wurden geplant, jeweils mit zwei oder drei „Experten” der KP und zwei oder drei „Experten” der LCR, um eine Liste der Forderungen zu erarbeiten, mit denen jede und jeder übereinstimmen kann, und eine zweite Liste von Forderungen, die weitere Arbeit oder Kompromisse erfordern. Einige dieser Gruppen trafen sich ein- oder zweimal – bis die KP entschied, es gebe keinen Grund, mit der LCR zu diskutieren und es sei besser, mit dem „Volk” zu diskutieren.


Szenario, aber keine Akteure


Monatelang schienen sich alle einig zu sein: Ein politisches Übereinkommen war die wichtigste Frage, nicht der Name des gemeinsamen Kandidaten.

Die LCR meinte, dass ihr eigener Kandidat, Olivier Besancenot, ein guter Kandidat sei, vielleicht der beste von all den verschiedenen Führern der antiliberalen Bewegung. Olivier ist sehr beliebt unter Arbeiterinnen und Arbeitern wie auch unter jungen Menschen. Aber er ist unser bekanntester Sprecher, und aus dem Grund war uns völlig klar, dass er nicht der Kandidat einer vereinten antiliberalen Liste sein könnte. Wir waren bereit, uns auf einen anderen Kompromisskandidaten zu einigen. Selbst nachdem wir seine Kandidatur angekündigt hatten, sagten wir deutlich, dass wir jederzeit bereit sind, seine Kandidatur wieder zurückzuziehen, wenn ein politisches Übereinkommen erreicht wird.

Aber ja: es gab eine einzige Frage, in der wir zu keinem Kompromiss bereit waren. Keine endlose Liste von Vorwänden, nur ein einziger und einfacher Punkt, der eine Antwort erforderte und noch immer erfordert, eine klare Antwort ohne jede Zweideutigkeit. Wie sicher bereits klar ist, war das die Frage, die wir von Beginn des Prozesses an aufgeworfen haben und die immer noch dieselbe ist: die Frage des Verhältnisses zur SP in Bezug auf Regierung und Parlament.

Und die Antwort, die wir hören wollten, war: Nein, kein antiliberaler Kandidat wird Mitglied einer SP-geführten Regierung werden. Kein bei allgemeinen Wahlen gewählter antiliberaler Kandidat wird zur SP-Parlamentsmehrheit gehören oder eine SP-geführte Regierung unterstützen.

Diese Antwort haben wir nicht gehört.


Verdrehte Debatte


Die Debatte über diese Frage tobte Anfang 2006. Wieder einmal war das Hauptproblem die durchschnittliche Stimmung der Aktiven aus den antiliberalen Kollektiven. Ein bedeutender Anteil von ihnen teilte mehr oder weniger unseren Standpunkt, auch wenn sie meinten, dass wir die Wichtigkeit dieser Frage übertreiben. Das Hauptproblem war – und ist immer noch – das Verhalten der KP.

Die Führerinnen und Führer der französischen KP reden mit zwei Zungen. Auf der einen Seite betonen sie immer wieder, dass sie die Erfahrung mit der sogenannten Regierung der „pluralen Linken” zwischen 1997 und 2002, als sie Teil der Jospin-Regierung und einer Parlamentsmehrheit mit der SP waren und sich zur Unterstützung ihres sozial-liberalen Programms verpflichtet sahen, nicht wiederholen wollen. Das Ende dieser Erfahrung war die Wahlkatastrophe von 2002.

Aber auf der anderen Seite behaupten sie, es sei möglich, „alle Linken auf einem antiliberalen Programm” sammeln, und dass eine Aussöhnung zwischen den Parteien möglich sei zwischen den Parteien für ein „Nein” beim Referendum waren, und denen, die für ein „Ja” waren! Sie haben die Option, erneut Mitglieder einer SP-geführten Regierung zu werden, nicht aufgegeben.

Das war der Grund, warum wir versucht haben, eine offene und aufrichtige Debatte mit der KP über diese Frage zu führen. LCR und KP waren sich einig, ein Dokument zu schreiben, wie jede Partei die Frage der politischen Macht, einer Koalition, einer gemeinsamen Regierung usw. sieht. Kurz danach schrieb die Führung der LCR dieses Dokument, das unsere Bedingungen für Teilnahem an einer gemeinsamen Regierung spezifizierte. Das Dokument wurde angenommen und der KP übersandt. Die KP schrieb niemals irgendein Dokument und antwortete auch nicht auf unser Dokument.


Wendepunkt


Nächster Punkt war die Debatte über dieses Thema im Nationalen Kollektiv [6] und den Hunderten örtlicher Kollektive. Die Debatte endete im September 2006, als die Nationalkonferenz der „antiliberalen Kollektive” ein Dokument mit dem Titel „Ziele und Strategien” annahm. Das Dokument enthielt zweideutige Formeln über die Hegemonie des „Sozial-Liberalismus”. Aber es sagte nicht deutlich, dass es ausgeschlossen sein werde, einer SP-Regierung beizutreten oder sie im Rahmen einer gemeinsamen Parlamentsmehrheit mit der real-existierenden SP, ihrem Programm und ihrer Führung zu unterstützen.

Die LCR schlug Ergänzungen vor, um diese Frage zu klären. Diese Ergänzungen wurden weder vom Nationalen Kollektiv angenommen noch der Nationalkonferenz der „antiliberalen Kollektive” zur Entscheidung vorgelegt. Auch der ganz ähnliche Ergänzungsantrag eines Kollektivs aus Südostfrankreich fiel unter den Tisch. Andere Ergänzungsanträge desselben Kollektivs, die sagten, dass der „gemeinsame Kandidat nicht Sprecher einer politischen Partei” sein könne, wurden ebenso versenkt.

Die Konferenz war der Wendepunkt in dem Prozess: Unsere Partner aus dem antiliberalen Bündnis gegen die EU-Verfassung entschlossen sich, die LCR loszuwerden. Es ist keine Paranoia – obwohl auch Menschen mit Verfolgungswahn wirkliche Feinde haben können! Das Hauptziel der anderen Strömungen und der anderen Mitglieder des Nationalkollektivs war nicht, die LCR loszuwerden. Aber sie dachten, sie müssten sich entscheiden, die LCR zu halten und die KP zu verstoßen oder die KP zu halten und die LCR zu verstoßen, in der Hoffnung, dass sich die LCR früher oder später wieder beteiligen würde. Aber wir kehrten nicht zurück. Weil wir an politische Prinzipien glauben!

Viele Menschen sagten, dass das von der Nationalkonferenz beschlossene Dokument uns doch eigentlich zufrieden stellen sollte. Doch einige Tage später bestätigten etliche Reden und Artikel aus der KP-Führung unsere Befürchtungen. Sie hatten offensichtlich eine andere Vorstellung von dem, was beschlossen worden war, als die Kollektive. Und sie betonten die Tatsache, dass die von der LCR vertretene politische Orientierung von den „Kollektiven” abgelehnt worden sei – was meiner Meinung nach leider stimmt.

Dies ist der Grund, warum sich die LCR nicht am Prozess der Auswahl eines gemeinsamen Kandidaten beteiligt hat: Nach unserem Standpunkt wäre die Voraussetzung ein politisches Übereinkommen und eine gemeinsame Position in der Frage der Beziehungen zur SP gewesen.


Missverständnis


Die Entscheidung des Nationalkollektivs, alle Anträge zurückzuziehen, nach denen kein Sprecher einer politischen Partei gemeinsamer Kandidat werden könne, war eine weitere Schwäche in dem Prozess. Tatsächlich glaubte die KP, dass am Ende jeder bereit sein werde, ihre Kandidatin zu unterstützen. Und die anderen Strömungen und die anderen Mitglieder des Nationalkollektivs glaubten, dass die KP am Ende bereit sein werde, ihren Kandidaten zurückzuziehen. Doch genau das geschah nicht!

Wie immer wollte die KP gerne ein Einheitsmäntelchen bekommen, aber trotzdem die Kontrolle über die Bewegung behalten. Und die ideale Lösung dafür war einfach ein eigener Kandidat, der im Namen der antiliberalen Bewegung auftritt. Nie hatte die KP etwas anderes vor. Und genau so geschah es dann auch…

Der ganze Prozess platzte im November 2006, als die KP versuchte, ihren Kandidaten durchzudrücken: Marie-George Buffet, Generalsekretärin der KP. Natürlich griff die KP dafür zu „post-stalinistischen” Methoden, wie das plötzliche Aufblühen „neuer” Kollektive aus KP-Mitgliedern, um die Mehrheit zur Wahl des Kandidaten zu erreichen. Einige bereits existierende, echte Kollektive wurden plötzlich von KP-Kadern gestürmt, die gerade rechtzeitig zur Wahl des Kandidaten erschienen. In einigen Stadtvierteln wandelten sich KP-Ortsgruppen in aller Eile einfach in antiliberale Kollektive um!

Diese alten, aus der stalinistischen Vergangenheit der KP geerbten Methoden, haben viele Menschen in den Kollektiven verärgert. Doch eigentlich hatte das Nationalkollektiv die KP-Führung dazu ermuntert, weil es das Problem der Benennung des Kandidaten von der Tagesordnung genommen und verschoben hatte.

Jeder (außer uns) war sich absolut sicher, dass die ersten Schritte des Prozesses ein voller Erfolg waren: Die antiliberale Bewegung hatte ein strategisches Dokument und ein Wahlprogramm (im Oktober 2006 beschlossen). Die Einigung auf den Kandidaten oder die Kandidatin sollte der letzte und einfachste Schritt sein…

Aber so einfach ist es nicht, politische Fragen und politische Differenzen loszuwerden!

Die Frage, die wir aufgeworfen hatten, war nicht beantwortet worden. Das hatte zu unserem politischen Ausschluss von dem Prozess geführt. Aber das ungelöste Problem – und die Divergenzen zwischen einigen Aktivisten und Führern der antiliberalen Prozesses und der KP-Führung – tauchten in schlimmster Form wieder auf: bei der Frage des gemeinsamen Kandidaten. Etwa 60% der Befragten waren für MG Buffet, was nur das wahre Verhältnis zwischen KP-Mitgliedschaft und anderen Menschen in den „Kollektiven” zeigt.


Eine groSSe Gelegenheit verpasst?


Wäre die Entwicklung anders verlaufen, wenn die LCR im Prozess geblieben und sich stärker an den Kollektiven beteiligt hätte? Das kann man nicht ernsthaft behaupten.

Über Monate sahen wir immer wieder Signale, dass die KP ihren eigenen Kandidaten durchdrücken und keine Garantien über ihr Verhältnis zur SP geben wollte. Die Beteiligung der LCR an den Kollektiven hätte das nicht ändern können. So mächtig sind wir nicht!

Haben wir die „Dynamik” der antiliberalen Bewegung nach unserem gemeinsamen Sieg über die EU-Verfassung unterschätzt? Ich denke nicht.

Die Bewegung hatte die Frage einer politischen Alternative aufgeworfen und wir haben versucht, mit unserer politischen Orientierung gemeinsam mit Menschen voranzuschreiten, die wir in der getroffen waren. Aber, wie bereits gesagt, die Voraussetzung für ein Voranschreiten wäre die politische Klärung zentraler Fragen gewesen.

Einige Leute aus der Linken haben gesagt, ein zweiter Versuch wäre möglich gewesen: wie auch immer, es gibt nie eine absolute Garantie. So war es schon das Klügste, sich am Prozess trotz seiner widersprüchlichen sozialen Basis zu beteiligen, auf seine Dynamik zu vertrauen und zu gegebener Zeit mit der KP zu brechen, wenn sich unsere Befürchtungen bestätigen. Aber das Leben ist nicht so einfach.

Es gab starken Druck auf die LCR von allen, die einen einzigen Kandidaten wollten, egal auf welcher politischen Grundlage. Wenn wir eine widersprüchliche Basis akzeptiert und uns in den Prozess [der Kandidatensuche – d. Üb.] integriert hätten, wäre der Druck, in dem Rahmen zu bleiben, noch höher gewesen. Wenn wir dann später versucht hätten, uns daraus zu lösen, hätte jeder uns vorgeworfen: Es gibt nichts Neues, ihr hattet die Basis akzeptiert, das ist Betrug! Man hätte uns nicht besser verstanden und wir hätten nichts demonstriert gehabt…

Haben wir die Krise in der KP unterschätzt? Ich denke nicht.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und den katastrophalen Ergebnissen der früheren Koalitionen mit der SP ist diese Krise tiefer als je zuvor. Viele KP-Mitglieder – und sogar gewählte Abgeordnete und Bürgermeister – brechen mit der KP-Führung und ihrer Orientierung. Doch ist dies noch kein Hinweis auf die Richtung ihrer Entwicklung: gehen sie von rechts nach links oder von links nach rechts?

Natürlich hoffen wir, dass einige von ihnen die richtige Entscheidung treffen und die neoreformistisch-poststalinistische Tradition zugunsten des Aufbaus einer neuen breiten antikapitalistischen Partei mit anderen verlassen. Aber wir müssen auch in Betracht ziehen, dass viele von ihnen – wie die KP-Führung – die Unterstützung der SP brauchen, um wiedergewählt zu werden. Und das wird sie nicht dazu führen, sich nach links zu entwickeln!

In der Vergangenheit gab es immer wieder Austritte aus oder Abspaltungen von der KP. Einige von ihnen haben wirklich mit dem Stalinismus gebrochen und waren offener für eine Zusammenarbeit mit der radikalen Linken. Aber die meisten von ihnen wurden von SP angezogen und wurden zu ihren Satelliten.

Haben wir die Gelegenheit zur Umgestaltungen der Linken durch ein gutes Wahlergebnis für einen gemeinsamen Kandidaten verpasst?

Viele Menschen in der Bewegung glaubten, dass ein Einheitskandidat der antiliberalen Linken ein gutes Ergebnis hätte erwarten können, weil in 2005 die Mehrheit der linken Wählerinnen und Wähler, auch aus dem SP-Lager, gegen die EU-Verfassung waren. Einige träumten schon von zweistelligen Prozentzahlen! Einige prophezeiten gar, der oder die antiliberale Kandidatin könnte mehr Stimmen als die sozialdemokratische bekommen! Dieser völlige Verlust des Realitätssinns wurde von der KP-Führung und vielen Sprecherinnen und Sprechern noch gefördert – aus dem schlimmstmöglichen Grund: Warum sich Gedanken über die Beziehungen zur SP machen, wenn der antiliberale Kandidat sie überflügeln kann?


LCR isoliert?


Unsere Kampagne für die Präsidentschaftswahlen hat bereits begonnen. Die Kundgebungen und Versammlungen mit Olivier Besancenot sind große Erfolge. Wir bekommen unterstützende Briefe und E-Mails nach jeder Sendung, Talk-Show oder jedem Interview. In Betrieben und auf Demonstrationen wird er herzlich begrüßt. Soziale Fragen und der Kampf gegen Diskriminierung sind Kernstück seiner Kampagne und Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter, Frauen und Jugendliche zeigen dafür Interesse.

Es ist offenkundig zu früh, um eine ernsthafte Bilanz der Orientierung, des Verhaltens und der Handlungen der LCR zu ziehen. Die Zeit dafür wird kommen, nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Die wahrscheinlichste Schlussfolgerung wird sein: Die LCR hat nicht alles auf die bestmögliche Weise getan, sondern einige Fehler begangen.

Offenkundig haben die Differenzen in unserer eigenen Mitgliedschaft zugenommen. Offenkundig sind gestandene Aktivistinnen und Aktivisten der antiliberalen Bewegung, wirklich gute Leute, sauer auf die KP, aber auch sauer auf die LCR. Offenkundig wurden wir nicht verstanden und sind teilweise isoliert. Offenkundig ist das kein gutes Ergebnis, und das Scheitern des Versuchs, ein wirklich unabhängiges antiliberales Bündnis mit einem gemeinsamen Kandidaten oder eine Kandidatin zu schaffen, ist eine politische Niederlage.

Aber Kummer und Reue sind ineffizient. Es ist wichtiger zu verstehen, was geschehen ist. Wir wurden teilweise isoliert, weil wir schwierige und unangenehme Fragen aufgeworfen haben. Man macht sich nicht beliebt, wenn man Menschen, die verzweifelt nach einem gemeinsamen Kandidaten der antiliberalen Linken suchen, erzählt, dass das nicht so leicht werden wird. Man macht sich nicht beliebt, wenn man ihnen sagt, dass politische Klärung unerlässlich ist, um ein dauerhaftes Bündnis zu bilden. Man macht sich nicht beliebt, wenn man ihnen sagt, dass die Wahlergebnisse eines antiliberalen Kandidaten, selbst wenn er oder sie noch so einheitsorientiert und gemeinsam ist, nicht sensationell werden würden. Man macht sich nicht beliebt, wenn man ihnen sagt, dass auch, wenn die Mehrheit der Menschen, die gewöhnlich für linke Parteien stimmen, gegen die EU-Verfassung gestimmt hat, und obwohl die SP für die EU-Verfassung war, trotzdem wieder viele von ihnen direkt für den SP-Präsidentschaftskandidaten stimmen werden. Man macht sich nicht beliebt, wenn man ihnen sagt: Nein, es wird nicht Dutzende antiliberaler Parlamentsabgeordnete geben. Man macht sich nicht beliebt, wenn man solche (wahren) Dinge sagt zu Leuten, die sie nicht hören wollen! Natürlich ist unsere politische Funktion nicht, die Hoffnungen Tausender Menschen zu zerstören. Aber man erwartet von uns auch nicht, dass wir sie mit fantastischen Illusionen füttern!


J. Bové – der Mann, den wir brauchen?


Nach einer Reihe von Entwicklungen ist José Bové jetzt der vierte Kandidat der antiliberalen und/oder radikalen Linken. Er wird sehr geschätzt wegen seiner Angriffe gegen McDonalds, seiner Kampagnen gegen gentechnisch manipulierte Lebensmittel und wegen seiner Beteiligung an der Bewegung für globale Gerechtigkeit. Er ist ein couragierter Aktivist, der etliche Monate im Gefängnis gesessen hat und dem schon wieder eine neue Verurteilung droht. Und er hat zweifellos das Recht, Kandidat zu sein, als Vertreter einer spezifischen Strömung (radikale Ökologie, globale Gerechtigkeit, …).

Aber er ist in keiner Weise ein Einheitskandidat oder der „natürliche” Kandidat der antiliberalen Bewegung oder der 29.-Mai-Kollektive. Er wird von keiner der am Bündnis gegen die EU-Verfassung beteiligten Parteien oder Strömungen unterstützt: die PRS („für die soziale Republik”), eine Plattform innerhalb der SP, unterstützt jetzt die SP-Kandidatin, die LCR unterstützt Olivier Besancenot, die KP unterstützt Marie-George Buffet und die kleine Gruppe der Republikanischen Linken (frühere Unterstützerinnen und Unterstützer von JP Chevènement) sind mit seiner Kandidatur nicht einverstanden. Nur Die Alternativen, eine kleine Plattform innerhalb der Grünen und Minderheit in den Kollektiven, ist für J. Bové.

Die zum Aufbau seiner Kandidatur eingesetzten Methoden geben wirklich Anlass zur Sorge. Bis November 2006 stand Bové mit anderen im Wettbewerb als Kandidat oder Kandidatin der Kollektive. Dann entschloss er sich, seine Kandidatur zurückzuziehen, hauptsächlich weil die ersten Abstimmungen nicht besonders gut für ihn ausgefallen waren. Danach sagte er, er würde nur kandidieren, wenn Buffet und Besancenot zurückziehen.

Dann, nach der Ankündigung der Kandidatur der KP-Generalsekretärin und dem Abbruch des Prozesses zur Findung eines Einheitskandidaten, wurde von seinen Freundinnen und Freunden über Websites und E-Mails eine Petition organisiert, um ihn zur Kandidatur aufzufordern. Und schließlich entschied er sich zu kandidieren!

Dies ist nicht das Ergebnis einer demokratischen und widersprüchlichen Debatte innerhalb der Kollektive; es ist nicht das Ergebnis politischer Auseinandersetzung und Einigung zwischen politischen Parteien. Es ist das Ergebnis eines plebiszitären Vorgehens auf Basis des Unterzeichnens einer E-Mail-Petition, unterfüttert mit etwas „Anti-Parteien”-Stimmung.

Jedem in der alternativen Linken muss klar sein, dass es in jeder politischen Partei, auch den alternativen und/oder revolutionären, enttäuschte Leute gibt. Aber zu glauben, man könnte sie durch lose Netzwerke ersetzen, ist eine gefährliche Illusion, sowohl hinsichtlich politischer Effizienz als auch hinsichtlich der Demokratie.

Das ist wichtig, denn der Hintergrund all dieser Debatten ist die Frage, welchen Typ von neuer antikapitalistischer Bewegung oder breiter linker Partei wir künftig ausbauen wollen. [7]


Kampf für politische Unabhängigkeit


Noch ein paar abschließende Worte zu der Hauptfrage, die wir aufgeworfen haben. Das Verhältnis zur SP und die Fragen von Regierung und Parlamentskoalitionen sind keine rein theoretischen Fragen. Sie sind keine Obsessionen oder Alpträume, die den kranken Phantasien der LCR entsprungen wären. Sie beziehen sich nicht auf den sogenannten „französischen Sonderweg”. Sie sind reale Fragen für die Linke, weltweit.

Revolutionäre und/oder radikale Gruppen standen schon ganz konkret vor diesen Fragen: in Brasilien und Italien beispielsweise. Wird man durch Beteiligung an Mitte-Links-Regierungen oder Parlamentskoalitionen zum Satelliten der Sozialdemokratie, kann dies mit der Zerstörung der radikalen Linken enden. Wir wissen sicher, dass neue Experimente mit Mitte-Links-Regierungen nur zu noch größerer Enttäuschung, noch größerer Verbitterung und zunehmender Unterstützung populistischer und rechtsextremer Parteien führen werden. Wenn wir das vermeiden wollen, darf sich die radikale nicht an der Verantwortung für diese sozialen und politischen Katastrophen beteiligen.

Es ging nicht um die Alternative „Einheitsfront” oder sektiererische Isolation: Von 1970 [8] bis heute gibt es viele Belege (wie unsere Beteiligung an der Kampagne gegen die EU-Verfassung 2005), dass die LCR immer für den Aufbau einheitsfördernder Aktionsstrukturen eingetreten ist, statt die eigene Partei in den Mittelpunkt zu stellen.

Es ging nicht um die falsche Polarität zwischen Opportunismus oder revolutionärem Purismus. Wobei ein solcher Vorwurf – revolutionärer Purismus – der LCR wohl kaum jemals gemacht worden ist!

Nein es ging, etwas bescheidener, um die Alternative zwischen Unterordnung unter die Sozialdemokratie (und/oder den Sozial-Liberalismus) oder politische Unabhängigkeit!

François Duval ist führendes Mitglied der LCR (französische Sektion der Vierten Internationale)
Übers.: Björn Mertens
Wahlkampagne von Olivier Besancenot: http://besancenot2007.org/



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 426/427 (Mai/Juni 2007).


[1] Ligue communiste révolutionnaire (französische Sektion der Vierten Internationale)

[2] Kandidatin für Lutte Ouvrière (LO – Arbeiterkampf).

[3] Auf einer gemeinsamen Liste von LO und LCR

[4] Erstbeschäftigungsvertrag

[5] Basisstrukturen, die die Kampagne für ein Nein beim Referendum über die EU-Verfassung getragen haben – d.Üb.

[6] Landesweite Struktur der 29.-Mai.-Kollektive – d.Üb.

[7] Mehr darüber siehe Pierre Rousset: „Après le « Bovéthon » : en défense du principe d’organisation », http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article4979

[8] Gründungsjahr der LCR – d.Üb.